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5 Die Institution nicht mit ihrem Daseinszweck verwechseln
ОглавлениеDiese Alternativen sind für christliche Pastoral aber verheerend. Sie sind allesamt direkte Konsequenz eines latenten Institutionalismus, also der Selbstverwechslung einer Institution mit ihrem Daseinzweck. Den Institutionalismus hat die katholische Kirche aber spätestens im Zweiten Vatikanum mit seiner aufgabenbezogenen sakramentalen Sicht der Kirche auf lehramtlicher Ebene grundsätzlich überwunden. Denn es geht in der Kirche immer und überall zuerst um die kreative Präsenz des Evangeliums. Die aber gibt es weder an den Menschen vorbei, denn sie sind nicht nur externe Adressaten der Botschaft, sondern als Kinder Gottes auch ein Teil ihres Inhalts. Von ihnen her allein kann und muss das Evangelium erschlossen werden, soll es für sie nicht nur Sinn, sondern auch Bedeutung haben, von ihnen her erschließt sich diese Botschaft im Übrigen auch für die Gläubigen immer neu.
Doch der trotzige Nischenrückzug bleibt als Versuchung: Man mag uns nicht in dieser Gesellschaft, zumindest in vielen ihrer Milieus, also konzentrieren wir uns auf jene, die uns mögen, sagt man dann, konzentrieren uns auf Selbstvergewisserungsräume und distanzieren uns von den anderen. Als entwickeltes Konzept dürfte diese Strategie in der deutschen Kirche gegenwärtig wenig verbreitet sein, zu offenkundig widerspricht sie deren gesellschaftlicher Statustradition sowie, wichtiger noch, dem universalen Heilswillen Gottes, dem Missionsauftrag Jesu und dem Solidaritätsimperativ des Zweiten Vatikanums (vgl. Gaudium et spes 1). In der abgeschwächten Form eines gewissen kulturpessimistischen Gestus scheint sie mir allerdings durchaus virulent.
Stattdessen ist zu akzeptieren, dass die Vergangenheit nicht wiederkommt. Dieser Akzeptanzimperativ, nicht in einer anderen Welt leben zu können als in jener, in der man lebt, und gerade sie als Aufgabe der Kirche anzusehen, ist christlich eigentlich selbstverständlich, sozialpsychologische Mechanismen einer Institution, die sich ihrer traditionellen Machtbasis beraubt sieht, gefährden diese Akzeptanz der Realität aber immer wieder.
Weiters sollte die Kirche ihre eigene Verkündigung, ihre konkrete Sozialform und ihre Interventionen in die gesellschaftliche Wirklichkeit situations- und prozessorientiert miteinander ins Spiel bringen. Diese Prozessorientierung kirchlichen Handelns verabschiedet die Vorstellung fester institutioneller Gerüste und baut eher auf die institutionelle Phantasie, den institutionellen „Möglichkeitssinn“ des Volkes Gottes etwa im Sinne des Rahnerschen „Tutiorismus des Wagnisses“.
Kirchliche Sozialformen sind zudem, so ist immer wieder zu erinnern, kein Selbstzweck: Sie sind dazu da, evangelisatorische Probleme zu lösen, jene Probleme also, die sich ergeben, wenn man an einem konkreten Ort nach dem Sinn, vor allem aber nach der konkreten Bedeutung des Evangeliums fragt. Diese Umstellung hin zu einer vorrangigen Aufgabenorientierung und weg von der bislang herrschenden Sozialformorientierung, welche vor allem das Weiterbestehen spezifischer kirchlicher Institutionen sichern will, würde eine wirkliche Umkehr unserer bisherigen pastoral(-theologisch)en Mentalitäten und Prioritäten bedeuten.
Es geht daher nicht um die Alternative „Anpassung oder Profil“, sondern um die gemeinsame Suche nach dem, was das Evangelium für jene bedeuten könnte, die meinen, dass es für sie nichts bedeutet, wie auch um die permanente Verunsicherung jener, die scheinbar so sicher wissen, was es für sie bedeutet. Jene, die glauben, haben das Evangelium nicht als Besitz, und jene, die mit der Kirche nichts anzufangen wissen, stehen nicht jenseits des Evangeliums. Das Evangelium ist von allen in seiner Bedeutung immer neu zu entdecken. Das geschieht auch an vielen Orten. Es geht also um die Initiierung pastoraler Prozesse und um ihre stärkere Wertschätzung und Vernetzung, wo immer sie stattfinden.
Und es bleibt schließlich die Verpflichtung, auch heute „Kirche des Volkes“ zu sein. Als „Kirche der Selbstverständlichkeit“ geht die Volkskirche früherer Zeiten ihrem definitiven Ende entgegen. Es kommt aber alles darauf an, dass die Kirche ihren universalen Auftrag nicht preisgibt. Sicher: Niemand kann so einfach sein Milieu überschreiten. Es ist relativ sinnlos, von der Deutschen Bischofskonferenz mehr Buntheit, von den kleinbürgerlichen Gemeindemilieus mehr Großzügigkeit und von den liberal-konservativen katholischen Eliten weniger bildungsbürgerliche Arroganz und mehr pastorale Basisverbundenheit zu verlangen, so schön dies alles wäre.
Aber man kann verlangen, der eigenen Botschaft treu zu bleiben und also Studien wie die vorliegende als geistliche Herausforderung ernst zu nehmen. Dann aber muss man ihre Außenperspektive als mögliche Innovationsperspektive wahrnehmen, jegliche Kultur des Ressentiments übersteigen und mit Aufmerksamkeit und Anerkennung sich und die anderen im Spiegel dieser Forschungen zu erkennen suchen.
Das hat zuletzt geistliche Gründe: weil wir ohne die anderen weniger wissen, was das Evangelium heute bedeuten könnte, und weil wir weder über den Glauben, noch über die Kirche, noch gar über das Evangelium einfach so verfügen. Das tut Gott allein. In Übergangszeiten wie diesen ist es besonders wichtig, dies zu erinnern – und auszuhalten.