Читать книгу Regen am Nil - Rainer Kilian - Страница 21
ОглавлениеHerr der Kornkammern
Der Morgen brachte eine unerwartete Überraschung. Senenmut hatte noch tief geschlafen, als er von lautem Hufgetrappel geweckt wurde. Aufgeregt kam seine Mutter Hatnofer zu seiner Schlafstatt gerannt.
„Sohn, schau nur, wer draußen auf dich wartet!“ Senenmut erhob sich schlaftrunken von seinem Lager und sah nach draußen. Zwei Soldaten der Leibwache des Pharaos verneigten sich vor ihm.
„Herr, verzeiht uns die Störung, aber wir wurden gesandt, um dich zu den Kornkammern zu geleiten!“ Senenmut war etwas verblüfft. Die Sonne war in der Gestalt des jungen und erneuerten Sonnengottes Cheper gerade dabei, am östlichen Horizont zu erscheinen. Es waren noch ein paar Sterne am Himmel zu sehen.
„Es ist keine Eile, Herr!“, versicherte ihm der ranghöhere Soldat. „Aber wir wurden vom wandelnden Horus hierher befohlen, um dich zu beschützen. Den Nubiern ist es nicht recht, dass wir ihren Gehilfen im Feuermeer verbrannt haben. Ihre Spione werden es schon gemeldet haben. Darum sind wir gekommen, um dein Leben zu bewachen.“
Senenmut erschrak innerlich über die mögliche Gefahr. Er hatte genug damit zu tun gehabt, die sich überstürzenden Ereignisse zu verarbeiten. Er war nun der Herr der Kornkammern, eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Aber er wusste auch, dass er sich damit nicht nur Freunde geschaffen hatte. Niemand wusste genau, wer noch alles in den ungeheuerlichen Verrat verwickelt war und vielleicht den einen oder anderen Scheffel Gold dafür erhalten hatte. Jetzt war ein junger Verwalter am Ruder, den man nicht einschätzen konnte. Manch einer der Beamten würde vielleicht seinen Verdienst geschmälert sehen.
Senenmuts Familie hatte seine Berufung natürlich mit Freude aufgenommen. Hatnofer war stolz auf ihren Sohn. Als er am Tag zuvor vom Hof des Pharaos zurückkam, hatte die Botschaft schon seine Familie erreicht. Er wurde bereits am Eingang von seinen Brüdern stürmisch empfangen. Übermütig verneigten sie sich vor ihm und warfen sich vor ihm in den Sand.
„Willkommen, edler Herr!“, riefen sie und reichten ihm einen Weinkelch. Senenmut griff nach dem Willkommenstrunk und sah das Wasser darin. Er schüttete es lachend über seinen Brüdern aus, was sofort in einer wilden Balgerei endete.
„Kinder, benehmt euch!“, mahnte Hatnofer. „Es ist nicht zu glauben, dass ihr schon so alt sein sollt. Ihr benehmt euch wie kleine Kinder.“ Kichernd hatten seine Schwestern Nofret-Hor und Ah-Hotep die übermütige Szene verfolgt. Jetzt klopften Senenmuts Brüder ihm den Staub von den Kleidern und setzten sich gemeinsam an den Tisch. Sie bestürmten ihn mit Fragen. Er musste ausführlich erzählen, was er erlebt hatte. Er erwähnte auch Hatschepsut, vermied aber die tatsächlichen Hintergründe. Vorläufig wollte er es bei der offiziellen Version belassen. Hatnofer hielt die Hand ihres Sohnes fest.
„Du bereitest deinen Vorfahren und uns große Ehren. Dein Vater wäre stolz auf dich gewesen. Lass uns auf sein Andenken trinken.“ Sie erhoben ihre Kelche und tranken den Wein, den seine Schwestern geöffnet hatten.
„Erzähle uns von ihr, ist sie wirklich so schön, wie man erzählt?“ „Welche Kleider hat sie getragen?“ „Hast du sie berührt?“ „Welche Düfte benutzt sie?“
Seine Schwestern stürmten erneut auf ihn ein. Ihr Interesse galt mehr der Person Hatschepsuts. Senenmut bemühte sich, einen gleichgültigen Eindruck zu erwecken. Aber seine Gefühle konnte er nicht ganz verleugnen.
