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Das leidige Ritual an Weihnachten

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Mein Vater holte Ehefrau und Kinder im Jahr 1959 nach Meßkirch, er arbeitete dort bereits seit Februar 1956. Meine Familie zog also um, von St. Georgen nach Meßkirch aufs sogenannte Land zu den Bauern. So empfanden das meine Mutter und ich damals, meine kleine Schwester Ursel war noch zu klein, sie war gerade mal ein Jahr alt, und konnte sich deshalb unserer Einschätzung noch nicht anschließen.

Der ausschlaggebende Grund für den Umzug war, dass mein Vater seit geraumer Zeit das Dual-Zweigwerk in Meßkirch leitete. Er war Betriebsleiter geworden. Seit dem Umzug hießen wir in der Familie nur noch „die Meßkircher“.

Am ersten Weihnachtsfeiertag fuhren die Meßkircher immer nach St. Georgen in den verschneiten Schwarzwald und feierten dort zusammen mit der ganzen Familie Weihnachten, abends im Doppelhaus mit den Schindeln, im Haus von meinem Opa Johann in der Gartenstraße 7. Die Stimmung an Weihnachten war immer gut.

Ich möchte schon fast sagen, für Schwarzwälder Verhältnisse sogar mit einem leichten Anflug von ungewohnter Ausgelassenheit versehen. Vielleicht hing es auch damit zusammen, dass fast alle anwesenden Verwandten entweder direkt oder indirekt etwas mit der gleichen Firma zu tun hatten. Opa Johann, mein Vater Helmut, mein Cousin Dieter, meine Onkel Heiner und Johannes. Alle waren langjährige und treue Dual-Mitarbeiter. Sie wussten dann auch immer viel zu erzählen. Sie führten heiße und intensive Diskussionen und Debatten. Thematisiert wurden dabei Probleme wie, warum es gerade Stress in der Stanzerei gibt, sie sondierten diverse Verbesserungsvorschläge für gerade angeschaffte Automaten für die Plattenteller-Fertigung und neu implementierte Fertigungsabläufe wurden kritisch unter die Lupe genommen. Sie stellten neu geplante Entwicklungsvorhaben vor, ergossen sich auch in Tratsch und stritten beispielsweise darüber, wann der Herr Siegfried was gesagt haben soll und dass sein Bruder Oskar wieder einen Buchhalter beim Nichtsparen erwischt haben soll und vieles andere mehr.

Es war halt ihre Firma und eigentlich auch fast das Wichtigste in ihrem Leben. Sie gingen einfach in Dual auf. Die Gemüter erregten sich im Laufe des Abends immer mehr und nach jedem weißen Viertele, Rotwein wurde nicht getrunken, erlebte die Stimmung einen weiteren Aufschwung. Es wurde noch ausgelassener, die Gesichter wurden rot und röter. Die Redebeiträge hitziger. Sie schienen die Zeit vergessen zu haben. Das “Dual-Meeting“ drängte die Weihnachtsfeier regelrecht ins Abseits.

Die Ehefrauen zwangen sich, ihren Männern zumindest ein wenig Beachtung zu schenken und zuzuhören, „heuchelten“ auch anteilnehmendes Interesse und dachten dabei aber im Stillen: „Könnt ihr diesen Mist nicht in der Fabrik miteinander bereden“.

Schlussendlich doch resignierend wanderten sie dann, besser gesagt flüchteten sie zum Abwasch in die Küche. Wir, die Kinder, legten uns, meistens so gegen 21 Uhr, aufs Sofa, welches in der Nähe der heißen grünen Kachelofenwand im Wohnzimmer stand. Genossen die wollige Ofenwärme und versuchten die Langeweile durch Schlaf zu ersetzen. Irgendwann war dann, so gegen Mitternacht, das Dual - Thema zu Ende, alle hatten alles vorgebracht und alle waren jetzt so richtig leer, aber glücklich und mit sich und mit ihrer Firma zufrieden, ihr „Lebenswerk“ auf gutem Wege wissend.

Sie waren stolz auf sich, sie, die heimlichen Helden der Dual-Familie. Der Wein hatte die Dual-Helden aber auch müde gemacht, der Zigarrenqualm hatte eine leichte Nebelschicht über das Wohnzimmer gelegt, der Kachelofen war auch müde und hatte sich schon merklich abgekühlt, es war halt schon sehr spät am ersten Weihnachtsfeiertag.

Mein Vater Helmut fasste dann plötzlich und völlig unerwartet den „spontanen“ Entschluss, jetzt fahren wir zurück nach Meßkirch. So einfach war das aber nicht umzusetzen. Es war fast Mitternacht. Es schneite auch nicht mehr so heftig, wie es noch ein paar Stunden zuvor der Fall gewesen war, aber es war doch so viel an Neuschnee heruntergekommen, so dass zuerst noch unser Auto freigeschaufelt werden musste.

Es war ein wunderbarer Pulverschnee. Man muss wissen, die Gartenstraße war in St. Georgen früher als „Schneeloch“ bekannt. Ja und dann „zitterten“ wir mit dem Auto von St. Georgen, über glatte und verschneite Straßen, zurück nach Meßkirch. Ohne Rutschpartie oder einem kleinen Dreher schafften wir es meistens nicht. Einen Vorteil gab es allerdings damals, die Autos hatten Spikes auf den Winterreifen. Mein Vater schaute während der Heimfahrt zufrieden drein, nicht, weil er ans Christkind dachte, sondern weil er sich stundenlang im Kreis Gleichgesinnter über Dual hat auslassen können. Alle anderen im Auto „guckten“ dagegen leicht zornig und wütend, weil wir nicht früher losgefahren waren, bei dem Wetter.

Und das ging so viele Jahre weiter. Es war unser Weihnachtsritual. Im nach hinein muss ich aber sagen, es war aber doch recht schön und die Erinnerung daran bleibt bis heute bei mir lebendig, aber auch die Erinnerung an die ganz besondere Firma, welche das Arbeitsleben meiner Familie geprägt hat.

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