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DIE PROVOKATION ANNEHMEN Welche Konsequenzen sind aus der Sinusstudie zu ziehen? 1 Außenperspektiven können schmerzen
ОглавлениеDamit sie für das Wohl der Gläubigen … geeigneter sorgen können, sollen sie sich bemühen, ihre Bedürfnisse in den sozialen Umständen, in denen sie leben, richtig kennenzulernen, wobei sie dazu geeignete Mittel anwenden sollen, besonders der Sozialforschung.
So heißt es im Dekret des Zweiten Vatikanums über das Hirtenamt der Bischöfe, Christus Dominus 16. Wer immer das mittlerweile zu einer gewissen Berühmtheit gelangte „Milieuhandbuch religiöse und kirchliche Orientierungen“ beim Heidelberger Marktforschungsinstitut Sinus Sociovision in Auftrag gegeben haben mag – das „Handbuch“ selbst nennt die kirchennahe MDG Medien-DienstleistungsGmbH sowie die KSA Katholische Sozialethische Arbeitsstelle Hamm, unter „Beratung“ figurieren allerdings auch Mitglieder des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz oder etwa der Pressesprecher Kardinal Meisners –, man muss ihm ohne Zweifel dankbar sein.
Zwar können die Ergebnisse den halbwegs aufmerksamen Beobachter der gesellschaftlichen Szene(n) nicht wirklich überraschen und den oder die pastoral Tätige(n) auch nicht, besteht die Erhebungsmethode doch im Kern aus protokollierten und analysierten Gesprächen mit „Normalbürgern“ zu Lebenssinn, Religion und Kirche. Dies ändert aber nichts am exemplarischen Wert der Studie, denn sie leistet, was die katholische Kirche so dringend braucht: den wertvollen Dienst der Außenperspektive.
Freilich: Solche Außenperspektiven können schmerzen, wie ein Spiegel, eine Rezension oder die Beichte. Sie präsentieren auch nicht einfach die Wahrheit an sich, sondern spezifische Fremdblicke auf die eigene Wirklichkeit. Damit eröffnet sich der Kontrast von Fremd- und Eigenperspektive: Wie man auf diesen Kontrast reagiert, hat seinerseits Diagnosecharakter. Die Differenz von Fremd- und Eigenperspektive ist aber der genuine Ort intellektueller Erkenntnis und zugleich jener geistlicher Demut. Beidem ist die Kirche verpflichtet.
Die Untersuchung geht von zwei plausiblen Grundannahmen aus: zum einen, dass die situative Integration der Kirchenmitglieder jede normativ regulierte Kirchenmitgliedschaft abgelöst hat,19 mithin also auch katholische Religionspraxis unter den Individualisierungszwang moderner Lebensführung geraten ist; zum anderen, dass „Individualisierung“ nicht voraussetzungslose Wahlfreiheit, sondern Entscheidung auf der Basis neuer Integrationsmechanismen bedeutet. Schließlich müssen es moderne Biografien irgendwie schaffen, das Übermaß an Wahlmöglichkeiten zu bewältigen.