„Sie ist die schönste Frau auf dieser Erde!“, bekräftigte er. „Sie muss von den Göttern abstammen.“
Hatnofer musterte ihn misstrauisch. „Sohn, die Götter schauen auf dein Tun! Du wirst ihr den Respekt erweisen, der der Tochter des Horus gebührt!“, erinnerte sie ihn. Schmerzvoll blickte Senenmut zu Boden. Wie sollte ihre Liebe jemals eine Zukunft haben? Er schwieg in Gedanken verloren. Seine Geschwister plapperten unterdessen munter weiter. Der Wein löste ihre Zunge.
Hatnofer blickte Senenmut nur an, sagte aber nichts weiter. Es war ihm unangenehm. Er fühlte sich ertappt.
„Ich werde mein Amt so ausüben, dass ich dem Pharao Ehre erweise. Und seine Tochter möchte, dass ich sie in der Schrift unterweise.“ Das wiederum erschien seiner Mutter seltsam.
„Sie ist eine Frau! Warum will sie die Schrift lernen?“
„Sie ist die Tochter des Pharaos und die Erbtochter. Ihre Kinder werden über Ägypten herrschen. Wer könnte sie dann besser unterrichten als ihre Mutter?“, schmeichelte er Hatnofer. „Wenn sie vieles weiß, kann es nur gut für unser Land sein.“
„Wozu soll das denn gut sein?“, warf sein Bruder Minhotep ein.
„Du hast niemals die Pyramiden gesehen! Sie wurden vor über eintausend Schemu erbaut. Aber kein ägyptischer Baumeister ist heute mehr in der Lage, so etwas zu konstruieren. Das ist eine Dummheit! Wenn unsere Vorfahren ihr Wissen mit mehr Menschen geteilt hätten, wüssten wir es heute noch, wie sie gebaut wurden.“, argumentierte Senenmut. Er konnte es selbst kaum glauben, wen er da soeben zitiert hatte. So redeten sie die halbe Nacht, bis ihnen die Augen schwer wurden. Senenmut war erschöpft in tiefen Schlaf gefallen, bis ihn die Soldaten weckten.
Sie geleiteten ihn zum Tempel des Amun und den dazu gehörenden Kornkammern. Die Beamten der Verwaltung grüßten ehrfürchtig ihren neuen Herrn. Senenmut war noch etwas unwohl in seiner Haut. Er war es nicht gewohnt, dass sich die Menschen vor ihm verneigten und ihn mit „Herr“ ansprachen. Er war ein Mann aus dem Volk, so wie alle anderen auch. Aber er war auch ein Ägypter, dem sein Land über alles ging. Und in den Kornkammern war etwas passiert, das es zu klären galt. Er wollte keine Zeit verlieren.
„Bringt mir die Papyri der zwei letzten Ernten!“, befahl er. Die Sklaven eilten in die verschiedenen Kornspeicher, um die Aufzeichnungen zu holen. Ungeduldig ging Senenmut im Raum der Kornverwaltung auf und ab. Der Raum war aus Nilschlammziegeln gemauert und die Einrichtung bestand lediglich aus einem großen Tisch mit einem Stuhl sowie einigen Regalen, die mit einigen wenigen Papyrusrollen gefüllt waren. Normalerweise hätte der Raum bersten müssen vor Aufzeichnungen. Senenmut nahm ohne Wahl die erste greifbare Rolle und breitete sie auf dem Tisch aus. Er überflog die Schrift und stellte fest, dass es keinen Sinn hatte, was dort geschrieben stand. Der alte Nef-Sobek hatte offensichtlich wahllos irgendetwas aufgeschrieben. Aber den Überblick hatte er wohl nie gehabt. Es waren Lieferungen an Korn verzeichnet. Aber wohin sie gebracht wurden und wann, ging nicht daraus hervor. Entweder war er nie ausgebildet worden, oder es war Methode dahinter. Jedenfalls konnte Senenmut nicht erkennen, wie viel Korn in den Speichern sein sollte.
