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3.2 Jenseits der „Kirchenzugehörigkeit“: Wohinein die „Kasualien“ führen
ОглавлениеEs ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie, dass die Teilnahmebegründung „Das gehört einfach dazu“ offenbar bei Kasualienfrommen wie bei regelmäßigen Gottesdienstbesuchern gleichermaßen zu finden ist. Während das bei Letzteren natürlich wenig überrascht, so doch umso mehr bei der ersten Gruppe, für die doch kirchliches Partizipationsverhalten normalerweise gerade nicht „dazugehört“. Die These von Johannes Först, es handele sich hier um etwas anderes als nur „um eine eher vordergründige Reminiszenz an frühere Handlungsmuster“53, scheint insofern plausibel, als der Satz „Das gehört einfach dazu“ nunmehr eben nicht mehr dafür steht, kirchliche Handlungsmuster unhinterfragt zu übernehmen, sondern vielmehr gegenläufig „auf Bedeutsames“54 verweist bei Menschen, die zentrale kirchliche Handlungsmuster hinter sich gelassen haben.
Först arbeitet überzeugend heraus, dass jenes „Bedeutsame“, auf das der Satz „Das gehört einfach dazu“ referiert, der Raum ist, in den hinein sich die Kasualienfrommen mit Hilfe ihrer merkwürdig selektiven, aber doch auch treuen Kasualienfrömmigkeit integrieren. Dieser Raum ist aber entgegen dem Verständnis, das die Kirche mit ihren sakramentalen Handlungen verbindet, nicht die konkrete vorfindliche Kirche oder gar Gemeinde. Das verstört zwar die konkrete Kirche verständlicherweise, kann aber nicht überraschen, schließlich bleiben die Kasualienfrommen diesem Raum ja normalerweise bewusst und also aus subjektiv guten Gründen fern.
Der Raum, in den hinein sich die Kasualienfrommen mit ihrer Partizipation an kirchlichen Sakramenten und Sakramentalien begeben, ist nicht die Gemeinde, ist nicht die Kirche, ist vielmehr die Welt überhaupt, der Kosmos, ist die Normativität (ihrer) „normalen“ Existenz.
Der Welt, wie sie den IP als ‚gegeben‘ entgegenkommt, wird grundsätzlich positive, zumindest aber lebensrelevante Bedeutung beigemessen. Auch wenn in den Interviews freilich verschiedene Bedeutungsinhalte genannt werden, wird der ‚gegebenen‘ Welt doch eine gewisse ‚Normativität‘ zugestanden (‚Was ist, gilt!‘). In Frage kommen etwa bestehende Gesellschaftsstrukturen und -bereiche, Sinnangebote, Kasualien u. a. Vieles wird nicht zur Disposition gestellt oder erst selbst entworfen. Der Satz „das gehört dazu“ bezieht sich auf dieses Welt- bzw. Lebensverständnis. Er steht für die Vorgehensweise, eigene Handlungsorientierungen in die bestehende, gültige Welt einzuordnen. Mit diesem Einordnungsprozess wird dem eigenen Handeln dann jene Normativität zugeschrieben, welche die Welt als Gegebene im persönlichen Weltverständnis vorgängig besitzt. Der Satz „Das gehört dazu“ kann somit als ‚Ausrufezeichen‘ aufgefasst werden, mit dem die IP die Gültigkeit, nicht etwa Beliebigkeit, ihres Alltagshandelns unterstreichen.55
Damit aber gilt: Die Kasualien „werden als Bestandteile einer gegebenen, gültigen Welt bzw. Gesellschaft aufgefasst, hinter die viele mit ihrem Lebensentwurf nicht zurückgehen.“56 Die „so verstandene Welt wird dann als ‚normal‘ bezeichnet“, wobei dann „Normalität“ und „Normativität“ fließend ineinander übergingen. Der Sonntagsgottesdienst hingegen, so Först, sei offenkundig „aus diesem (routinisierten) Relevanzgefüge herausgefallen“.57
Auch für die Kasualienfrommen bedeutet die Teilnahme an den kirchlichen Kasualien also Integration in einen sie übersteigenden Raum, nur ist dieser um einiges größer und umfassender als jener der „Kirchenfrommen“, wenn wir einmal jene so nennen wollen, die halbwegs regelmäßig sonntags zur Kirche gehen. Denn für diese ist es die Integration in den Sozialraum katholische Kirche, wenn natürlich auch dieser Sozialraum einen ihn übersteigenden religiösen Anspruch kommuniziert. Für die Kasualienfrommen aber ist es die ganze Welt, besser ihre ganze Welt mit ihrer „normalen Normativität“ oder auch „normativen Normalität“, sind es zuletzt „Kosmos“ und „Gesellschaft“, in die hinein sie sich mit Hilfe der Kasualien integrieren: bewusst, halbbewusst oder mehr oder weniger unbewusst.
