Читать книгу Der letzte Flug des Chyratos - R.A. Liebfahrt - Страница 6

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Die Gewissheit

Die Thermik wird schwächer. Es ist windstill, kein Geräusch ist zu hören. Irgendwie unheimlich füllt es sich an. Wir gleiten langsam dahin, ab und zu ein paar Flügelschläge, damit wir die Balance halten können, aber sonst fühlt es sich an wie ein Landeanflug ins Nichts. Plötzlich gackert das Huhn: „Wir sind da, siehst du, unter uns ist der große Speicher, er ist der Sender oder der Empfänger. Alles liegt unter Dach, oder besser gesagt unter einer Kuppel!“ Wir müssen näher ran, ich gehe eine Spur tiefer. Jetzt erkenne ich es auch, der Speicher ist eine große Glaskuppel, unter der sich viele Punkte tummeln, doch außerhalb ist alles still und ruhig. Keine Bewegung, kein Zeichen von Leben Sogar die Bäume stehen wie dürre Säulen da, als stammen sie aus einer anderen Zeit, vielleicht der Urzeit. „Bist du schwindelfrei?“, geht meine Frage in Richtung Huhn. Empört kommt die Antwort zurück: „Ja, was glaubst du, wo wir Hühner jeden Tag schlafen? Auf einer Stange natürlich, und diese Stange ist vom Boden abgehoben und oft mehrere Meter hoch, also setze mich auf diesem Ast ab, ich will nicht auf den Boden, wer weiß, was dort so herum liegt.“ „Gut“, mit einem Schwung schleudere ich den frechen Vogel in die Luft und öffne meine Krallenstarre, sodass er leicht und sanft auf dem Ast landen kann, denn ob er wirklich fliegen kann, weiß ich nicht. Ich ziehe noch eine große Runde, gebe die Flügel in Landeposition und setze mit einem kurzen Bremser auch auf dem Ast auf. Durch mein Gewicht beginnt dieser zu schwingen. Bei mir denke ich so: „Hoffentlich bricht er nicht ab, denn dürre Äste haben keine Spannung und Zähigkeit mehr.“ Zum Glück hält dieser dicke Ast mein Gewicht aus, und als das Schwingen aufhört, sitzen wir ganz ruhig darauf.

Schweigend hocken wir eine Weile nebeneinander und beobachten bzw. begutachten die Lage. Keiner traut sich etwas zu sagen, bis schließlich ich die Stille durchbreche und sage: „Es ist unheimlich hier!“ Nickend stimmt mir das Huhn zu. „Hast du sie gesehen?“ „Ja, ich habe es gesehen.“ Mein Schnabel bleibt offen. Mit meinem Adlerblick durchleuchte ich alle. So viele tote Vögel und Tiere habe ich noch nie gesehen. In ihren Augen leuchtet die Starre der Angst. Durcheinander liegen sie da, als wären sie einfach so vom Baum gefallen. „Weißt du, woran sie gestorben sind, und wovor sie so viel Angst hatten?“ „Nein“, wackelt das kleine Federvieh mit dem Kopf, „aber eines weiß ich, es kommt von den menschlichen Wesen dort in der Glaskuppel. Warum sind sie nicht tot, warum sind sie geschützt?“ „Für ein Huhn hast du eine gute Kombinationsgabe“, versuche ich ein wenig Spaß in die Situation zu bringen. „Hast du sie schon entdeckt?“, fragt das Huhn weiter. „Wen entdeckt, meine Femina?“ gebe ich zurück. „Ja, sicher, deine Femina.“ „Nein“, und eine Träne kullert mir über die Gesichtsfedern. „Ich darf nicht zweifeln, ich werde sie finden, sie ist klug und schnell und wird sich in Sicherheit gebracht haben“, denke ich bei mir. „Ich werde weitersuchen“, spreche ich zum Federgockel hinüber, und springe auf den nächsten Baum. „Du bleibst hier und behältst die Lage im Auge, und solltest du etwas bemerken, dann hämmerst du gegen den Stamm, so gut es dein Schnabel zulässt.“ „Ei, ei, Kapitän“, kommt die Antwort abrupt zurück. Mein Blick schweift über den Boden, auch zwischen den Bäumen hindurch, welche den Speicher umgeben. Ich stelle meine Augen auf den Röntgenblick ein, damit ich ja nichts übersehen kann, wie im Zeitraffer rückt mein Blick Schnitt um Schnitt nach. Ja, im Beobachten bin ich gut, das lernt man als Adler um zu überleben, doch hier die Kadaver zu sehen, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich muss es wegschalten, ich darf nichts herankommen lassen. Einfach nur fokussiert auf das Ziel, und das heißt Femina. Ich weiß genau, wie sie aussieht. Wie jeder Kaiseradler ist sie braungefiedert mit einem weißen Muster darin. Doch sie ist die Schönste unter den Adlern, denn sie hat auf der Brust eine weiß gezeichnete Krone, die ihr majestätischen Charakter verleiht. Ihr Schnabel leuchtet in der Sonne goldgelb, und die Greifer sind zart, aber zäh und nervig durchzogen. Wie ich mir Femina so in Gedanken vorstelle, höre ich plötzlich ein Klopfen. Es muss das Huhn sein. Schnell erhebe ich mich und flattere zurück zum Ausgangsbaum. „Was ist los?“, frage ich aufgeregt. „Es ist wieder da, spürst du es nicht?“ „Was ist da?“, bemerke ich unwissend. „Na, die Energie, die Strahlung oder so. Sie werden uns umbringen, meine Nerven beben ich glaube, ich zerplatze innerlich“, beginnt das Huhn auf und ab zu springen. „Bring uns fort“, schreit es aufgeregt, „bring uns weit fort, ich will nicht mit den anderen dort unten verrotten.“ Jetzt spür ich es auch, es durchdringt den Körper und versetzt die Zellen in Schwingung, die Temperatur steigt, ich koche, ich habe eine innere Aggression. „Was soll ich tun, wo soll ich hin, wie kann ich mich schützen?“ Da ist auf einmal wieder die Stimme, welche mir zuruft: „Schließ dein Federkleid, lass es nicht durchströmen, steck auch den Kopf hinein und plustere dich auf, das ist deine einzige Chance.“ Ich schaue auf den zerrupften Vogel, packe ihn beim Genick, stecke ihn unter den linken Flügel, meinen Kopf stecke ich rechts hinein, und die Krallen ramme ich in das Holz unter mir, schalte dabei auf Schockstellung ohne Entriegelung. Es wird heißer, immer heißer, mein Blut kocht, doch ich lasse die Außenluft unter mein Federkleid und blase mich auf, es hilft, es hilft wirklich, es ist eine leichte Entspannung. „Du musst durchhalten, halte durch!“, ruft mir die Stimme zu. „Denke an den blauen Himmel und an die Sonne, und bade und schwebe darin, immer weiter, immer weiter.“ Ich versuche es, doch trotzdem ist es unerträglich, ich kann bald nicht mehr, meine Kräfte lassen nach. Wild schnaufe ich, mein Puls rotiert, und die Atemzüge sind unkontrolliert. Ich kann nicht mehr und will schon die Krallensperre auflassen, damit wir uns in die Tiefe stürzen können, da ist es auf einmal weg. Aus und vorbei, als wäre es nie da gewesen. Wie ein Schalter, den man umlegt. Langsam öffne ich meine Augen und blicke herum. Es hat sich nichts verändert, alles beim Alten: die dürren Bäume, die toten Kadaver, ich kann auch das Licht im Speicher sehen, und das Getümmel der menschlichen Wesen dort. Etwas zwickt mich an der Rippe. „Du kannst mich raus lassen“, höre ich ein leises Piepsen, „oder soll ich hier ersticken?“ „Du lebst auch noch“, umflügle ich den kleinen Vogel. „Kannst du mich jetzt bitte absetzen?“, schaut mich dieser an. Sofort gebe ich ihn frei. Er schüttelt sich, und sagt nur: „Jetzt haben wir aber Glück gehabt!“