Er hoffte, dass die Aufzeichnungen, die er angefordert hatte, Licht in das Dunkel bringen würden. Er war so in die Aufzeichnungen vertieft, dass er nicht registrierte, dass ein Sklave in den Raum eintrat.
Dieser warf sich in den Staub und rief laut: „Verzeiht mir, mein Herr!“ Senenmut fuhr erschreckt aus seinen Studien hoch.
„Was ist denn?“
„Bitte verzeiht mir, mein Herr, aber wir haben die von dir angeforderten Papyri nicht gefunden. Es gibt sie nicht!“
Senenmut glaubte seinen Ohren nicht. „Was soll das heißen? Willst du mir sagen, dass ihr keine Aufzeichnungen gemacht habt? Ihr habt das Korn in die Speicher eingelagert und habt es nicht aufgeschrieben?“ Er wurde wütend.
„Nein, Herr!“ Der Sklave drehte sich im Staub wie ein Wurm und hielt sein Gesicht abgewendet.
„Steh auf!“ Senenmut blickte ihn böse an. „Willst du damit sagen, dass das hier alle Aufzeichnungen sind? Wie lange bist du im Dienst der Kornspeicher?“
Der Sklave hatte sich aufgerichtet und blickte nach unten auf seine Füße.
„Ich weiß es nicht mehr, Herr. Meine Familie ist im Dienste des Tempels und der Kornkammern, seit ich denken kann.“
„Wie ist dein Name?“, wollte Senenmut wissen.
„Man nennt mich Chep-Ra, Herr!“
„Du kennst dich aus in den Kornkammern?“
„Ja, Herr. Ich bin in den Kornkammern aufgewachsen. Mein Vater hat schon hier gearbeitet.“
„Und wo ist er jetzt?“
„Er ist tot. Er hielt Wache am Kornspeicher in Karnak. Am Morgen danach fand man ihn mit durchschnittener Kehle.“
Senenmut war erschüttert. Er musste an seinen eigenen Vater denken.
„Hat man denn nie geklärt, was passiert ist?“
„Nein. Der Vorfall wurde von Nef-Sobeks Sohn untersucht. Er kam zu dem Schluss, dass mein Vater im Streit mit einem Soldaten zu Tode kam.“
„Lass mich raten. Dieser Soldat wurde von Nef-Sobek persönlich verhört?“
„Nein, Herr. Er wurde ertrunken im Nil gefunden.“ Senenmut konnte sich den Rest der Geschichte selbst zusammenreimen.
„Es tut mir leid um deinen Vater, Chep-Ra. Sein Tod soll nicht ungesühnt bleiben. Willst du mir helfen, den wahren Mörder zu finden? Ich glaube, dass es Nubier waren.“
Chep-Ra hob seinen Kopf. Seine Augen leuchteten.
„Ja, ich werde dir dienen, was immer du verlangst, Herr. Ich will meinem Vater Ehre bereiten.“
„Das tust du, Chep-Ra. Wir haben viel Arbeit vor uns. Die Aufzeichnungen verhüllen mehr, als sie offenbaren. Als Erstes werden wir direkt die Kornspeicher besuchen. Und du wirst mir alles erklären, was du weißt!“
Senenmut warf die wenigen Papyrusrollen in die Ecke und verließ eiligen Schrittes den Raum, gefolgt von Chep-Ra. Sie kamen am ersten Kornspeicher an. Senenmut befahl den Wachen, zu öffnen. Sie öffneten die hohen Türen des Speichers.
Muffiger Geruch strömte ihnen entgegen. Senenmut brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Danach glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. In einem wilden Durcheinander waren Kornsäcke gestapelt. Viele waren aufgerissen und das Korn war auf den Boden gerieselt, wo es sich knöchelhoch mit dem Sand vermischt hatte. Der scharfe Geruch von Urin und Kot drang in Senenmuts Nase. Piepsend flüchteten Ratten in die Lücken zwischen den Kornsäcken. Senenmut wurde krebsrot vor Wut, als er das verdorbene Korn sah, das teilweise schon gekeimt durch die Säcke stieß.
