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EINE ALTE KIRCHE IN ZIEMLICH NEUEN ZEITEN Zu den Reaktionsmustern der katholischen Kirche auf ihre aktuelle Transformationskrise 1 Die neuen Zeiten

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„Jene neue Zeit, die schließlich gar die „Neuzeit“ schlechthin wurde, begann ironischerweise mit einer ausgesprochen postmodernen Anekdote. Als Columbus 1492 auf Land stieß, erkannte er schnell, dass es Inseln waren. Das war ja richtig. Ihr Name aber dokumentiert bis heute einen kontinentalen Irrtum des Columbus: Man nennt sie immer noch Westindische Inseln. Sie liegen aber nicht vor Indien, sondern vor Amerika. Angeblich war dies Columbus bis zu seinem Tode nicht wirklich klar.“2

Modern ist es, ein Projekt zu entwickeln, es zäh und gegen widrige Winde und Menschen durchzusetzen und mit Erfolg abzuschließen. Der ganze Wissenschaftsbetrieb und teilweise auch die Kirche werden gegenwärtig auf dieses Schema umformatiert, werden von „Habsburg“ auf „Chicago“ umgepolt.3 Columbus könnte daran erinnern, dass es bisweilen anders kommt, vor allem aber, dass man es manchmal gar nicht so schnell merkt, dass es anders gekommen ist.

Das ist die zentrale postmoderne Erkenntnis: Es wird anders kommen als geplant. Der Nationalsozialismus wollte die Weltherrschaft der Deutschen, er hat sie in ihr größtes moralisches und materielles Elend geführt. Der Kommunismus glaubte die Geschichte verstanden und die neue Zeit mit sich zu haben, hat sie aber seit 1989 hinter sich. Der liberale Westen glaubte die Religion abgekühlt zu haben, aber er hat sie mit seiner kulturellen Globalisierung an verschiedenen Stellen wieder heiß gemacht. Der Irakkrieg sollte den islamischen Fundamentalismus beseitigen, er hat ihn aber gestärkt. Die moderne Verkehrstechnologie sollte die Erde verfügbar machen, ihr CO2-Ausstoß droht sie aber in Teilen unbewohnbar werden zu lassen.

Die Zukunft wird die Folge unserer Projekte sein, aber diese Folgen werden ein wenig anders sein, als man so dachte. Auch wir entdecken neue Kontinente, aber die eigentliche Aufgabe besteht darin, zu entdecken, wo wir eigentlich gelandet sind. Die Zeiten sind so neu, dass wir noch gar nicht begriffen haben, wie neu sie sind, und eben dieses Nichtbegreifen, genauer: die Einsicht in das Nichtbegreifen stellt das Neue dar. Denn modern war man sich eines sicher: der Zukunft.

Wenn es eine postmoderne Erkenntnis gibt, dann jene, dass wir nicht die souveränen Herren der Zukunft sind, wie es die Moderne uns weismachen wollte. Der Kirche war das immer klar, aber aus einem eher zweifelhaften Grund. Sie glaubte, mit Hilfe ihres Zugangs zur Gottesmacht souveräne Herrin der Geschichte, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein. Die klassische Moderne hat sie von diesem Thron gestoßen, das ist deren bleibendes Verdienst, aber viel besser wurde es dadurch lange nicht, eher im Gegenteil. Nie floss so viel Blut wie im vergangenen „Jahrhundert des Menschen“.

Die Postmoderne glaubt daher auch nicht mehr an den Menschen, sondern an Technologien. Wir werden primär nicht über politische, also explizite und gesellschaftliche, sondern über technologische, also klandestine Umbauprozesse unterhalb der öffentlichen Bewussteinsschwelle gesteuert. Deren Konsequenzen und Verarbeitung sind den Einzelnen, ja ganzen Gesellschaften überlassen – mit individuell und gesellschaftlich ungewissem Ausgang. Das Neue an den neuen Zeiten ist also nicht, dass sie neu sind, das wäre trivial, sondern dass niemand so genau weiß, wie und worin neu. Wir sind im gewissen Sinne im Stadium des späten Columbus, der ahnte, dass er etwas anderes entdeckt hatte, als er selber gedachte hatte, aber nicht genau wusste, was.

Natürlich reagiert die katholische Kirche auf die neuen Zeiten und deren kulturelle Revolutionen. Deren verstörendste4 dürfte die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse, deren verführerischste die mediale Verflüssigung unserer Wahrnehmungs- und Symbolsysteme und deren weitreichendste die ökonomische Globalisierung sein. Die natürliche Reaktion einer konservativen Institution besteht erst einmal darin, so zu tun, als könne man diese Veränderungen überstehen, ohne sich verändern zu müssen. Es ist die klassisch konservative Versuchung zu glauben, dass sich zwar „die Welt da draußen“ verändere, aber man sich in ihr nicht, und man daher mit dieser „Welt da draußen“ von außen umgehen könne, so als ob die kulturellen Revolutionen der Gegenwart nicht auch gläubige Menschen beträfen. Genauer: Es ist die Versuchung, die Irritationen dieser Einschreibungen dadurch zu bearbeiten, dass man sie „in die Welt draußen“ externalisiert und dann kulturpessimistisch kommentiert oder auch naiv rezipiert.

