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Noda

Gnadenlos um Punkt 7 Uhr schrillte das Telefon. „Xipniste, parakalo! Stehen sie auf, bitte!“, riss mich der Portier aus meinem Schlaf. Ich hatte SIE gesehen, das war direkt zu einer „Lieblingserinnerung“ von mir geworden. Wie immer hatte ich meine Probleme, in die Gegenwart zurückzufinden. Ich taumelte mehr ins Bad und duschte kalt, um ins Leben zurückzukommen. Anschließend bereitete ich alles vor zur Abreise und ging nach unten zum Frühstück. Diesmal war es genauso reichhaltig, wie ich es mir wünschte. Die „Jajoula“ war aber nirgendwo zu sehen.

Wie bereits am Tag zuvor beendete das Hupen des Reisebusses mein Frühstück. Diesmal machte die Reiseleiterin ein etwas fröhlicheres Gesicht. „Gute und schlechte Nachrichten habe ich für sie. Die Gute ist, die Fähren fahren wieder. Die Schlechte ist, dass wir damit rechnen müssen, dass nicht alle auf einmal mitkommen, wir haben etlichen Rückstau auf der Insel. Aber wir fahren jetzt zum Hafen und schauen einmal, was geht.“ So stiegen wir ein und sagten dem Hotel Amaryllis Auf Wiedersehen.

Schon auf dem Weg zum Hafen konnten wir erahnen, was dort los war. Wir steckten fest, in einem fast endlosen Stau an Reisebussen, Lkws und privaten Pkws. Der Fahrplan war sowieso zu einer reinen Absichtserklärung geworden. Die Fähren, die im Hafen festgemacht hatten, waren restlos überladen. Die nächsten Fähren warteten schon weiter draußen auf einen frei werdenden Anlegeplatz. Dazwischen tummelten sich die Fischerboote der Santoriner und von einigen benachbarten Inseln, die ebenfalls im Getümmel mitmischten.

Das Chaos war perfekt. Wir hatten es vorgezogen, unseren Bus zu verlassen und die restlichen Meter zu Fuß zurückzulegen. Wir waren nicht die Einzigsten, die sich ins Gewühl stürzten und zu Fuß unterwegs waren. Die Busse, die ganz unten standen, konnten in der Menschenmasse nicht drehen. So waren sämtliche Fahrzeuge eingekeilt. Nichts ging mehr. Endlich legte die erste Fähre ab, bedrohlich zur Seite geneigt. Jeder deutsche Verkehrs-Sicherheitsexperte hätte einen Herzanfall bekommen.

Jetzt war der Weg frei für eine der wartenden Fähren zum Anlegen. Aber falsch gedacht, wenn man angenommen hätte, dies würde die Situation entspannen. Die wartende Menge strömte auf die sich öffnende Ladeluke zu. Eigentlich wusste keiner so richtig, welche Fähre wohin fuhr. Aber das schien egal. Doch zunächst waren ja auch wartende Passagiere an Bord, die an Land wollten. Ebenso weitere Lastwagen und andere Fahrzeuge. Wie zwei aufeinanderprallende Wogen bewegten sich die Massen gegeneinander. Und schon war das eine oder andere Handgemenge im Gange.

Ich hatte mich vorsichtigerweise etwas abseits gehalten. Irgendwo in der Menge hielt ein verzweifelter Angestellter der Fährgesellschaft ein Schild mit der Aufschrift „Karpathos“ hoch. Also war das wohl nicht die Fähre nach Ios. Das konnte unter diesen Umständen auch noch dauern. Es würde wohl besser sein, sich in eine der kleinen Snack-Bars zu setzen und abzuwarten.

Ich orderte ein Glas Retsina und einen Teller Zaziki mit Oliven und amüsierte mich über dieses blanke Chaos. „Treli oli! Alles Verrückte!“, kommentierte der Wirt das Hauen und Stechen. Er würde allerdings heute den besten Umsatz des Jahres machen, da war ich mir sicher.

Irgendwann war der Bauch der Fähre frisch gefüllt mit Fahrgästen. Nach wie vor warteten genügend weitere Passagiere an der Mole, die unbedingt mitfahren wollten. Aber die Ladeklappe schloss sich unwiederbringlich. Böse Rufe hallten ihr hinterher. Wie ich von meinem etwas erhöhten Platz sehen konnte, hatten sogar drei Männer Anstalten gemacht, einen Fischerkahn zu entern.