„Bringt alle verfügbaren Männer in den Speicher!“, befahl er. Er stampfte vor Wut auf den Boden. Keine Aufzeichnung verriet, wie lange das Korn schon im Speicher lag. Viel zu lange dauerte es, bis die ersten Sklaven eintrafen.
„Räumt den Speicher leer bis auf das letzte Korn! Alles, was noch an Korn genießbar ist, wird sofort in Krüge gefüllt. Danach brennt alles nieder!“
Die Sklaven gingen sofort an die Arbeit. Krüge wurden herbeigeschafft und mit Korn gefüllt. Der Haufen mit verdorbenem Korn wuchs bedenklich in die Höhe. Er wurde direkt neben dem Eingang aufgehäuft. Einige Sklaven hatten sich mit Holzprügeln bewaffnet und erschlugen die Ratten, die aus dem Speicher fliehen wollten. Dann war er leergeräumt und sie übergossen die stinkenden Überreste mit Öl. Senenmut hatte die Arbeiten überwacht. Er nahm eine Fackel und legte das Feuer an den Speicher. Sofort züngelte es an den hölzernen Toren empor. In Windeseile breiteten sich die Flammen an den Wänden aus und schlugen hoch bis zum Dach. Das Quieken der eingeschlossenen Ratten drang durch das Prasseln der Glut. Sie hatten keine Chance zu entkommen.
In einem Feuerball stürzte das Dach in sich zusammen und ein Funkenregen ging auf die Umstehenden nieder. Sie wichen vor der sengenden Glut zurück. Ächzend fielen die Mauern des Kornspeichers in sich zusammen. Nichts als wabernde Flammen blieben von dem Gebäude übrig. Die Ziegel aus Schlamm zerfielen unter der Hitze zu Staub. Senenmut interessierte sich mehr für das verbliebene Korn. Einiges hatten sie doch rechtzeitig gerettet.
„Chep-Ra! Wenn das Feuer erloschen ist, verteilt die Asche auf dem Boden und errichtet einen neuen Speicher. Ich werde dir aufzeichnen, wie er gebaut sein soll. Aber zuvor bist du mir dafür verantwortlich, dass das Korn bewacht wird. Wir werden es wiegen und genau aufschreiben, wann es in welchen Speicher kommt!“
Chep-Ra verneigte sich. „Es geschehe, wie du befiehlst, Herr!“ Er machte sich sofort ans Werk und teilte Sklaven ein, die das Korn bewachten. Die übrigen holten Maß-Scheffel um das Korn zu wiegen. Papyrusrollen wurden herbeigeschafft und Schreiber machten sich ans Werk, alles aufzuzeichnen. Senenmut war zufrieden mit seinem Werk und seinem neuen Gehilfen. Chep-Ra hatte schnell verstanden, worauf es ankam. Er überließ ihm die Aufsicht und machte sich auf zum nächsten Kornspeicher. Wie erwartet traf er auf ein ähnliches Bild. Das Korn war einfach wahllos in den Speichern verteilt worden. Niemand wusste genaue Mengen, was es Nef-Sobeks Sippe einfach gemacht hatte, genug davon verschwinden zu lassen. Noch dazu war überhaupt kein System zu erkennen, was die Ein- und Auslagerung des Korns betraf. Das älteste Korn war in den hinteren Ecken am Faulen, während das frischere Getreide als Erstes verbraucht wurde. Je mehr er mit seinen eigenen Augen sah, umso mehr stieg sein Hass auf die Feinde Ägyptens. Er war sich sicher, dass er jetzt selbst den Scheiterhaufen anzünden würde, um Nef-Sobek zu bestrafen.
Als die Sonne im Zenit stand, brannten die alten Kornspeicher allesamt. Der Geruch von verbranntem Getreide erfüllte die Luft; der Rauch der Feuer verfinsterte den Himmel. Senenmut kehrte zurück in das Gebäude des Verwalters. Zufrieden stellte er fest, dass Chep-Ra sein Handwerk beherrschte. Die Regale im Raum waren schon deutlich mit Papyrusrollen gefüllt. Sklaven brachten unablässig neue Schriftrollen. Chep-Ra sortierte sie in die Regale ein.
