Читать книгу Wenn etwas fehlt - Rachel Suhre - Страница 13
Kapitel 7
ОглавлениеSie saßen am himmelblau gedeckten Tisch. Vor ihr befand sich eine riesige Windeltorte, die sie gemeinsam mit ihren Freundinnen für Doro zusammengesteckt hatte. Was für eine Arbeit so ein Teil in sich barg. Dafür sah es phänomenal aus und Doro waren die Augen aus dem Kopf gefallen. Sofort hatte sie begonnen zu weinen. Wie ein Schlosshund. Als sie nach fünf Minuten noch immer nicht aufhörte, beschlossen sie, es etwas weniger emotional angehen zu lassen. Soweit das eben möglich war.
„Und jetzt, meine Liebe Doro, dein Mutterkuchen.“ Annika hatte nur den Kopf aus der angrenzenden Küche geschoben und grinste verschmitzt um die Ecke.
Alle begannen laut zu kichern, als Doro die Augenbrauen zusammenzog und das Gesicht zu einer leicht angeekelten Grimasse verzog.
„Iiieh! Was habt ihr euch da bloß einfallen lassen?“ Annika kam mit einem riesigen Maulwurfkuchen an den Tisch, den sie direkt vor Doros Platz abstellte. Der Kuchen war braun, krümelig und etwas höher als gewöhnliche Schokostreuselkuchen. Das auffallendste war vermutlich die dicke, geflochtene Fruchtgummischnur, die in die Seite des Kuchens gesteckt war und sich einmal um den Kuchen schlängelte. Doro stand auf, die riesige Kugel vor ihrem Bauch seitlich haltend und umarmte ihre beste Freundin.
„Alles Gute meine Liebe. Wir hoffen, du hast einen ganz wunderbaren Babyshower.“
Und wieder wurden Doros Augen feucht.
„Danke! Das ist so unglaublich lieb von euch. Ihr seid meine Engel.“
Einen Augenblick später trat Tanja aus der Küche heraus. Vor sich trug sie ein Tablett mit zehn Sektgläsern, die mit einer leicht rosagelblichen Flüssigkeit gefüllt waren.
„Und wenn dir das hier plötzlich die Beine hinunterlaufen sollte, dann ist deine Fruchtblase geplatzt und du solltest schnellstens ins Krankenhaus düsen.“ Tanja giggelte vor sich hin und auch der Rest der reinen Frauengesellschaft begann herzhaft zu lachen.
„Sieht das wirklich so aus?“ Hannah konnte die Frage nicht für sich behalten. Auch ihr skeptischer und angewiderter Blick ließ sich nicht verbergen.
„Ach Kindchen, nein.“ Doros Mutter saß ihr gegenüber und lachte auf. „Fruchtwasser ist durchsichtig. Eine helle klare Flüssigkeit. Es sei denn, es ist etwas nicht in Ordnung. Dann kann es auch mal grünlich oder gelb sein. Das ist kein ganz so gutes Zeichen. Ich hatte mal...“ Doch Nora, die große Schwester von Doro, schüttelte ihre Mutter am Unterarm und flüsterte: „Mamaaa! Wir sind hier auf Doros Babyshower. Sie ist aufgeregt genug. Du musst hier jetzt keine Schauermärchen erzählen.“
„Aber das kann nun mal passieren.“
„Das mag ja sein. Aber muss das jetzt hier Thema sein?“
Glücklicherweise hatte Doro nichts von dem Gespräch der drei Frauen mitbekommen und war von ihren Freundinnen anderweitig in Beschlag genommen worden. Hannah fühlte sich plötzlich nicht mehr ganz so wohl. Was erwartete sie da in einigen Monaten? Wollte sie das überhaupt? Zumindest wollte sie sich jetzt hier keine weiteren Gedanken darüber machen. Hastig griff sie nach einem der Sektgläser und schüttete das Getränk mit einem Zug herunter. Sie grinste Doros Mama kurz an und zuckte mit den Schultern. Sollte sie doch denken, was sie wollte.
Während Doro den Kuchen anschnitt und Annika ihr beim Verteilen der Stücke behilflich war, erfüllte munteres Geschnatter fröhlicher Frauen die Wohnung und hinterließ eine wohlige Atmosphäre.
Auch Hannah hatte sich schnell wieder gefangen, indem sie das Gespräch zu Anfang verdrängte.
