Читать книгу Regen am Nil - Rainer Kilian - Страница 15

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Nacht in der Wüste

Senenmut konnte es kaum fassen. Er bearbeitete den brüchig gewordenen Stein mit einem Meißel. Es war doch schwieriger, als es aussah. Aber nach dem er zuerst an dem abgestürzten Felsen geübt hatte, gelang es ihm recht gut, die verblassten Ornamente und Reliefs zu vertiefen. Er musste sich konzentrieren, was ihm sehr schwer fiel. Er hielt kurz inne und dachte über das Erlebte nach, das ihm heute passiert war.

Er war am Morgen wie gewohnt in den Amun-Tempel gegangen, um seine Arbeiten zu verrichten. Aber Hapuseneb kam ihm entgegen.

„Senenmut, du wolltest doch die Stätte deiner Familie erneuern. Ich gewähre dir die Zeit, die du brauchst. Wir haben heute nur wenig Arbeit.“

„Aber du hast mir doch vor Kurzem gesagt, das du alle zur Verfügung stehenden Schreiber brauchst, um die Begräbnisse unserer Krieger aus Mitanni zu organisieren.“

„Das stimmt auch. Aber wir haben den größten Teil ihrer Körper bereits gereinigt und in die Salzerde gelegt. Die Zeit wird das ihre tun und wir müssen abwarten. Du kannst also so lange bleiben, wie du brauchst. Ich denke, einem Priester des Amun würde es schlecht anstehen, wenn er seinen Vorfahren nicht die gebührende Ehre erweist.“

Es konnte Senenmut nur recht sein, wenn er vorübergehend von seinen Pflichten entbunden war. Aber etwas seltsam kam es ihm doch vor.

„Du bist doch zufrieden mit meiner Arbeit? Oder nicht?“, versicherte er sich.

„Mehr als das, glaube mir“, beruhigte Hapuseneb ihn. „Bevor das Talfest beginnt, müssen wir viel vorbereiten. Wir erwarten den Pharao. Er kommt zurück aus Mitanni. Also ist es mir lieber, du erledigst die Arbeit für deine Familie jetzt und stehst später ganz zur Verfügung.“

Das erschien Senenmut logisch. „Ich danke dir, Hapuseneb. Ich werde mich beeilen. Es wird am besten sein, wenn ich solange auf dem westlichen Ufer bleibe. Ich denke, in sechs bis sieben Tagen habe ich alles fertig.“

„Ich habe damit gerechnet, dass du dort bleibst. Darum habe ich Anweisung gegeben, dass dir Nef-Sobek, der Verwalter der Kornspeicher, soviel Vorräte gibt, wie du benötigst. Außerdem wartet ein Ochsengespann mit allem Gerät, das du brauchst, am anderen Ufer.“ Senenmut war überrascht, aber dankbar für diese mehr als großzügige Geste Hapusenebs und machte sich auf den Weg zu den Kornspeichern.

Nef-Sobek war ein älterer Mann, der nur schwer zu verstehen war, da ihm bereits mehrere Zähne fehlten. Er schien auf einem Auge erblindet. Im genauen Gegensatz dazu schienen seine Gewänder nagelneu zu sein. Sie waren reich bestickt und mit goldenen Fäden verziert. Senenmut war aber nicht besonders verwundert darüber, war es doch eine verantwortungsvolle Aufgabe. Die Kornkammern waren der Grundstein für den Wohlstand Ägyptens. Sie garantierten auch in schlechten Jahren, wenn das Wasser des Nils gering war und der fruchtbare Schlamm ausblieb, dass niemand hungern musste.

„Was willst du?“, raunzte er Senenmut an, der ihn beim Studium von Papyrus gestört hatte. Tief gebeugt hatte er sich mit einem Auge über dem Brief befunden. Seine Nase hatte die Hieroglyphen fast berührt und Senenmut zweifelte daran, ob er überhaupt etwas erkannte.