Ein paar Meter von mir entfernt war wohl der Besitzer ebenfalls bei einem Ouzo gesessen. Jetzt war er aufgesprungen und stürmte durch die wartende Menge zu seinem Boot. Er war mir nicht weiter aufgefallen, als er in seiner Ecke saß. Aber als er mit seiner hünenhaften Gestalt an mir vorbeistürmte, konnte ich ihn ziemlich genau sehen. Ich hatte so eine Ahnung, sprang auf und hinter ihm her. Er war aber mindestens zwei Köpfe größer als ich und schaufelte sich durch die Menge einen Weg, indem er mit seinen riesigen Händen wie Windmühlenflügel arbeitete. Er war mit deutlichem Vorsprung vor mir an seinem Boot angekommen, während ich kaum noch vorwärtskam. Die Schneise, die er gepflügt hatte, schloss sich vor mir.

Die drei Männer hatten ihre Koffer schon an Deck abgestellt, und zwei waren schon an Bord gegangen. Der Dritte kam jetzt auf den Eigentümer zu. Bruchstückweise konnte ich hören, dass sie ebenfalls nach Ios wollten und beschlossen hatten, dass er sie dorthin bringen soll. Ich kam langsam näher und konnte die Unterhaltung genauer verstehen. Original wurde sie in Englisch geführt.

„Runter von meinem Boot!“, forderte er sie auf.

„Stell dich nicht so an, du kriegst ein paar Drachmen von uns und dann schipperst du uns rüber nach Ios!“

„Ich habe Besseres zu tun, als besoffene Touristen zu befördern.“ Er baute sich bedrohlich vor dem Wortführer auf. Die beiden anderen machten keine Anstalten, das Boot zu verlassen. „Zum letzten Mal, runter oder ich hol euch!“

Ohne weitere Vorwarnung holte der erste Pirat aus und wollte dem Bootseigner einen Kinnhaken versetzen. Mühelos wich der aber aus und fing die Faust am Handgelenk ab. Eine kurze Drehung, und schon hatte er ihm den Arm auf den Rücken gebogen. Mit einem kräftigen Tritt in den Allerwertesten beförderte er ihn mit dem Schädel gegen ein Verkehrsschild. Reglos blieb er liegen. Dann stapfte der Kapitän an Bord und trotz heftiger Gegenwehr schnappte er die beiden anderen am Kragen. In hohem Bogen landeten sie klatschend im Wasser. Prustend tauchten sie wieder auf, nur um zuzusehen, wie ihre Koffer an Land flogen und sich durch die Wucht des Aufpralls öffneten.

Ich betrat die Planke zum Boot. Sie knarrte etwas. Von dem Geräusch aufgeschreckt fuhr der wütende Riese herum und kam schnell auf mich zu.

„Ist noch Platz für einen Passagier nach Ios?“, fragte ich ihn grinsend. Verdutzt blickte er mich an und blieb stehen. Dann huschte ein erkennendes Lächeln über sein Gesicht.

„Felix, File mou! Felix, mein Freund!“ „Hallo Noda!“, antwortete ich ihm. Er fiel mir um den Hals, soll heißen, er quetschte mich an seine Brust, dass ich glaubte, ich hätte alle Rippen gebrochen.

„Was machst du auf Santorin?“

„Das wollte ich dich auch fragen. Eigentlich will ich nach Ios zum Urlaub machen, aber scheinbar hat der Meltemi etwas dagegen.“

„Ich freue mich, dich wieder zu sehen! Wie lange ist das her?“, wollte er wissen.

„Nun, genau sieben Jahre. Ich will zwei Wochen bei Euch bleiben!“

„Kala, kala. Gut, gut!“, freute er sich. „Aber natürlich kommst du mit mir! Wir holen dein Gepäck!“, forderte er mich auf. Wir gingen zur Taverne zurück, wo meine Koffer noch standen. Ich bezahlte und folgte Noda. Er hatte keine Probleme, Platz zu bekommen. Viele hatten die Aktion mitbekommen und hatten keine Lust, ebenfalls im Hafenbecken zu landen. Auch die Möchtegern-Piraten hatten inzwischen das Weite gesucht.

Er machte die Tampen los, und schon verließen wir das immer noch tobende Tohuwabohu. Noda hatte einen Motorsegler, mit dem er immer zum Fischen fuhr. Er war ein typischer Grieche, wie man ihn sich im Film vorstellte. Eine Art Alexis Sorbas, nur jünger und größer, aber den gleichen schelmischen Gesichtsausdruck. Ich hatte ihn zuerst nicht erkannt. Als ich ihn vor sieben Jahren kennengelernt hatte, war er frisch rasiert. Jetzt hatte er einen dichten, schwarzen Bart mit einigen grauen Haaren darin, die ihn etwas reifer als seine tatsächlichen 37 Jahre machten.