Das „dazu“ im Munde der Kirchenfrommen bezieht sich somit auf etwas anderes als jenes im Munde der Kasualienfrommen. Für diese referiert das „dazu“ auf die Normalität ihrer Existenz. Hart an der Grenze zur Selbstreferenz bezieht sich das „dazu“ auf die eigene, zwar als gefährdet wahrgenommene, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellte Existenz, die religiös-rituell gefestigt wird. Das „Das gehört einfach dazu“ der Kasualienfrommen besitzt somit einen enormen affirmativen Gehalt.
Das „dazu“ im Munde der Kirchenfrommen hingegen referiert stärker auf den kirchlichen Sozialraum, so wie es die kirchliche Verkündigung ja auch will. Ob diese Referenz dann ebenso primär affirmativen Gehalt hat wie jene der Kasualienfrommen oder doch einen eher (selbst-)kritischen, das hängt dann noch einmal von den spezifischen Sinngehalten ab, die der kirchliche Sozialraum und seine verantwortlichen Akteure jeweils bei der Spendung der Kasualien aktualisieren.
Die Teilnahme an kirchlichen Kasualien ist den Kasualienfrommen mithin Sprungbrett für einen in doppeltem Sinne extensiveren Einordnungsakt als die Integration in eine fremd gewordene und zudem in ihrer Regionalität und Begrenztheit nur allzu wahrnehmbare Kirche. Extensiver ist dieser Akt, insofern er unbestimmter, weniger intensiv und auch diffuser ist als der Integrationsakt in den vorfindlichen Sozialraum „Kirche“ und seine Konkretion „Gemeinde vor Ort“; extensiver ist er aber auch, insofern der Raum, in den man sich einordnet, größer, weiter ist, letztlich die ganze Welt der Kasualienfrommen umfasst und das in einem spezifischen Zugangsmodus: als „normative Normalität“.
Kasualienfromme integrieren sich in das, was für sie – offenbar wenig unterschieden – „die Normalität“, „die Welt“, „die Gesellschaft“ ist. Dass dies in einer „doppelten Relevanzstruktur von Bedeutung und Nicht-Thematisierung“58 geschieht, wie Först schreibt, widerspricht dem nicht, macht eher auf die durchaus subtile Struktur dieses Geschehens aufmerksam.
Idealtypisch verdichtet handelt es sich um Menschen, die sehr genau um die Prekarität, die Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens wissen. Ihre Entscheidung, an den Kasualien teilzunehmen, entwerfen sie in diesen Lebenshorizont hinein. Nicht derart, dass mit den Kasualien das Unverfügbare des Lebens aus der Welt geschafft werden könnte, doch aber so, dass es eine Perspektive eröffnet, ein riskiertes Leben hoffentlich meistern zu können.59
Der „Raum normativer Praktiken“, den die Kasualienfrommen mit der Teilnahme an den kirchlichen Feiern betreten, ist nicht der kirchliche Raum im engeren Sinne, es ist der Raum der Normalität ihres Lebens überhaupt. Alfred Dubach hat in einer Analyse des von ihm so genannten „rituellen Mitgliedschaftstyps“ die These vertreten, dass in „der Beanspruchung kirchlicher Amtshandlungen bei Lebenswenden sich eine eigenständige Form von Kirchenzugehörigkeit (äußert)“60. Diese Feststellung ist auf dem Hintergrund der vorliegenden Studie zu ergänzen. Denn so sehr sie aus der Perspektive der kirchlichen Institution zutrifft – und hier zugleich eine rein defizitorientierte Wahrnehmung der Kasualienfrommen übersteigt –, so sehr bleibt diese Feststellung doch material auf den klassischen kirchlichen Sozialraum bezogen und lässt unberücksichtigt, dass der Raum, in den hinein sich die Kasualienfrommen mit der Teilnahme an spezifischen kirchlichen Akten begeben, ein gänzlich anderer ist als jener der Kirchenfrommen.
Dies könnte im Übrigen geradezu eine partielle Rehabilitierung einer klassisch defizitorientierten Sicht der Kasualienfrommen nach sich ziehen, schließlich ist es zum einen einer Institution ohne Zweifel erst einmal freigestellt, selbst die Kriterien ihrer Mitgliedschaft zu definieren, hat eine Institution grundsätzlich das Recht, Nähe und Distanz spezifischen Verhaltens ihrer Mitglieder zu ihr selbst zu definieren. Nun hat die katholische Kirche im II. Vatikanum diese rein institutionalistische Sicht der Kirchenmitgliedschaft allerdings grundsätzlich verlassen und auf der Basis des Wissens um den universalen Heilswillen Gottes eine differenziertere und komplexere Sicht der Kirchenzugehörigkeit entwickelt. In ihr werden Nähe und Entfernung von der Kirche Jesu primär nicht institutionell, sondern vielmehr geistlich und handlungsbezogen bestimmt.61
Insofern sich aber eine Defizitanalyse eben nicht alleine auf die Mängel an kirchlicher Partizipation beziehen kann, sondern auch auf die Nähe und/oder Distanz des jeweiligen Handelns zu Sinn und Bedeutung des Evangeliums, kann, ja muss es jenseits einer partizipationsorientierten Defizitzuschreibung eine am materialen Gehalt der kirchlichen Riten orientierte kritische Konfrontation von Person und Kirche geben. Der affirmative und normalitätsstabilisierende Charakter ihres Handelns etwa ist angesichts der selbst- und fremdkritischen Stoßrichtung der christlichen Botschaft sicherlich kritikbedürftig.
