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1 Das Grundproblem: Das Neue im Unbekannten, das Unbekannte im Neuen

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Das verstörende Problem des Neuen liegt darin, dass zu seiner Analyse zuerst nur alte Kategorien zur Verfügung stehen. Das ist eine ebenso schlichte wie folgenreiche Konsequenz der Tatsache, dass die menschliche Zeit, zumindest unter irdischen Normalbedingungen, nur in eine Richtung verläuft und Menschen nicht, wie etwa Gott, in der Lage sind, aus der Zukunft in die Vergangenheit zu schauen oder gar in einer ewigen Gleichschau der Zeitlichkeit zu entgehen.

Die Entdeckung von Neuem verläuft normalerweise in drei Phasen:

• in der schieren Entdeckung von etwas, das einen irritiert,

• in seiner Entdeckung als wirklich Neues, es könnte sich ja auch als Altbekanntes in tarnend neuem Gewand herausstellen, und

• in der grundsätzlich nie abgeschlossenen Entdeckung des Entdeckten unter neuen, erst zu entwickelnden Kategorien.27

Das Neue als Phänomen, das Phänomen als etwas Neues und neue begriffliche Konzepte zur Neuentdeckung des Neuen, das sind wohl die normalen Erkenntnisschritte von Neuem – wenn es gut läuft.

Die vorliegende Studie zur „Unbekannten Mehrheit“ könnte sehr dabei helfen, dass es bei der Entdeckung der neuen Situation der katholischen Kirche in Deutschland (und religionssoziologisch ähnlich strukturierten Gesellschaften) gut läuft. Denn schon der Titel dieser Studie behauptet (mindestens) zwei provozierende und ganz und gar unselbstverständliche Thesen:

erstens, dass die Mehrheit der Mitglieder der katholischen Kirche bestenfalls noch „Kasualienfromme“ sind, und

zweitens, dass sie der Wissenschaft und überhaupt der katholischen Kirche weitgehend unbekannt sind.

Das sind beides ebenso neue wie starke Behauptungen. Vieles spricht freilich für sie, nicht zuletzt diese Studie. Irritationen über das gewandelte Verhalten erwachsener Katholiken und Katholikinnen in Großstädten und anderswo gibt und gab es ja schon länger, vor allem an der professionellen pastoralen Basis der Kirche.28 Ein immer größerer Teil ihrer eigenen Mitglieder erfüllt offenkundig die für Katholiken und Katholikinnen bestehende, auch noch im CIC 1983 can 124729 normierte und in der Nr. 2181 des „Katechismus der katholischen Kirche“30 eingeschärfte Sonntagspflicht nicht mehr oder immer seltener. Diese Mehrheit der Katholiken und Katholikinnen betrachtet ausweislich ihres Handelns die Eucharistie offenkundig nicht als „Quelle“ und „Höhepunkt“31 ihres eigenen religiösen Lebens, noch hält sie überhaupt kontinuierlichen Kontakt zum kirchlichen Sozialraum.

Das ist tatsächlich ein ziemlich neues Phänomen, zumindest für die letzten 150 Jahre der katholischen Kirchengeschichte Deutschlands, galten hier doch Anfang der 1950er Jahre noch Kirchgangsquoten von 50 Prozent32 innerhalb eines zwar in sich differenzierten, aber doch auch klar abgegrenzten „katholischen Milieus“33. Noch überwiegt das Erstaunen und Erschrecken über dieses Phänomen.

Dass die Gläubigen den kirchlichen Anspruch immer nur ungenügend erfüllen und am kirchlichen Leben nie ganz so engagiert teilnehmen, wie die Kirche es gerne hätte, das ist ein altbekanntes Phänomen, sonst hätte es über die Jahrhunderte nicht immer die Aufforderung zu Sonntagsbesuch, Beichte und Kommunionempfang und entsprechende Sanktionierungen gebraucht. Neu aber ist die Erkenntnis, dass der Rückgang der Sonntagskirchgänger Symptom eines fundamentalen Wandels des Verhältnisses der Kirche zu ihren eigenen Mitgliedern oder besser der Mitglieder zu ihrer Kirche darstellt. Damit ist es weder mehr möglich, die radikal gewandelte Partizipationspraxis einfachhin zu übersehen noch als „volkskirchliche Laxheit“ in altbekannte Deutungsmuster einzuordnen.

Die vorliegende Untersuchung könnte ein Schritt sein in die Neuentdeckung des Neuen unter neuen Erkenntnisperspektiven. Dazu ist vor allem notwendig, die bisherigen, quasi-selbstverständlichen Wahrnehmungsmuster zu überschreiten. Deren Gemeinsamkeit aber ist es auch im Falle der aktuellen Transformationskrise der kirchlichen Sozialformen, das Neue vom Gewohnten her zu begreifen und als dessen Abweichung zu definieren. Die neuen Realitäten sind so noch kein Grund, die eigenen Wahrnehmungsmuster umzubauen.

Damit dies gelingt, braucht es eine Perspektivenverschiebung, deren zentrale Dynamik vom Neuen selber ausgeht. In der vorliegenden Untersuchung zeigt sich diese neue Sicht der Dinge darin, dass die Studie nicht von der Institution her fragt und von ihren – an sich ja durchaus berechtigten – Interessen an Partizipation und Integration ihrer Mitglieder her, sondern von jenen Mitgliedern und deren Selbstwahrnehmungen selber ausgeht. Dann aber zeigt sich jenseits aller nahe liegenden defizitorientierten Wahrnehmung, dass die Mehrheit der Kirchenmitglieder offenbar Partizipation und Integration auf – aus der Perspektive der Institution – ausgesprochen eigenwillige Weise realisieren, indem sie diese nämlich zugleich verweigern und aufrecht erhalten und dies aus für sie guten, geradezu „selbstverständlichen“ Gründen.

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