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2 Sociovision hat der Kirche einen Marktlagebericht geliefert
ОглавлениеSeit Gerhard Schulzes berühmter Studie Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart20 stehen dabei lebensstilorientierte „Milieus“ im Mittelpunkt des Interesses. Deren konkreter Zuschnitt ist relativ sekundär: Bei Schulze waren es fünf solcher Milieus, bei Sociovision sind es zehn. In ihrer bildlichen Signifikanz haben sie bei allem Stereotypieverdacht nicht nur einen gehörigen Unterhaltungs-, sondern auch Erkenntniswert, nicht zuletzt, wenn man versucht, den eigenen Lebensentwurf einzuordnen.
Schon beim Bamberger Soziologen Schulze war dabei zu lernen, dass im Unterschied zu vormodern traditionalen Gesellschaften und auch zur weltanschaulich versäulten deutschen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Milieuzugehörigkeit in „Lebensstilmilieus“ von den Beteiligten grundsätzlich als selbst gewählt erfahren wird, so sehr dies dem kritischen Außenblick auch als Selbstverblendung erscheinen mag. Der methodische Ansatz der Sociovisions-Studie kombiniert nun diese Milieutheorie mit einem einfachen Dreistufenschema der sozialen Lage und gelangt so zu einer ebenso plastischen wie differenzierten Matrix, in der die „Milieus“ mit Bezeichnungen „illustrativen Charakters“21 wie „Bürgerliche Mitte“, „Traditionsverwurzelte“ oder „Konservative“ situiert sind. Deren jeweilige religiöse und kirchliche Orientierungen erhebt die vorliegende Untersuchung.
Die Ergebnisse sind für die katholische Kirche einigermaßen provokativ. Bekommt sie doch bestätigt, dass sie in der Wahrnehmung der Bevölkerung offenbar nur noch in jenen drei eben genannten Milieus, die ca. 35 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, verwurzelt ist und das noch nicht einmal langfristig stabil. In allen anderen Milieus stößt die katholische Kirche dagegen weitgehend auf Desinteresse oder gar Ablehnung: Dort glaubt man in der Kirche nicht zu finden, was man an Religion nachfragt, wenn man denn Religion nachfragt, was allerdings, vielleicht mit Ausnahme der „DDR-Nostalgischen“, bei den meisten Menschen immer noch der Fall zu sein scheint.
Mit anderen Worten: Sociovision hat der Kirche geliefert, was man von einer Marktforschungsgesellschaft erwarten kann, einen Marktlagebericht. Das ist in jeder Hinsicht konsequent, schließlich vergesellschaftet sich Religion in entwickelten modernen Gesellschaften nicht mehr in herkunftsbezogenen Schicksalsgemeinschaften, sondern zunehmend über marktgesteuerte Mechanismen.
Die Ergebnisse der Sinusstudie sind einigermaßen ernüchternd. Man braucht freilich nur die eigene kirchliche Statistik zu konsultieren, erfahrene Seelsorger und Seelsorgerinen zu befragen oder etwa die ausgesprochen instruktive, von Johannes Först und Joachim Kügler herausgegebene Studie Die unbekannte Mehrheit, Mit Taufe, Trauung und Bestattung durchs Leben22 zur Kenntnis zu nehmen, um bestätigt zu bekommen, was auch Sociovision herausgefunden hat: Mit der Marktgängigkeit der katholischen Kirche steht es hierzulande trotz eindrucksvoller diakonischer Präsenz nicht besonders gut.
Damit bestätigt sich, was in Pastoraltheologie und Religionssoziologie schon länger diskutiert wird. Die Sinusstudie pointiert aber eine Erkenntnis: Die katholische Kirche steht nicht einem, gar „dem“ modernen Milieu gegenüber, sondern einer Vielzahl unterschiedlicher Milieus mit teilweise konträren Erwartungen an sie. Schärfer noch: Die Kirche selbst ist in das Spannungsfeld differenter Milieus geraten und kann sich nur noch in wenigen Milieus wirklich vermitteln, während sie andere schon kaum mehr erreicht.
Die weltanschaulich versäulte Gesellschaft der Weimarer Zeit, katholisch auch in der Nachkriegszeit noch ausgesprochen reststabil, wurde also abgelöst von einer Gesellschaft lebensstildifferenzierter Milieus. Diesen Differenzierungsprozess konnte die Kirche aber, wie es scheint, schlicht nicht mitvollziehen, was dann als „Milieuverengung“ der Gemeinden (Michael N. Ebertz) beschrieben werden kann.