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Nicht selten dachte sie sich diesen abgedroschenen Spruch. Doch oftmals fuhr sie damit gar nicht mal so schlecht. Man musste nicht immer alles im Detail wissen. Da unterschied sie sich gehörig von Jan. Er musste immer alles verstehen und nachvollziehen können. War das nicht der Fall, wurde untersucht, recherchiert und nachgehakt, bis er eine Antwort gefunden hatte, mit der er leben konnte. Hannah beließ es gerne einfach bei dem Wissen, das man ihr anbot. Vielleicht erschien sie Fremden deswegen manchmal naiv. Nicht selten wurde sie jedoch für ihre Leichtigkeit, Lebendigkeit und ihren Lebensmut bewundert. Was auch immer das heißen sollte.
Während sie so durch die Runde der Frauen schaute, überlegte sie, wen sie in ihr Geheimnis einweihen wollte. Doro würde dafür jetzt keinen Kopf haben. Sie würde ihre Aufregung und Freude, vielleicht sogar Ängste vermutlich am ehesten nachvollziehen können. Dennoch war sie im Moment voll und ganz mit der Geburt ihres eigenen Kindes beschäftigt. Hannah wollte nicht, dass ihr Baby und die anstehende Schwangerschaft in einem Gespräch an Bedeutung verloren. Nora kannte sie zu wenig, um ihr von den anstehenden Monaten und dem Baby zu erzählen. Außerdem war sie fünf Jahre älter und es kam ihr seltsam vor, einer Frau, die so viel älter war und noch keine Kinder hatte, von ihrem ersten Baby zu erzählen. Hannah hatte sowieso immer viel mehr mit Doro unternommen. Auch wenn ihre Interessen aufgrund der hinter ihnen liegenden Schwangerschaft und Familienplanung in den vergangenen Wochen in unterschiedliche Richtungen auseinander gegangen waren.
Liza wandte sich ihr zu und fragte: „Alles klar bei dir?“
„Bei mir?“ Hannah räusperte sich und schüttelte verneinend den Kopf, die Augenbrauen so weit hochgezogen, wie nur möglich. Schon wieder war sie dabei erwischt worden in ihre Gedankenwelt und Tagträume abzudriften. „Klar. Alles klar! Und bei dir so?“ Offensichtlicher konnte es ja nicht sein, dass sie nicht bei der Sache war.
„Mir geht’s gut. Danke. Du wirkst so abgelenkt? Worüber denkst du nach?“
„Ach, ich weiß auch nicht. Es ist komisch, wenn Freundinnen auf einmal Kinder bekommen, findest du nicht?“
Liza runzelte leicht die Stirn, schob dann ihre pralle, rubinrote Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. „Nein. Eigentlich nicht. Ich meine, schau mal wie lange die beiden jetzt schon zusammen sind. Irgendwann muss man ja mal loslegen, nicht wahr? Sonst wird das nichts mehr und schwupp ist die biologische Uhr abgelaufen.“
„Die biologische Uhr?“
Sie nickte und schob sich ein weiteres Stück Kuchen mit der Gabel in ihren riesigen Mund mit den rotbemalten Lippen. Als sie runtergeschluckt hatte, machte sie die Geräusche einer Uhr nach: „Tick-tack.“
Nun war es an Hannah die Stirn leicht in Falten zu legen und die Unterlippe nachdenklich vorzuschieben.
Die Freundin griff nach der Wasserflasche und schüttete sich ihr Sektglas mit etwas Wasser auf. „Na, ab 35 oder so, gilt jede Schwangerschaft als Risikoschwangerschaft. Doro ist schon 30.“ Sie setzte das Glas an und trank einen Schluck Wasser.
Nachdem sie ihr Glas zurückgestellt hatte, schaute sie Hannah neugierig an. „Wie alt bist du nochmal? Ich hab's schon wieder vergessen.“
So oft sahen sie sich ja nun mal auch nicht, um zu wissen, wer wie alt war und wann Geburtstag hatte.
„25.“
„Ach, das ist das beste Alter. Ich finde, ihr solltet auch anfangen. Du bist doch noch immer mit Jan zusammen, oder? Ist der nicht auch schon 28?“
Das Alter ihres gut aussehenden Mannes, wusste sie also noch. Vielleicht sollte sie dann mal auf Konfrontationskurs gehen. Einfach weil ihr danach war und die Art, wie Liza sich hier mit ihrem neunmalklugen Wissen hervortat, nicht gefiel.
„Stimmt. Wir sind seit einem Jahr verheiratet.“ Stolz schenkte sie ihrer Tischnachbarin das glücklichste und freudigste Lächeln, das sie hatte, und hob wie zufällig ihre linke Hand mit dem zauberhaften Ring empor. Das Steinchen blitzte funkelnd auf.