Den Kasualienfrommen wird also weder gerecht, wer sie schlicht als defizitäre Kirchenfromme betrachtet, noch wird man ihnen gerecht, wenn man ihre Praxis einfachhin als eine eigenständige Form der Kirchenzugehörigkeit begreift und auf sich beruhen lässt. Die Kirche kann den Kasualienfrommen ersparen, Kirchenfromme zu werden, sie kann ihnen aber nicht ersparen, sich mit den materialen Gehalten der Riten, an denen sie teilnehmen, auseinanderzusetzen und diese mit ihrem eigenen Leben, ihrer eigenen Existenz zu konfrontieren. Dann aber scheint es notwendig, das Objekt ihres Zugehörigkeitswunsches in den Blick zu bekommen, schließlich ist es nichts Harmloses.
Die Kasualienfrommen benützen den kirchlichen Sozialraum, um mit seiner Hilfe und durch ihn hindurch in einen anderen Raum einzutreten: jenen einer gefährdeten und mit den Kasualien bestätigten „normativen Normalität“ des eigenen Lebens. Was das theologisch bedeutet, kann dem kirchlichen Sozialraum nicht gleichgültig bleiben. Nicht so sehr also, dass die Kasualienfrommen mit den Kasualien nicht in den kirchlichen Sozialraum eintreten, dprfte ein theologische Problem sein, sondern wohin sie durch ihn hindurch eintreten und wie sich dieses Wohin mit dem Gehalt der jeweiligen Kasualien verträgt.
Die Zugehörigkeitsproblematik erweist sich also als doppelt verflüssigt: theologisch, denn institutionelle Kirchenzugehörigkeit und selbst regelmäßige Kirchenpraxis vermitteln nicht schon heilsvergewissernde Kirchenzugehörigkeit, eine Zugehörigkeit zur Kirche nur dem „Leibe“ und nicht auch dem „Herzen“ nach ist im Hinblick auf das Heil, so ausdrücklich das II. Vatikanum in Lumen gentium 14, schlicht wertlos. Zum anderen aber ist das angestrebte Objekt der Zugehörigkeit für die Kasualienfrommen gar nicht die Kirche, sondern jener eher imaginäre „Raum des normativ Normalen“, in den sich die Kasualienfrommen gerade mittels der Kasualien recht selbstverständlich integriert glauben.
Wieder scheint hier jene materiale Wende der Pastoraltheologie und auch der Sakramentenpastoral geraten, die oben bereits postuliert wurde. Denn auch und selbst die Kirchenzugehörigkeitsproblematik weitet sich von einem soziologischen Fragenkomplex (Gehören sie zu uns? Wenn ja, wie und worin? Und worin nicht? etc.) zu einem theologischen, und dies gleich in zweifacher Weise. Zum einen nämlich ist auf der Basis der Kirchenzugehörigkeitslehre des II. Vatikanums diese jeweils individuell geistlich und handlungsbezogen zu bestimmen und darin zuletzt sogar ein Reservat Gottes. Zum anderen aber ist der Zugehörigkeits- und Integrationswunsch zu jenem bzw. in jenen imaginären Raum der „normativen Normalität“, den die Kasualpraxis der Kasualienfrommen aktualisiert, in seiner theologischen Wertigkeit ausgesprochen fragwürdig.
So sehr er nämlich im gewissen Sinne früherer volkskirchlicher Wirklichkeitsbejahung entspricht, so sehr kann er auch als kritiklose Affirmation der eigenen Existenz kritisiert werden, zumal auch die alte volkskirchliche „Kirche der Selbstverständlichkeit“ kritische Blicke auf die eigene Person einforderte, wie individualistisch und mit welch bisweilen verhängnisvollen Folgen konkret auch immer.62
Wohin die Kasualien die Kasualienfrommen führen, das wäre weiter zu erforschen und vor allem noch näher theologisch zu analysieren. Das alte Thema der Tradition jedenfalls, wie sich im christlichen Leben Weltaffirmation und Weltdistanz, wie sich Normalität und Exzentrizität, wie sich selbstgewisse (kirchliche) communio und kritische Selbstrelativierung etwa vor dem Anspruch des eschatologischen Gerichts63 zueinander verhalten, wäre dabei neu und im Blick auf die konkrete Funktion der Kasualien für die Kasualienfrommen zu bedenken.