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3 Ein topologisches Programm: Das II. Vatikanum
ОглавлениеFreilich gibt es ein Gegenprogramm zu Markteuphorie und kirchlichem Reaktivautoritarismus. Das kirchliche Lehramt selbst hat es entworfen und sich zu ihm bekannt, ein nicht ganz unerheblicher Teil der theologischen Aufgabe besteht darin, es an dieses sein Bekenntnis zu erinnern.
Die katholische Kirche hat sich selbst im II. Vatikanum einen Ort gegeben, denn sie hat sich hier, nach langen Jahrzehnten der Leugnung, zu ihrem konstitutiven Ortsbezug bekannt. Diese Ortsbestimmung hat die katholische Kirche am prägnantesten, weil explizit und konzeptionell, in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes vorgenommen und damit bereits deren Titel markiert.15 Es geht in ihr bekanntlich um die „Kirche in der Welt dieser Zeit“, wie es wörtlich heißt. Der Kirche wird damit eine doppelte, zeitliche wie örtliche Indexierung mitgegeben. Mit Gaudium et spes steigt die Kirche vom Olymp des unbeteiligten Beobachters mit göttlichem „view from nowhere“ in die Relativitäten von Welt und Geschichte, in der Hoffnung, in der Welt und für die konkreten Geschichten der Menschen Perspektiven zu eröffnen, die sie ohne die Botschaft der Kirche nicht hätten und die diese ihrerseits ohne die konkrete Konfrontation mit der Welt heute überhaupt nicht entdecken würde. Diese Entdeckungsrelationen sind im Konzil der Ort, an dem sich die religiöse Aufgabe und auch die religiöse Autorität der Kirche offenbaren und erschließen.
Dieses konziliare, inkarnatorische (vgl. Lumen gentium 8) und topologische Konzept von Kirche müsste eigentlich Folgen für die Reflexion und Konzeption kirchlicher Reaktionen auf die gegenwärtigen „neuen Zeiten“ haben. Es wirkt sich nämlich aus in der Perspektive, von der her wir Kirchenkonstitution entwerfen, im Theoriedesign unserer Transformationsdiskurse und schließlich in der Spiritualität unserer kirchlichen Kultur.
Der quasi immanenten Häresie einer jeden religiösen Institution, sich mit dem zu verwechseln, weswegen es sie gibt, wird im Konzil ein aufgabenbezogenes sakramentales Verständnis von Kirche entgegengesetzt. Hans-Joachim Sander hat diese pastorale Wende des Konzils konstitutionsanalytisch auf die Unterscheidung von Kirche als Religions- und als Pastoralgemeinschaft gebracht.16 Als Religionsgemeinschaft ist die Kirche eine immer noch mächtige Institution mit Einfluss und vielen Zeichen bleibender gesellschaftlicher Präsenz, als Pastoralgemeinschaft ist sie ein ohnmächtiger, weil von Gottes Gnade abhängiger Ort der Realisation des Evangeliums.
Die Polarität und auch die Unentkoppelbarkeit beider Existenzweisen, der religionsgemeinschaftlichen wie der pastoralgemeinschaftlichen, sind unausweichlich; von welchem Pol her man Kirche begreift, ist es aber nicht. Die pastorale Wende des Konzils besteht ganz wesentlich darin, Kirche als Religionsgemeinschaft von ihrem Charakter als Pastoralgemeinschaft her zu entwerfen. Da „Pastoral“ im Konzil ein qualifiziertes Geschehen meint, nämlich die kreative und handlungsbezogene Konfrontation von Evangelium und Existenz heute, ist genau dies die „materiale Wende“ in der Konzeption und Reflexion kirchlicher Konstitutionsprozesse.
Unsere Transformationsdiskurse sind ziemlich weit von ihr entfernt. Es würde etwa bedeuten, nicht zuerst Sozialformen, also Religionsgemeinschaftliches, zu reflektieren und dabei zu fragen, wie in ihnen Pastoral (noch) möglich ist, oder gleich gar, welche Zukunft diese Sozialformen haben, sondern umgekehrt zu reflektieren, wo und warum Pastoral im konziliaren Sinne heute dem Volk Gottes gelingt, um dann an der Weiterentwicklung jener Sozialformen mitzuhelfen, welche bessere Chancen für die Pastoral bieten.
Für das Theoriedesign unserer Transformationsdiskurse würde dies aber erfordern, endlich die moderne Utopik zu überschreiten hin zu einer Lehre von den konkreten Orten, welche die Autorität des Glaubens in seiner Praxis erweisen. Das setzt Aufmerksamkeit für jene Orte voraus, an denen das Volk Gottes schon heute neu entdeckt, wie sich heutige Existenz und Evangelium wechselseitig erschließen, in offenen, experimentellen, unfestgestellten Prozessen.