„Ach.“
War da Enttäuschung? Gut. Dann würde sie sich jetzt ihrer anderen Tischnachbarin zuwenden. Sie drehte sich von Liza weg, die sich brüskiert erhob und auf der Toilette oder in der Küche verschwand. Hannah bekam es nicht mit. Sie hatte ihre Schlacht gewonnen.
Andrea unterhielt sich schon die ganze Zeit sehr angeregt mit Tanja, die sich, nachdem sie alle mit dem Fruchtwassercocktail versorgt hatte, zu ihnen setzte. Sie waren damals in derselben Oberstufe gewesen. Nach dem Abitur hatten sie verschieden Wege eingeschlagen. Andrea und Svenja hatten sich in denselben Studiengang einschreiben lassen und waren prompt gemeinsam zur Uni gegangen. Tanja hatte eine Ausbildung zur Bauchzeichnerin absolviert und arbeitete nun beim angesagtesten Architekten der Stadt. Hannah war durch die Welt gereist, hatte sich Australien angesehen, in Paris das Tanzen für sich entdeckt und sich daher in New York den Broadway angeschaut. Ihre Leidenschaft für Schauspiel und Tanz war während ihrer Reisen geweckt worden. So war sie zurückgekehrt und hatte mit dem Schauspielunterricht begonnen. Die ganze Zeit über waren sie und Jan ein Paar gewesen.
Tanja, mit ihrer lebensfrohen Art, fragte gerade nach Svenja, als Hannah ihre Gedanken zur Seite schob. Andreas Gesicht verdunkelte sich. Es wurde düster und sie schluckte.
„Was ist los, Andrea?“ Tanja war sofort leiser geworden. Sie hatte scheinbar bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte.
Svenja war Andreas beste Freundin. Dennoch waren Hannah und Tanja ganz oft auch Teil der Clique gewesen, mit der sie abends um die Häuser gezogen waren.
„Andrea.“ wiederholte Hannah eindringlich. „Was ist mit Svenja?“
Andrea wand sich und die beiden Frauen wussten, dass sie sich schwer tat, zu erzählen. Irgendetwas war geschehen, was sie ihnen nicht mitteilen wollte oder nicht konnte. Vielleicht war es so fürchterlich, dass Andrea es nicht über die Lippen bekam.
Die junge Frau hatte den Kopf nach unten gerichtet, schaute immer mal wieder kurz auf, ob auch Doro am anderen Ende vom Tisch nicht zu ihnen herüber sah. Dann schluckte sie, nestelte an ihrem Pulli und presste die Lippen fest aufeinander, so dass sie ihre Farbe verloren.
Instinktiv streichelte Tanja ihr tröstend über den Rücken und auch Hannah war etwas näher zu ihnen gerutscht. Gerade so, dass der Rest der Kaffee-und Teegesellschaft nichts mitbekam.
Andrea begann leise zu flüstern: „Ihr müsst mir versprechen, dass ihr es für euch behaltet!“
Mit ernster und entschiedener Miene starrte sie die beiden anderen an. Die nickten nur und warteten besorgt ab.
„Svenja war schwanger.“
Hannahs Augen wurden groß. Größer als sie eh schon waren. Sie war schwanger? Tanja hingegen verzog das Gesicht, hatte Tränen in den Augen und schien sich nun ebenfalls sehr zusammenreißen zu müssen. Aber das war doch toll. Ihr war zunächst nicht klar, worum es hier eigentlich ging. War es nicht großartig, dass Svenja schwanger war? Erst in dem Augenblick, in dem sie sich diese Frage stellte, wurde ihr das kleine Wörtchen war bewusst.
„War?“ fragte sie daher entsetzt.
Andrea nickte und schluckte ihre Tränen hinunter.
„Oh nein.“ flüsterte Hannah und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
Nora war gerade aus der Küche zurückgekehrt und im Begriff sich zu ihnen zu setzen, als ihr die Stille der drei auffiel. Alle drei Frauen starrten in eine andere Richtung und vermieden es, einander anzusehen.
„Was ist denn mit euch los?“ fragte sie neugierig, als sie neben ihnen Platz nahm.
Doch keine antwortete. Tanja und Hannah sahen sich fragend an. Sie wussten, dass niemand von Svenjas Fehlgeburt erfahren durfte, solange nicht Svenja es war, die ihren Mitmenschen von diesem furchtbaren Verlust erzählte. Gespielte Freude, wie sie Tanja sonst oft über die Lippen kam, war in diesem Moment völlig unangebracht. Also war es Hannahs Job, irgendwie die Kurve zu kriegen. Das war schon früher immer so gewesen. Und das, obwohl sie allen immer wegen ihrer fröhlichen Sicht aufs Leben auffiel. Doch diesmal gelang es auch ihr nicht, das Thema einfach so zu wechseln. Eine Freundin war schwanger gewesen. So wie sie. Da konnte sie nicht einfach so ein anderes Gesprächsthema anschlagen.
