Читать книгу Wenn etwas fehlt - Rachel Suhre - Страница 12

Kapitel 6

Оглавление

Eine Woche später stand Ella an der Kasse ihres Bioladens.

"34€uro..., bitte!“ Die Verkäuferin lächelte sie an.

Sie kramte in ihrem Geldbeutel. Den einen Kerl auf dem Arm, den anderen nicht aus den Augen lassend, während dieser schon an der Ladentür klebte, um endlich raus zu kommen. Endlich sprang ihr die richtige Münze in die Hand und sie bezahlte ihre Einkäufe. Eine mittelgroße Kiste Obst und Gemüse und zwei Tragetaschen voll mit Nudeln, Tofu, Ketchup, Gemüsebrühe und was sonst noch so an Vorräten ausgegangen war.

„Darf ich die Kiste hier eben stehen lassen?“ lächelte Ella der Kassiererin freundlich zu.

Diese lächelte zurück: „Aber natürlich. Klar.“

„Ich würde nur eben die Jungs und die Taschen zum Auto bringen.“

„Natürlich.“ Die Verkäuferin nickte ihr erneut zu und wandte sich an die nächste Kundin an der Kasse.

Während Ella sich umdrehte, fiel ihr Blick auf die ältere Dame hinter ihr, die ein Paket Linsen oder Hirse in der Hand hielt. Sie schob den Einkaufswagen zurück zu den anderen, verteilte das Kleinkind und die zwei Taschen auf ihre zwei Arme. Dann dirigierte sie den anderen Jungen aus dem Geschäft hinaus Richtung Auto. Vorbei an einem dunkelgrünen Kombi, in dem ein etwa 70-jähriger Mann saß. Vermutlich der Gatte der älteren Dame mit dem Paket Hirse.

Draußen war es heiß. Das Thermometer hatte die 32° Hürde längst überschritten. Bei gefühlten 38° hievte sie ihre Jungs ins Auto und bugsierte zeitgleich die beiden Taschen in den Kofferraum. Die Sonne knallte auf das Auto herab.

"Ich hab Hunger!" quengelte der Große ungeduldig.

„Määäh." weinte das Kleinkind.

"Hast du was zu trinken, Mama?"

"Mähh!"

Ein genervtes "Maaama!" hallte über den Parkplatz.

Noch während Ella ihre Kinder samt der Einkäufe ins Auto verfrachtete, anschnallte und plapperte, um sie bei Laune zu halten, bemerkte sie plötzlich eine Gestalt direkt neben sich. Der alte Mann aus dem dunkelgrünen Auto hatte sich zu ihr an die geöffnete Kofferraumluke gesellt. Ihr Blick fiel auf den Gemüsekarton, mit dem er bepackt neben ihr stand, und der ihren Einkäufen von eben sehr ähnelte.

Skeptisch kniff sie ein Auge zu und sah ihm ins Gesicht.

Mit einer tiefen und gelassenen Stimme begann er langsam zu sprechen: "Meine Frau schickt mich."

Sie hob die Augenbrauen und als Ella ihm über die Schulter sah, entdeckte sie die Kundin von vorher. Die ältere Dame saß auf der Beifahrerseite des dunkelgrünen Wagens, das Paket Hirse noch immer in den Händen. Sie lächelte ihr freundlich zu, winkte und nickte. Verwirrt, aber positiv überrascht, lächelte sie zurück. Sie winkte und nickte ebenfalls. Ihr Blick wanderte zurück zu dem alten Mann, der inzwischen mit seiner Erklärung fortgefahren war: „Sie meinte, ich solle Ihnen in Ihrer großen Not zur Hilfe kommen.“

Amüsiert und begeistert von der Freundlichkeit und dem Kavalierverhalten dieses Mannes, bedankte sich Ella überschwänglich. „Das ist unglaublich nett von Ihnen. Vielen, vielen Dank." Seine Worte kamen wieder nur sehr langsam, dafür aber bestimmt und fest über seine Lippen: „Wir kennen das.“

„Was kennen Sie?“

Doch er erklärte nichts weiter, sondern stellte die Gemüsekiste im Kofferraum ab und nickte ihr zum Abschied zu. Die Stimme der älteren Dame ertönte über den Parkplatz: „Ich hatte auch mal vier kleine Kinder. Gleichzeitig. Etwa so alt wie Ihre.“

Jetzt verstand Ella, was der Mann gemeint hatte. Dankend und freudestrahlend rief sie durch die brütende Hitze zurück: „Vielen Dank! Das war furchtbar nett. Danke schön!“

Der Große hatte das Ganze beobachtet und dachte nach.

Schließlich schaute er Ella fragend an: „Der Mann ist nett.“

„Ja, da hast du Recht. Das war wirklich nett, dass er uns geholfen hat.“

„Der Mann war wirklich nett. Schade, dass nicht jeder so ist.“ bestätigte er nochmal seine Mutter.

