Читать книгу Wenn etwas fehlt - Rachel Suhre - Страница 7

Kapitel 1

Оглавление

Die Klospülung rauschte. Sie blickte auf den riesigen Kalender hinter ihr. Ein seltsamer Ort für einen Kalender. Ihn direkt über die Toilette zu hängen erschien ihr seltsam. Man sah ihn doch erst, wenn man den Spülknopf betätigte.

Das Julikalenderblatt zeigte die üppigen Konturen eines weiblichen Körpers. Nicht die eines spindeldürren Mädchenkörpers aus dem Abendprogramm. Das Bild zeigte die warmen Rundungen einer Frau, die schon sehr viel älter sein musste als die 16-jährigen Mädchen, die unbedingt die Laufstege dieser Welt erobern wollten.

Ihr eigener Körper sah nicht so aus. Weder wie der des Fotomodels auf dem Kalender, noch wie der einer attraktiven Mittfünfzigerin. Ihre Brüste hingen tief und der Bauch war speckig geworden. Ihr Gesäß und ihre Beine waren von Orangenhaut überzogen und blau schimmerten diverse Krampfadern durch ihre helle, käsig weiße Haut. Sie war nie so ansehnlich wie die Frau auf diesem Kalenderblatt gewesen. Als junge Frau hatte sie einige Kilos weniger auf die Waage gebracht. Doch da sie nie sportlich gewesen war, hatte sie die Pfunde der drei Schwangerschaften nicht wieder runterbekommen. Und heute? Heute war das egal. Für sie. Für ihren Mann. Verheiratet, drei Kinder, ein kleines Haus, das fast abbezahlt war und knapp dem Tod entkommen. Was wollte sie mehr?

Sie wusch sich die Hände über dem kleinen Waschbecken. Ein paar Wassertropfen spritzten auf ihre blaue Bluse. Hektisch zerrte sie einige Papiertücher aus dem Metallkasten an der Wand und tupfte sich trocken. Über sich selbst den Kopf schüttelnd, warf sie die feuchten Papiertücher in den neben ihr stehenden Mülleimer. Sie musste sich beeilen. Gewiss stand schon jemand anders vor der Tür, um seinem Bedürfnis nachzugehen. Schnell, schnell. Bloß nicht auffallen und den Verkehr aufhalten.

Margot Menkel trat aus der Toilette und ging durch den hellen Flur zurück zum Wartezimmer. Die Praxis war erst vor kurzem frisch renoviert worden. Eigentlich völlig unnötig. Sie mochte die Veränderungen nicht. Sie liebte das Bekannte. Alles Neue machte ihr Angst. Auch ihr neues Leben machte ihr Angst. Natürlich, sie war dankbar nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Das sagte man doch so. Man hatte ihr eine zweite Chance gegeben. Doch was sollte sie damit anfangen? Als sie im Krankenhaus gelegen hatte, meinten die Ärzte, es sähe gut, aber langwierig aus. Sie müsste sich auf eine lang andauernde Weiterbehandlung vorbereiten. Das letzt Jahr verging hingegen wie im Fluge.

Und wenn heute alles gut lief... Wenn alles gut lief, würde sie beim nächsten Mal nur noch zum Vorsorgetermin herkommen müssen. Diese Vorsorgeuntersuchungen fanden nun in viel kürzeren Intervallen statt als zuvor. Es wäre vorerst dann auch kein krankheitsbedingter Arztbesuch mehr. Sie konnte ihr Leben weiterleben. Schließlich hatte sie vorher auch nicht ungesund oder ausschweifend gelebt. Eine wirklich Begründung für die Erkrankung hatte sie nicht gefunden. Nicht gesucht. Krebs war zu einer Volkskrankheit geworden. Wer hatte nicht mindestens ein oder zwei Betroffene in seinem Bekanntenkreis? Sie war jetzt eine von denen. Jedenfalls: Ihr Leben hatte sie zurück. Im Krankenhaus hatte sie sich noch vorgenommen, alles anders zu machen. Zumindest vieles. Mehr mit ihrem Mann und ihren Kindern zu sprechen. Nichts mehr auf die lange Bank zu schieben. Zumindest weniger. Unternehmungen zu machen, die sie interessierten. Allerdings hatte sie den Zeitpunkt verpasst damit loszulegen. Sie war in ihren Alltag zurückgekehrt, hatte sich erholt und die Behandlungen über sich ergehen lassen. Verändert hatte sich, bis auf die voraussichtliche Heilung, noch nichts. Sie wusste diese Sache auch nicht anzugehen. Die Sache mit den Veränderungen.

Mal abwarten. Als sie in das helle Wartezimmer zurückkam, hatte sich das Zimmer weiter gefüllt. Heute war wirklich ungemein viel los. Ob sie noch rechtzeitig zum Metzger kam? Es fehlten noch der Blumenkohl und die Bratwürste fürs Abendessen. Die Arzthelferin hatte sie zwar darauf hingewiesen, heute etwas Zeit mitbringen zu müssen. Aber so viel Zeit? Sie nahm auf dem letzten freien Wartestuhl Platz und richtete ihren Blick auf eines der großen skandinavischen Bilder. Sie konnte nicht verstehen, dass es Frauen und Menschen gab, die ihre Sitznachbarn, Mitwartenden und Gegenübersitzenden frech und intensiv beobachteten. So etwas machte man einfach nicht. Sie richtete daher ihren Blick auf das Bild der schwedischen Häuserzeile und vermied unangenehmen Blickkontakt mit den anderen Patientinnen. Dort wäre sie ja auch mal gerne gewesen. In dieser Straße Schwedens. Es sah so friedlich aus. Ganz ihrem Naturell entsprechend. Aber für Reisen hatten sie nie Geld gehabt. Außerdem, mit wem sollte sie dorthin fahren? Wer würde mit ihr eine solche Reise unternehmen? Margots Gedanken verloren sich im Leeren. Sie wartete.

Wenn etwas fehlt

Подняться наверх