„Hapuseneb schickt mich um Vorräte zu dir. Ich brauche Brote, Fleisch und Bier für fünf Tage.“

Der Alte wehrte ab. „Das ist nicht möglich. Die Kornspeicher sind fast leer. Ich gewähre dir Brote für zwei Tage. Mehr gibt es nicht!“

Senenmut runzelte die Stirn. „Das kann ich kaum glauben. Wir haben zwei große Kornspeicher im Amun-Tempel. Die letzte Ernte war reichlich, weil der Nil hoch war. Und jetzt sollen die Speicher leer sein? Bis zur nächsten Ernte ist es noch einige Zeit.“

„Das weiß ich auch“, brummelte Nef-Sobek. „Nimm dir den Vorrat für zwei Tage oder lass es bleiben.“ Senenmut hatte weder Zeit noch Lust für eine Diskussion mit diesem starrsinnigen Alten. Also nahm er den angebotenen Vorrat und ging. Den Rest würde er sich später bei seiner Familie besorgen. Er setzte zum anderen Ufer des Nils über und wie von Hapuseneb zugesagt, stand alles bereit für ihn.

Jetzt saß er auf der kleinen Terrasse seiner Ahnenstätte, betrachtete die halb fertigen Reliefs und überlegte, was es wohl mit dem leeren Kornspeicher auf sich hatte. Der Krieg gegen die Mitanni hatte nichts damit zu tun. Die Soldaten verpflegten sich dort, wo sie waren. Also musste das Korn woanders sein. Er würde Hapuseneb berichten, wenn er zurückkehrte.

„Ich dachte, du arbeitest?“ Senenmut schreckte hoch. Hatschepsut war hinter ihm. Er drehte sich zu ihr um.

„Statt dessen träumst du am helllichten Tag vor dich hin?!“

Senenmut war freudig überrascht. „Ich habe nicht einmal bemerkt, dass jemand den Weg heraufkam.“

„Ich bin ja auch sehr vorsichtig nach oben gegangen, manchmal kommen einem hier große Steine entgegen ...“ Sie blickte auf die Reliefs. „Ich sehe, du warst doch schon fleißig. Ist dieser Entwurf von dir?“

„Nicht ganz“, erklärte Senenmut. „Ich habe sie nur erweitert.“ Er deutete auf ein Relief, das eine Kobra darstellte. „Das ist von mir.“

„Ich sehe, du hast Talent. Vielleicht kannst du irgendwann einmal einen Tempel für mich bauen!“, schmunzelte sie.

„Alles würde ich tun, um dir nahe zu sein", dachte Senenmut bei sich.

Er konnte kaum den Blick von ihr lassen. „Du starrst mich an, als wäre ich Osiris selbst. Was ist mit dir? Freust du dich nicht, mich zu sehen?“

„Doch, natürlich“, bekannte Senenmut. „Aber heute war ein seltsamer Tag. Eigentlich müsste ich im Tempel arbeiten. Dort gibt es viel zu tun. Aber Hapuseneb hat mich freigestellt, damit ich vor dem Talfest fertig werde. Aber wieso weißt DU, dass ich jetzt schon hier bin?“, stutzte er.

„Sagen wir einmal, die Götter haben es mir zugeflüstert. Aber wenn du dich noch an gestern entsinnst, habe ich dich gebeten, mir die alten Schriften zu deuten. Willst du immer noch meinen Vater um Erlaubnis bitten?“, lächelte sie ihn an.

„Nein, ich glaube nicht. Aber es wird mir eine Ehre sein, dir zu dienen.“

„Um der Götter Willen, lass das Dienen sein. Ich habe genug Diener im Palast. Ich möchte mich mit einem Menschen unterhalten, der nicht ständig aus Respekt fünf Ellen Abstand hält!“

„Nichts lieber als das“, dachte Senenmut. „Also gut“, sprach er zu ihr. „So sei es. Wenn ich hier fertig bin, werden wir anfangen.“

„Das ist mir sehr recht. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, damit du dein Werk vollenden kannst.“

Mit einem Mal kam Senenmut ein Verdacht, warum Hapuseneb so freigebig gewesen war. „Hast du etwa dafür gesorgt, dass ich nicht im Tempel arbeiten muss?“

Hatschepsut errötete leicht. „Sagen wir, ich habe Hapuseneb um einen Gefallen gebeten.“

„Den er einer Prinzessin natürlich nicht abschlagen kann“, folgerte Senenmut.