Sie musste grinsen und auch ihr Sohn setzte ein schelmisches Grinsen auf. Glücklich und zufrieden über die Nettigkeit des alten Herrn, kletterte er endlich auch auf seinen Autositz.

Als sie losfuhren wurde es still im Auto. Ella riskierte einen Blick in den Rückspiegel. Vielleicht konnte sie dem Babysitter ihre Kinder schlafend übergeben? Das Einkaufen und die Hitze waren anstrengend.

Doch nach etwa zwei gefahrenen Kilometern hörte sie die Stimme ihres großen Sohnes: „Mama?“

„Ja?!“

„Was ist große Not?“

*

24 Stunden und mehrfache Erklärungsversuche später stand Ella vor der Tür ihrer Frauenarztpraxis. Rechnerisch befand sie sich in der 10. Woche. Doch da sie ihre Erdbeerwoche, wie sie ihre Periode nannte, die letzten Male immer mindestens eine Woche später als geplant hatte, war auch die 8. Schwangerschaftswoche durchaus denkbar.

Wie bei den letzten beiden Schwangerschaften schlug ihr Herz vor lauter Vorfreude etwas schneller und stärker als sonst.

Ein Baby. Noch ein kleines Wunder, das in ihr eingesetzt hatte. Sie war schon jetzt überglücklich. Daran konnte auch die Übelkeit, an der sie seit drei Tagen litt, nichts ändern. Sie kannte das ja schon.

Sie betrat die Praxis und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die durch die großen Praxisfenster fielen. Es war ein schöner Tag. Draußen vor der Tür sangen die Vögel ihre quirligsten Sommerlieder. Bäume, Sträucher und Wiesen protzten vor saftigem Grün und insgesamt war es die richtige Zeit. Die richtige Zeit einem weiteren Erdenbürger einen Platz zum Wachsen und Großwerden zu bieten, bis er dannn in sechs bis sieben Monaten das Licht der Welt erblicken würde.

Auch ihr Hormonhaushalt setzte ihr kräftig zu. All die rosapinken Gefühle hatten sie voll erwischt. Sie war aufs Brüten eingestellt und freute sich darauf.

Als sie an den Tresen trat, begrüßte sie die Arzthelferin und bat um ihr Versichertenkärtchen.

„Schönes Wetter haben Sie uns da aber mitgebracht.“

„Ja, nicht wahr?!“ strahlte sie die Sprechstundenhilfe freudig an.

„Dank der großen Fenster habt ihr jetzt ja auch schon während der Arbeit ein bisschen von dem tollen Wetter.“

Das blondhaarige Mädchen hinter dem Computer nickte. „Das stimmt. Aber ich kenne die Praxis gar nicht von früher. Von daher genieße ich einfach.“

„Ach, sie war auch vorher schon sehr freundlich eingerichtet.“

Die Sprechstundenhilfe nickte ihr zu.

„Hat sich ihr Wohnort geändert?“

Ella runzelte die Stirn. „Ehm, nein. Nicht, dass ich wüsste.“

„Hm, dann stimmt da vielleicht was mit ihren Daten auf der Karte nicht. Sie müssten das bei der Krankenkasse nochmal kontrollieren lassen.“

Ella nahm ihre Versichertenkarte entgegen und nickte nur. Sie hasste solche Dinge. Gerade wenn sie schwanger war, geriet sie bei unnützen bürokratischen Unstimmigkeiten schnell an ihre nervlichen Grenzen. Sie hatte 24 Stunden am Tag besseres zu tun, als mit der Krankenkasse oder der Autowerkstatt oder der Bank zu telefonieren. Sowas musste doch nicht sein. Nun ja, vielleicht bestand ja die Möglichkeit, dass sich das Ganze schnell klären ließ. Sie würde es sehen und könnte sich dann immer noch ärgern.

„Bitte nehmen Sie doch noch einen Augenblick im Wartezimmer Platz.“ bat sie die Sprechstundehilfe freundlich.

„Ok.“ Ella drehte sich um, zog ihre Strickjacke aus, hängte sie über ihre Handtasche und nahm auf einem der freien Wartestühle Platz. Anders als beim letzten Mal war heute erstaunlich wenig bei der Frauenärztin los. Das war gut. Ihr Babysitter hatte heute zwar den gesamten Nachmittag frei. Aber sie war froh, schnell wieder nach Hause zu kommen. Ihr Hochzeitstag stand bevor. Für diesen Abend in ein paar Tagen brauchte sie ihren Babysitter unbedingt. Da sie das Mädchen nur ungern länger als vereinbart beanspruchen wollte, war sie froh, wenn sie den Jüngsten schnell wieder abholen konnte. Zum Hochzeitstag hatte sie sich etwas Besonderes ausgedacht. Schließlich wollte sie ihren Mann mit dem Baby in ihrem Bauch überraschen und hatte ein Dinner für Verliebte in einem mittelalterlichen Gebäude arrangiert.