„Was ist das nur, was beherrscht die Welt?“ „Ich weiß es nicht“, antwortet das Huhn, doch „wir müssen fort, noch einen Angriff überleben wir nicht.“ „Du hast Recht“, gebe ich zurück, „doch ich fliege nicht ohne Femina, da sterbe ich lieber, denn ohne sie macht alles keinen Sinn.“ „Dann such sie doch, und dann nichts wie Abflug“, gackert er frech zurück. Ich richte mich auf, strecke die Flügel aus und hebe ab. Langsam schwebe ich über den Glasspeicher, alles im Auge, alles im Blick. Ich bin jetzt ganz nah an der Scheibe und schaue nach unten. Da sitzen sie, die Menschen vor kleineren und größeren Kasten, während die einen wie wild durch die Hallen laufen und Informationen überbringen. Plötzlich zeigt einer mit seiner Zeigekralle auf mich. Sie haben mich entdeckt, jetzt sehen es die anderen auch, fast erstaunt blicken sie zu mir herauf. Dann laufen sie wild durcheinander, es ertönt eine Sirene. Sofort drehe ich um, doch auf einmal sehe ich einen Vogel am Boden liegen, eine weiße Krone leuchtet mir entgegen. „Femina, da bist du ja!“ Wie ein Geier im Sturzflug durchbreche ich das Glas, es bricht und Scherben fliegen nur so umher. Ich steuere auf Femina zu, packe sie und erhebe mich wieder. Mit aller Kraft suche ich wieder das Loch, durchbreche es nochmals und steige empor zum Licht, zum Baum. „Hier bin ich!“, höre ich jemanden rufen. Es ist das verrückte Huhn. Mit meinem Schnabel packe ich ihn im Genick und hebe weiter ab. Mit ganzer Kraft lasse ich meine Flügel arbeiten und fliege einfach drauf los. „Nichts wie weg von hier“, geht es mir durch den Kopf. Ich fliege und fliege und glaube es zu schaffen, mit einem Mal setzt der Flügelschlag aus, ein Krampf in den Muskeln verhindert das Weiterschlagen. Wir verlieren an Höhe, mit letzter Kraft versuche ich, die Flügel ausgebreitet zu halten, damit wir wenigstens gleiten können. Mein Gefühl sagt mir aber, dass wir schneller werden. „Ich werde nicht nachgeben“, spreche ich zu mir selbst – in diesem Moment schlagen wir auf!

Der letzte Flug des Chyratos

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