Utopien sind statische Projektionen der eigenen Wunschproduktion, und unsere Kirche ist voll davon, progressiven wie konservativen. Topologien aber, zumal praktisch orientierte, arbeiten mit den Differenzen im Netz der konkreten Orte und sind fasziniert von all dem, was Utopien nervös macht: Unberechenbarkeit, Differenz und Dynamik. Denn sie vermuten gerade dort den Reichtum dessen, was man braucht, aber noch nicht hat, und vor allem sind ihnen Ambivalenzen kein Gräuel, sondern notwendige Voraussetzungen humaner und damit christlicher Existenz.
Das betrifft übrigens auch die Pastoraltheologie. Sie ist ein klassisches Aufklärungsfach und daher utopisch gestimmt, wurde zudem von einer Kaiserin eingeführt und daher schwanken ihre Utopien zwischen Befreiungspathos und hierarchienahem Institutionsmanagement. Ein topologischer Ansatz würde für die Pastoraltheologie wie auch generell für den aktuellen Transformationsdiskurs der Kirche bedeuten, jene Orte zu suchen und zu befragen, an denen gelingt, was nach dem Konzil Voraussetzung von Kirchenbildung ist: die Pastoral.17
Es gibt eine Stelle im Konzil, die dabei sehr präzise definiert, worum es geht. Sie findet sich in Gaudium et spes 4. Dort heißt es: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.“ Das kennt man mittlerweile. Es geht aber spannend weiter: „So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben.“ (Gaudium et spes 4)
Das ist eine wirklich brillante Formulierung. Sie behauptet nämlich erstens, dass diesseitiges und jenseitiges Leben in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, zweitens, dass es die zentrale, die konstitutive Aufgabe der Kirche ist, dieses Verhältnis von diesseitigem zu jenseitigem Leben in jeder Generation neu zu vermitteln und zwar als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens überhaupt. Und dass dies drittens nur gelingt, wenn die „Zeichen der Zeit“, also die säkulare Realität angemessen im Licht des Evangeliums gedeutet wird. Ohne die Deutung der Zeichen der Zeit also kann die Kirche ihren Auftrag überhaupt nicht erfüllen: Es ist ihr daher eine wirkliche Pflicht.
Fürchtet sie sich davor, sich mit den konkreten Herausforderungen der „neuen Zeiten“ zu konfrontieren, scheitert sie nicht nur an ihrer Zeit, sondern auch an ihrem eigenen Auftrag. Die Zeichen der Zeit aber sind topologisch, plural in Raum und Zeit, flüssig und neu, und heute, in postmodernen Zeiten, sind sie vor allem eines: überraschend, fremd und verstörend. Und deswegen empfiehlt das Konzil eben auch eine neue Haltung. Niemand hat diese Haltung bewegender verkörpert als jener Papst, der das Konzil einberufen hat. Dieser Papst steht für eine neue kirchliche Kultur als Folge des konsequenten Ortsbezugs der Kirche und ihrer grundsätzlichen Solidarität mit der „Menschheitsfamilie“, der sie, wie das Konzil immer wieder sagt, „eingefügt“ ist. Es heißt im „Akt des Glaubens“ von Johannes XXIIII., kurz vor seinem Tod:
Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert, nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen. Wer ein recht langes Leben gehabt hat, wer sich am Anfang dieses Jahrhunderts den neuen Aufgaben einer sozialen Tätigkeit gegenübersah, … wer wie ich zwanzig Jahre im Orient und acht in Frankreich verbracht hat und auf diese Weise verschiedene Kulturen miteinander vergleichen konnte, der weiß, dass der Augenblick gekommen ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die von ihnen gebotenen Möglichkeiten zu ergreifen und in die Zukunft zu blicken.18
Ein alter Mann und Papst bekennt kurz vor seinem Tod, immer noch am Beginn des Verständnisses des Evangeliums zu stehen. Und er nennt den Grund: die neuen Zeiten. Der oberste Repräsentant der alten Kirche markiert die vielen und ganz unterschiedlichen Orte, die ihn zu diesem Bekenntnis zwingen: sein langes Leben in diesem Jahrhundert, die Herausforderungen der sozialen Verwerfungen, der islamische Orient und das atheistische Frankreich und überhaupt die kulturellen Differenzen der Gegenwart.
Das Evangelium in diesen unüberschaubaren Zeiten und von seinen Problemen her in Wort und Tat besser zu verstehen und zu verwirklichen, das ist die alte Aufgabe der Kirche. Die kulturellen Revolutionen einer postmodern gewordenen Gegenwart stellen völlig neue Fragen an uns und damit an das Evangelium, Fragen, die wir noch kaum verstanden, geschweige denn beantwortet haben. Das ist unsere pastorale Chance.
Diese neuen Zeiten der Gegenwart sind für das pilgernde Volk Gottes eine große Herausforderung, denn das autologische Dispositiv zwingt die Kirche, eine ziemlich neue Konstitutionsform ihrer selbst zu entwickeln und dabei ihre Aufgabe nicht zu verraten, weder an den Markterfolg, noch an die kleingläubige Resignation des Autoritarismus. Das ist die kirchliche Herausforderung.
Diese Zeiten sind aber auch eine große Gnade. Denn sie versprechen neue Entdeckungen der alten Wahrheit des Evangeliums und das im hilfreichen Kontext der Demut.