Sie musste schmunzeln als sie sich das Hin und Her um diese Überraschung ins Gedächtnis zurückrief. Als es um die Frage ging, ob auch ein vegetarisches Menü möglich sein könnte, war alles unglaublich einfach verlaufen. Der Koch konnte sich alle drei Gänge auch nur mit Gemüse und anderen Köstlichkeiten vorstellen.

In dem Gebäude waren ein Restaurant, ein Museum und einige Hotelzimmer untergebracht. Da alle Zimmer belegt waren, hatte der Hotelier die Idee, vielleicht unter dem Dach mit angrenzender Dachterasse für sie und ihren Mann eine Übernachtungsmöglichkeit zu schaffen. Dafür müsste er allerdings erst noch mit dem Museumsleiter sprechen. Der wiederum, wie sich herausstellte, mit dem Bürgermeister Absprache halten wollte. Der Bürgermeister konnte jedoch nicht ohne den Segen des Stadtrates eine solche Entscheidung treffen. Oder wollte nicht. Nach zweiwöchigem Abwarten und Nachfragen hatte sie sich dagegen und der Stadtrat zu einem Ok entschieden. So lief das Leben manchmal. Verrückte Welt.

Auf dem Glastisch in der Mitte des Wartezimmers lag ein Stapel typischer Frauenzeitschriften. Klatsch und Tratsch aus aller Welt, Lifestyle und das ein oder andere Pharmaunternehmen bewarb Verhütungsmittel und nötige Schutzimpfungen für weibliche Patientinnen in den unterschiedlichsten Lebensumständen. Grippeimpfung für die Schwangeren, Gebärmutterkrebsimpfung für die weiblichen Jugendlichen und was es sonst noch auf dem Markt gab.

Wie sollten sie das Baby nennen? Würde es diesmal ein Mädchen? Bislang hatte sich ihre Familie um zwei freche Jungs erweitert. Ein ebenso freches Mädchen wäre wunderbar. Aber auch ein weiterer männlicher Vertreter dieser wilden Bande wäre ein Geschenk des Himmels.

Ella war glücklich. Sie freute sich auf die vor ihnen liegenden Wochen und Monate. Die kommenden zwei würden mit Sicherheit herausfordernd und anstrengend. Vor allem dann, wenn ihre Übelkeit und die Erschöpfung ähnlich groß wie bei den letzten Beiden sein würden.

Diesmal hatten sie ihre Eltern und Schwiegereltern schon eingeweiht. Die Freude war so riesig gewesen, dass es ihr bei ihrem letzten Besuch einfach so herausgesprudelt war. Außerdem hatte sie zwei ihrer guten Freundinnen Bescheid gegeben, von denen sie wusste, dass sie ihr Geheimnis für sich behalten würden.

„Frau Jansen?“

Ella schreckte auf. Das ging heute zügig. Als sie an den Tresen getreten war, zeigte die Sprechstundenhilfe auf einen schwarzen Wartestuhl vor einem der Sprechzimmer ihrer Ärztin. „Sie können dort schon einmal Platz nehmen.“

Ella lächelte freundlich zurück und setzte sich.

Seltsam. Die gesamte Praxis war auf den Kopf gestellt worden und frisch renoviert. Der Fußboden, die Leisten, die Bilder an den hellen Wänden. Selbst die Arzthelferinnen trugen nun alle hellgelbe Oberteile auf weiße Hosen. Die Stühle waren das Einzige, was nicht ausgetauscht worden war. Sie würde laut loslachen müssen, wenn sie sich im Labor noch immer auf den mit schwarzem Kunstleder bezogenen Metallstuhl setzen müsste.

Die Tür neben ihr ging auf. Gefolgt von einer weiteren Patientin trat ihre Frauenärztin heraus und wies der anderen Frau den Weg zum Tresen. Nachdem sich sich verabschiedet hatte, wandte sie sich Ella zu.

„Hallo Frau Jansen. Treten Sie ein.“

Ein kräftiger Händedruck und die nonverbale Weisung als erste das Sprechzimmer zu betreten. Alles verlief wie sonst auch. Es war schon komisch, was für Gesten einem manchmal auffielen.

Ella nahm Platz und wartete, bis sich auch die Ärztin vor sie gesetzt hatte.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Eigentlich bin ich ja zur Vorsorge hier. Aber da ich seit sechs Wochen meine Tage nicht mehr habe und auch der Schwangerschaftstest positiv gewesen ist...“

Ihr Gegenüber lächelte: „... gehen Sie davon aus, schwanger zu sein.“ führte die Ärztin ihren Satz zuende.

Ella grinste wie ein Honigkuchenpferd: „Ja.“

„Na, dann lassen Sie uns doch mal einen Blick darauf werfen.“ Die Ärztin forderte sie auf, in den Nebenraum zu wechseln. Dort machte sich Ella unten herum frei und legte sich auf die Liege neben dem Ultraschallgerät. Wie aufgeregt sie plötzlich wieder war. Als wäre sie das erste Mal schwanger.

Wenn etwas fehlt

Подняться наверх