„Wir haben uns gerade...“ sie geriet ins Stocken. Sie wollte jetzt nicht zu stottern anfangen. „Es ging gerade um Fehlgeburten.“
Jetzt war es raus. Die Frauen am anderen Ende des Tischs unterhielten sich gerade fröhlich über die komischen Szenen von Doro und Ralf bei der Geburtsvorbereitung und mussten alle furchtbar lachen.
Nora starrte die drei jungen Frauen erst ungläubig, dann fassungslos und schließlich erbost an. Der wütende Ausdruck auf ihrem Gesicht festigte sich.
„Was ist denn heute bloß mit euch allen los?“ Eindringlich sah sie die drei Frauen vor sich an. „Ihr seid doch auf einem Babyshower. Wieso unterhaltet ihr euch dann über Fehlgeburten? Solltet ihr euch nicht lieber mit Doro freuen und ihr Mut machen.“
„Entschuldige mal, Nora.“ Jetzt schaltete Tanja sich ein. „Eine Freundin von uns hat ein Kind verloren. Da fällt dir nichts anderes ein, als uns hier zusammenzustauchen?“
Nora wurde blass um die Nase. Auf diese heftige Reaktion von Tanja war sie nicht vorbereitet gewesen. Zudem schockierte sie, dass eine von ihnen betroffen zu sein schien. Sie sah jeder in die Augen, räusperte und entschuldigte sich. „Sorry. Ich wollte nicht so heftig reagieren. Das ist wirklich schlimm.“
Stille breitete sich wieder unter ihnen aus.
Schließlich rang Nora sich durch und fragte: „Ist eine von euch dreien betroffen?“
Die Frauen sahen einander an und schüttelten den Kopf.
Seltsam, auch wenn die Fehlgeburt noch immer über ihren Köpfen hing, war auch Erleichterung zurückgekehrt. Erleichterung darüber nicht zu den Frauen zu gehören, die ihre Kinder verloren.
„Möchte eine von euch noch einen Tee? Oder Kaffee?“ Nora sah in die Runde. Sie verstand es das Thema zu wechseln und ignorierte die zuvor aufkeimende traurige Atmosphäre gänzlich.
Hannah nickte. Sie wollte die Situation nur noch beenden. Noras Frage nach einer Tasse Tee lockerte die angespannte Szenerie etwas auf. Schließlich waren sie auf einem Babyshower. Da gehörten Fehlgeburten nicht hin. Was sollten sie tun, wenn sich Doro als gute Gastgeberin wieder ihnen zuwandte. Sie anschweigen? Auch Andrea und Tanja schienen die Situation so einzuschätzen und nickten Nora zu. Sie verschwand in der Küche.
„Braucht sie was?“ wollte Tanja wissen. „Können wir ihr irgendwie behilflich sein? Oder etwas Gutes tun?“
Andrea schüttelte den Kopf. „Nein.“ Traurig schaute sie in die Runde der so glücklichen Frauen am anderen Ende des Raumes.
„Eigentlich hätte ich euch das gar nicht erzählen dürfen.“ Sie schluchzte leise. „Aber ihr habt mich gefragt, wie es ihr geht. Und sie konnte einfach nicht hierher kommen und mit euch allen Doros Baby feiern.“ Eine Träne kullerte ihr übers Gesicht.
„Sagst du uns Bescheid, wenn wir etwas tun können?“ Hannah sah ihre Freundin bittend an. Andrea nickte.
„Dürfen wir dich zwischendurch fragen, wie es ihr geht?“
Andrea sah Tanja an. „Klar.“ Sie dachte kurz nach. „Man kann ihr gerade einfach nicht helfen. Ich weiß auch nicht so genau, was ich tun soll. Ich bin einfach immer nur für sie da, wenn sie sich meldet und versuche ihr kleine Freuden im Alltag zu machen.“
Jetzt kullerten auch Hannah zwei Tränen übers Gesicht. Sie nahm Andrea fest in den Arm. Sie war eine großartige Freundin. Auch wenn sie Svenjas Geheimnis an sie weitergegeben hatte. Außerdem musste Hannah irgendwo mit all ihrer angesammelten Emotionalität hin.
Ihr tat Svenja so unglaublich leid. Gleichzeitig war sie jedoch froh, dass ihr das nicht passiert war. Unbewusst strich sie sich über den Bauch. Sie war froh, dass ihr das hoffentlich und vermutlich nicht passieren würde. Sie hoffte ganz fest darauf.