„Das ist richtig.“

„Ich bin dir dankbar dafür, aber ich glaube, dass es Hapuseneb bestimmt nicht leicht fiel. Ich werde mich umso mehr beeilen, damit ich meine Arbeit im Tempel tun kann“, bedankte er sich. „Die Vorräte und das Werkzeug waren also auch deine Idee?“, schloss er.

„Auch das! Aber siehe es so. Je besser du ausgerüstet bist, umso schneller stehst du mir als Lehrer zur Verfügung. Und wenn du genug zu essen hast, kannst du gestärkt ans Werk gehen.“

„So selbstlos warst du ja gar nicht. Leider ging deine Rechnung nicht ganz auf.“ Er erzählte ihr von den angeblich geleerten Kornspeichern.

„Ich kenne Nef-Sobek. Er war Soldat in Nubien“, erläuterte Hatschepsut. „Er kam damals krank zurück. Eine Fliege hatte ihn ins Auge gestochen. Er hat sein Augenlicht dabei teilweise verloren.“

„Aber warum ist dann ausgerechnet er Verwalter der Kornspeicher geworden? Er kann kaum die Berichte lesen.“

„Das weiß ich auch nicht. Frage Hapuseneb. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Ich werde es einmal überprüfen lassen. Wenn unsere Krieger nach Hause kommen, brauchen wir viel mehr Getreide als sonst. Vielleicht sogar wird es notwendig sein, erneut in den Krieg zu ziehen. Ich habe heute Kunde vernommen, dass die Nubier einen Statthalter getötet haben.“

„Das ist wirklich schlimm. Kann denn unser Land nie in Frieden leben?“

„Je mächtiger du bist, umso mehr Feinde hast du auch. Aber jetzt will ich dich nicht vom Arbeiten abhalten!“, forderte sie ihn auf. Senenmut setzte seine Arbeiten fort, während sie ihn dabei beobachtete. Es gefiel ihm, dass sie bei ihm blieb.

Sie sprachen kaum miteinander, lediglich wenn er die Arbeit an einem weiteren Relief begann, stellte sie ihm wissbegierige Fragen. Er erzählte ihr, was er wusste, und sie ergänzte mitunter sein Wissen um die eine oder andere Geschichte ihrer Vorfahren. Sehr schnell waren sie miteinander vertraut und plauderten ohne Floskeln oder höfische Formen.

Senenmut ließ einen Seufzer bei dem Gedanken, dass sie als Prinzessin und Erbtochter des Pharaos unantastbar für ihn war. Aber er genoss ihre Bewunderung, die ihn noch mehr anspornte.

„Würdest du einen Tempel für mich bauen?“, fragte sie ihn erneut.

„Den Schönsten und Größten, den es gäbe! Aber ich glaube, ihr habt genug Architekten im Palast, die das besser können als ich.“

„Diese dummen Langweiler? Die sind so versteinert, dass sie alle Tempel nur nach dem immer gleichen Muster konstruieren. Aber deine Inschriften haben etwas Eigenes, das sehe ich.“

„Wenn es soweit sein sollte, dann sage mir Bescheid!“, lächelte Senenmut. „Kann es sein, dass du mich nicht ganz ernst nimmst?“ Mit gespielter Strenge sah sie ihn an.

„Das würde ich mich niemals trauen, Hoheit!“, lachte er. Sie stimmte ein und ums Haar hätte Senenmut dem ibisköpfigen Gott Toth den Schnabel abgeschlagen. Senenmut erschrak fürchterlich, aber ihr helles Lachen war zu ansteckend. Er musste den Meißel beiseitelegen und aufhören.