Auf die Medienrevolution reagiert man dann mit der Strategie der Instrumentalisierung: so als ob die neue Medienlandschaft nicht auch schon in uns alle eingeschrieben wäre und beispielweise die religiöse Zeichenlandschaft nicht grundlegend umgebaut hätte. Auf die Globalisierung wiederum reagiert man moralisierend. Ähnlich wie schon bei früheren Durchsetzungswellen des Kapitalismus erkennt man sehr scharf und zu Recht die Opfer, die sie fordern, stellt sich auch auf ihre Seite, bleibt aber doch eher in einer klagenden Beobachterposition. Freilich, um gerecht zu sein: Hier scheint die katholische Kirche am weitesten, ist sie eine international gehörte Gesprächspartnerin. Am hilf- und ratlosesten aber reagiert sie auf das Ende des Patriarchats.5

Man kann all diesen Versuchungen nur entgehen, wenn man realisiert, dass diese Revolutionen nicht nur für andere, sondern auch für die Kirche selbst gelten und also auch für sie einen grundlegenden Wandel bedeuten. Das aber setzt die Abkehr von jeder Selbstgerechtigkeit voraus. Oder weniger moralisch ausgedrückt: Es setzt die Abkehr von der Vorstellung voraus, die katholische Kirche könne sich einfach als mächtiges Subjekt ihrer selbst begreifen.

Denn das ist sie nicht mehr. Auch die katholische Kirche wird im Leben und Denken vieler Menschen an den Rand oder darüber hinaus gedrückt, wird zu einem Randphänomen selbst im Leben vieler ihrer eigenen Mitglieder.6 Diese Marginalisierung trifft gerade die institutionsstolze katholische Kirche an einem zentralen Punkt ihrer neuzeitlichen Geschichte: ihrer institutionellen Lebensform. Spätestens seit dem Konzil von Trient hatte sich die katholische Kirche gerade über diese ihre institutionelle Lebensform definiert und das ja über lange Zeit mit einigem Erfolg. Gegenwärtig aber muss die Kirche damit umgehen, dass mit ihr umgegangen wird und dass auch ihre ehrwürdige institutionelle Tradition dies nicht verhindert. Die aktuelle Marginalisierung der Kirche deckt auf, dass sie schon lange nicht mehr ihren Ort in Gesellschaft und Kultur, Staat und Politik einfach selbst bestimmen kann. Sie ist zwar Subjekt ihrer selbst, aber eben auch Unterworfene ihrer Zeit. Sie und ihre Themen werden ihr auch von außen gesetzt, und nirgends zeigt sich dies deutlicher als dort, wo sie getroffen aufbraust.

Der zentrale religionssoziologische Hintergrundbefund hierfür dürfte sein, dass sich Religion offenbar zunehmend nach jenem Muster vergesellschaftet, nach dem in dieser Gesellschaft nun einmal immer mehr organisiert wird: Religiöse Praxis wird zunehmend nach den Regeln des Marktes organisiert. Für diese Annahme spricht nicht zuletzt, dass auf ihrer Basis die drei gegenwärtig virulentesten religionssoziologischen Thesen auf einer höheren Ebene synthetisiert werden können.

Die schon etwas ältere Säkulariserungsthese7 hält dann die schlichte Wahrheit fest, dass sich niemand auf spezifische Märkte begeben muss und dass sich tatsächlich manche gar nicht erst auf den religiösen Markt begeben. Die These von der religiösen Individualisierung8 hält dann fest, dass, wer sich aber auf den religiösen Markt begibt, auf diesem Markt zumindest grundsätzlich auch jene Freiheit behält, wie sie Kunden zusteht: Er behält sie diachron, denn er kann den Anbieter wechseln, wenn er will, und er behält sie synchron, denn er kann verschiedene Anbieter kombinieren. Und er behält die Freiheit zu wechselnder Intensität, auch das entspricht normalem Kundenverhalten.

Die Postsäkularitätsthese9 hält dann die selbst etwas verwunderliche Verwunderung fest, dass es den religiösen Markt überhaupt noch gibt, dass er doch unerwartet stabil zu sein scheint und dass mit ihm weiter zu rechnen ist, wie etwa die Zahlen des Religionsmonitor 2008 zeigen.10 Oder anders und kurz gesagt: Die Säkularisierungsthese hält die Freiheit vor dem religiösen Markt, die Individualisierungsthese die Freiheit im religiösen Markt und die Postsäkularitätsthese die Freiheit des religiösen Marktes – etwa gegenüber den mehr oder weniger Gebildeten unter seinen Verächtern – fest.

Für die Kirchen, die katholische zumal, hat diese innerhalb der Deregulierungsgeschichte Europas letztlich erstaunlich späte Deregulierung religiöser Praxis einschneidende Folgen. Es bedeutet schlicht: Religion wird nicht mehr im kirchlichen Dispositiv vergesellschaftet, das Religion in Konzepten von exklusiver Mitgliedschaft, lebenslanger Gefolgschaft und umfassender religiöser Biografiemacht organisierte.

Es herrscht auch nicht mehr das aufklärerische Dispositiv des Religiösen, das sich an der Konsistenz religiöser Praxis und religiöser Inhalte vor der Vernunft abarbeitete und von dieser Konsistenz her Religion beurteilte, manchmal auch verurteilte. „Der Problemhorizont religiösen Erlebens ist die individuelle Lebensführung“,11 so der Münchener Soziologe Armin Nassehi in seiner Auswertung des Religionsmonitors 2008. Die für den Religionsmonitor geführten Interviews folgen daher auch „zum größten Teil nicht jener bürgerlichen Erwartung an Konsistenz und konfessionelle Eindeutigkeit der religiösen Selbstbeschreibung.“12 Was herrscht kann man vielleicht am ehesten als autologisches Dispositiv bezeichnen, als Organisation und Praxis von individueller Religion nach dem, durchaus nicht beliebigen und trivialen, aber stets individuellen biografischen Bedürfnis. Das folgt einer eigenen Logik, der Logik der prekären Lebensbewältigung auch mit Hilfe von Religion.

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