„Was machst du hier auf Ios?“, wollte er wissen.

„Noch bin ich nicht da, aber ich will eigentlich nur meine Ruhe und ausspannen.“

Er lachte dröhnend mit seiner tiefen Stimme. „Und da fährst du ausgerechnet nach Ios? Es ist wirklich lange her, dass du da warst.“ Er musste sich jetzt darauf konzentrieren, den entgegenkommenden Fähren auszuweichen. Ich verstand nicht ganz, was er meinte, aber im Moment fesselte mich der Anblick des Kraterinneren. Die Farben in dem senkrecht hoch aufsteigenden Vulkanrand waren unbeschreiblich. Im Zentrum des Kraters waren in jüngerer Zeit zwei neue Vulkaninseln aus dem Meer emporgestiegen, die stinkende Schwefelgase ausstießen. Die rauchenden, tiefschwarzen Massen hatten ihnen den Namen Palea- und Nea-Kameni eingebracht, die „alte und neue Verbrannte“.

Das Meer war immer noch unruhig, besonders als wir durch den schmalen Isthmus aufs offene Meer steuerten. Ich musste mich gut festhalten.

„Warst du fischen, Noda?“

„Auf Santorin? Nein, ich hab den Bauch voll Wein, in meinem Schiff, meine ich.“

„Hast du so großen Durst?“ „Das auch, aber ich habe eine 24-Stunden-Bar am Strand aufgemacht. Das bringt mehr ein als das Fischen. Die Ägäis ist fast leergefischt. Das verdammte Dynamit!“

Er grinste und zeigte mir seine linke Hand, an der ein Finger fehlte. In dieser Region war es bis in die achtziger Jahre üblich gewesen, eine Dynamit-Ladung über dem Wasser zu zünden. Die Druckwelle brachte die Schwimmblase der Fische zum Platzen und sie trieben nach oben, an die Meeresoberfläche. Dort brauchten sie nur noch eingesammelt werden. Damit wurde auch die jüngere Brut vernichtet. Damit war bald das Meer leergefischt und die Fischer hatten sich selbst die eigene Grundlage ihrer Existenz entzogen. Als ich das erste Mal auf Ios war, hatte ich noch nicht viel von den Problemen bemerkt, die die Fischer hatten. Aber da war ich auch fremd gewesen und konnte die Landessprache nicht. Noda hatte mir damals geholfen, die felsige Hafeneinfahrt zu meistern. Ich hatte Gegenwind und musste ständig kreuzen. Er nahm mich damals kurzerhand in Schlepptau und verhinderte damit eine mittlere Katastrophe oder eine größere Menge Kleinholz.

So waren wir Freunde geworden. Und jetzt schipperten wir über das Meer Richtung Ios. Ich freute mich wahnsinnig, die kleine Insel wiederzusehen. Wir unterhielten uns in einer Mischung aus Englisch und Griechisch.

„Kannst du denn von einer Bar hier leben? So viele Schiffbrüchige verirren sich doch nicht nach Ios.“

„Da irrst du. Auch wir sind vom Tourismus erfasst worden. Die Chora, unser Hauptort, besteht fast nur noch aus Bars, Hotels und Discos. Aber es gibt noch einige ruhige Ecken. Wo hast du denn gebucht?“

„Pension Glaros. Direkt am Strand. Hat mich auch gewundert. Als ich damals hier war, gab es lediglich eine einzige Taverne im Hafen.“

Noda schien etwas beruhigt. „Na, da bist du nicht weit weg von meiner Bar. Aber schau es dir halt selbst an.“ Er setzte die Segel und ich übernahm kurz das Ruder. Der Wind stand günstig und wir machten schnelle Fahrt. Er konnte den Dieselmotor schonen und schaltete ihn ab. In der Ägäis zu segeln war das Schönste, was ich mir vorstellen konnte. Nodas Schiff hatte zwar nicht die Eleganz einer Yacht, aber das Knarren des Holzrumpfes, das rauschende Wasser am Bug und das Singen des Windes in den Tauen und Segeln war Musik in meinen Ohren. Schneller als mir lieb war, tauchte Ios östlich von uns auf. Wir segelten an der Küste entlang, bis wir die schmale Einfahrt sahen.