Mittlerweile war es Abend geworden. Er war gut vorangekommen. Ihre Gesellschaft hatte ihn sehr beflügelt. Jetzt zündete er ein Feuer an, denn in der Nacht würde es kalt werden. Schnell war es dunkel. Der glühende Feuerball war kaum im Westen versunken, als die ersten Sterne am Himmel erschienen. Sie hatten sich wärmende Tücher angelegt und nebeneinander ans Feuer gesetzt.

„Siehst du das Sternbild des Sah (Orion)? Ich frage mich, wie weit es weg ist. Es muss unermesslich weit weg sein.“

„Du stellst Fragen, die keiner beantworten kann, Senenmut“, schüttelte sie den Kopf. „So weit können sie doch nicht sein, sonst würden wir ihr Licht nicht sehen können.“

„Oder aber sie sind unvorstellbar hell. Allein die Göttin Nut könnte das wissen.“

„Oder wir fragen Chons, den Mondgott danach. Aber wie auch immer, es ist schön hier draußen.“

„Ich will dich nicht wegschicken, aber müsstest du nicht längst zurück sein?“

„Keine Angst, nur meine Amme Inet weiß Bescheid, dass ich hier bin. Meine Wachen habe ich zu Hause gelassen.“

Senenmut erfreute diese Auskunft. „Du bist nicht nur hübsch, sondern auch sehr mutig. Hast du keine Angst im Dunkeln?“ Senenmut erschrak innerlich über sein Geständnis. Sie sah ihn an und ihre Augen spiegelten den warmen Schein des Feuers wieder.

„Wenn du bei mir bist, habe ich keine Angst. Aber ich danke dir für dein Kompliment.“ Senenmut bemerkte, dass sie etwas zitterte. Er nahm seine Decke und legte sie ihr um die Schultern.

„Vielen Dank, aber jetzt hast du keine Decke mehr. Sie ist doch groß genug für uns beide!“, ermunterte sie ihn. Er setzte sich neben sie und ergriff die angebotene Hälfte. So nah war er ihr nie vorher gewesen. Ihr Duft erfüllte die nächtliche Wüste. Er spürte die Wärme ihres Körpers neben sich. Ihre Beine berührten sich und stumm genoss er ihre ungewollte Berührung. Er drehte sich zu ihr hin und sah ihr in die Augen. Ihr Gesicht war ganz nah. Langsam hob sie ihre Hand und streichelte seine Wange. Senenmuts Herz klopfte bis zum Hals, als er ihre Berührung erwiderte und ihr durch die Haare strich. Sie schloss die Augen und genoss seine Hand, die sanft ihre Halsbeuge entlang tastete. Ihre Nasen berührten sich, doch dann zögerte Senenmut und wich etwas zurück.

Sie öffnete die Augen und sah ihn verwundert an. „Was ist mit dir?“

„Es darf nicht sein! Du bist eine Prinzessin, und wenn wir wieder in Theben sind, darf ich dich nicht einmal ansehen, ohne von deiner Leibwache in Stücke gehackt zu werden.“ Senenmut zerriss es das Herz.

„Vielleicht hast du recht, Senenmut. Verzeihe mir bitte. Es war dumm von uns, ich gehe jetzt besser.“ Sie stand auf und gab ihm seine Decke zurück. Schweigend nahmen sie zwei Fackeln, und so begleitete er sie bis zum Ufer des Nils, wo eine Barke auf sie wartete.

Schleppenden Schrittes ging er zurück. Er blickte auf zu den Sternen und fühlte sich so unglücklich, dass er sich wünschte, er wäre tot. Sie war ihm so nahe gewesen und jetzt war sie so unerreichbar wie die Sterne.

„Oh, ihr Götter, was habe ich getan, dass ihr mich so hart bestraft?“ Verzweifelt sprach er mit den Abbildern der Götter, die sich im tanzenden Licht des Feuers zu bewegen schienen. Aber sie blieben stumm.

Regen am Nil

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