Ich übernahm erneut das Ruder, während Noda mit geübter Hand die Segel barg. Dann startete er wieder den Diesel und steuerte durch die Enge, die sich bald zu einem natürlichen Hafenbecken erweiterte. Steuerbord, also rechter Hand, befand sich der befestigte Teil des Hafens, den wir ansteuerten. Vorbei an der Kirche der Agia Katherini, die schneeweiß im typischen Kykladenstil gebaut war. Weiter oben auf einer Anhöhe befand sich die Chora, die Hauptstadt. Blau hoben sich die Kuppeln von mehreren Kirchen von den weißen Häusern ab. Die Kykladenbewohner waren alle sehr gläubig. Die Religion spielte eine große Rolle in ihrem Leben.

Das hielt sie aber nicht davon ab, den Touristen Geld abzunehmen. Das war auf Ios nicht anders. Im Laufe der Jahre hatten sich doch einige Tavernen und Hotels angesammelt, die noch nicht existierten, als ich damals hier war. Mit ruhiger Hand steuerte Noda das Boot an den Anleger und machte fest. Mit etwas Unbehagen merkte ich, dass am Fährbereich fast genau soviel los war wie auf Santorin. Viele Rucksacktouristen waren dabei. Noda begann gleich, das Boot zu entladen. Er holte einen kleinen Transporter von seinem Parkplatz. Ich half dabei, die Kisten mit Wein zu entladen und wie selbstverständlich lud er meine Koffer auf. Am Fähranleger hielt er Ausschau nach meinem Vermieter, der mich ja dort erwartete. Wir konnten niemanden entdecken und fuhren an der Uferstraße entlang direkt ins Hotel. Keine fünfhundert Meter entfernt waren wir schon da. Das „Glaros“, was soviel wie Möwe heißt, war ein kleines, familiär geführtes Hotel. Der Besitzer war an der Rezeption und begrüßte mich einigermaßen überrascht.

„Apo pou irthate? Von wo sind sie gekommen?“ „Me ton Noda! Mit Noda! Apo tin Santorini! Von Santorin!“ Ein weiterer Wortschwall kam aus seinem Mund, da er jetzt annahm, ich würde perfekt die Landessprache beherrschen. Ich musste ihn aber enttäuschen und bremsen.

„Sigá, sigá. Langsam, langsam. Thora mathemo. Ich lerne noch.“ Aber die Worte „Schlüssel“ und „Zimmernummer“ hatte ich verstanden und ging zu meiner Unterkunft. Statt in einem großen Klotz war das Hotel in kleinen Würfeln gebaut. Jeder Würfel bestand aus vier Zimmern, jeweils mit einem kleinen Balkon davor. Es hatte etwas von einer Puppenstube. Zwischen den einzelnen Würfeln waren die Wege mit Kalkplatten verlegt und rechts und links mit Oleander und Palmen begrenzt. Vom Treiben am Hafen war ich weit genug weg, um meine Ruhe zu haben. Aber von der Terrasse des Hotels konnte man die ganze Bucht und den Strand beobachten. Das tat ich dann auch gleich, nachdem ich meine Koffer verstaut hatte.

Der Meltemi hatte sich soweit beruhigt, dass man ohne Windschutz sitzen konnte. Der Strand war aber nicht so voll, zum Baden war es wohl doch etwas zu kühl, wenn man nass aus dem Wasser kam. Einige Surfer hatten den Kampf mit dem Wind aufgenommen. Ihnen war die Brise hochwillkommen. Ihre bunten Segel schossen durchs Wasser, dass es eine Freude war. Gleich morgen würde ich es auch probieren. Als „fortgeschrittener Anfänger“ war mir eine schwächere Brise vollkommen ausreichend. Aber das geschlossene Rund der Bucht wirkte auf mich vertrauenerweckend, ich würde nicht gleich verloren gehen und vielleicht auf Kreta angespült werden. Stundenlang hätte ich hier sitzen können.

Das Rauschen der Wellen im Sand, das ewige Spiel des Wassers gegen den Strand und der Wechsel der Farben von dunklem Grün über helles Blau bis zum Weiß der auflaufenden Gischt wirkten so beruhigend auf mich. Alle Last der vergangenen Reise fiel von mir ab. Ich spürte, wie die Gegenwart langsam verschwamm. Ich ließ es geschehen. Auch die Geräusche des Meeres wurden leiser. Ich konnte das Klopfen von Metall auf Stein hören. Das Wasser verschwand und wich einer steinernen Wüste. Ich war wieder am Nil ...

Regen am Nil

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