„Wir werden bald einen Überblick über die Kornkammern haben, Herr.“
Senenmut gab sich noch nicht zufrieden.
„Wir brauchen mehr Krüge für die Kornkammern. Nur so können wir das Korn vor den Ratten schützen. Und wir brauchen ein gutes System, um das Korn so zu verteilen, dass wir das zuerst eingelagerte auch zuerst wieder ausgeben. Fürs Erste werden wir alle Krüge der Reihe nach beschriften. Ich werde im Tempel nach mehr Sklaven zum Bau der neuen Gebäude anfragen.“
Er begann, einen Papyrus mit einer Zeichnung zu beschreiben. Er war plötzlich in eine Idee vertieft, die er unbedingt zu Papier bringen musste. Er bemerkte nicht einmal, dass die Gespräche Chep-Ras mit den Sklaven verstummten, als jemand den Raum betrat.
„Wo ist der Brandstifter?“ Scharf klang plötzlich eine Stimme durch den Raum, deren wütender Ton Senenmut sehr bekannt vorkam. Hatschepsut stand mit funkelndem Blick im Eingang. Alle anwesenden Sklaven warfen sich zu Boden. Auch Senenmut kniete nieder. Sie wies nach draußen.
„Lasst uns allein!“, befahl sie.
Schnell beeilten sich alle, ihrem Befehl Folge zu leisten.
„Welcher Wahnsinn hat dich dazu getrieben, die Kornkammern in Brand zu stecken?“
Senenmut erhob sich.
„Ich habe mir ein Bild vom Zustand der Kornkammern gemacht. Sie waren voller Ratten und stanken zum Himmel. Wenn wir sie nicht verbrannt hätten, wären wir bald einer Seuche erlegen. So haben wir genug Korn gerettet. Es wird uns bis zur nächsten Ernte ernähren.“
Hatschepsut schien beruhigt zu sein.
„Der Brand hat die meisten Ratten vernichtet. Wir werden gleich heute mit dem Bau neuer Speicher beginnen, ich habe eine neue Zeichnung entworfen. Wir werden das Innere der Speicher wie einen großen Krug formen, der von oben gefüllt wird. So gelangt das zuerst geerntete Korn nach unten. Dort ist eine Öffnung zum Entleeren. Dann wird dieses Korn auch zuerst wieder entnommen.“ Hatschepsut beugte sich tief über den ausgebreiteten Papyrus.
„Das ist eine geniale Idee, Senenmut. Ich sehe, dass sich mein Vater in dir nicht getäuscht hat.“
Senenmut konnte seinen Blick nicht von ihr nehmen. Wie sie so vornüber gebeugt war, konnte er von oben tief in ihr Gewand sehen, ihre Brüste lagen frei. Er war plötzlich ganz woanders in seinen Gedanken. Ihr Duft füllte den Raum. Wenn er sie nur berühren könnte! Sie blickte von dem Papyrus auf und folgte seinem Blick. Ihre Augen wurden groß und dunkel.
„Du musst mir mehr von deinen Eindrücken erzählen. Ich will alles über den Verrat wissen“, sagte sie laut. „Komm heute, nachdem du hier fertig bist, in den Palast!“
Senenmut klopfte das Herz, er konnte das deutliche Ziehen in seinen Lenden spüren.
„Ja, Herrin!“, antwortete er ebenso laut. Sie lächelte ihn an, dann drehte sie sich um und wandte sich zum Gehen. Sie trat ins Freie, und alle Anwesenden verneigten sich vor ihr. Senenmut blickte ihr hinterher und ließ einen lauten Seufzer.
„Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe“, unterbrach Chep-Ra seine Gedanken. Er war wieder eingetreten.
„Kümmere dich lieber darum, dass die neuen Speicher so errichtet werden, wie ich hier aufgezeichnet habe!“, fuhr er ihn an. Er fühlte sich ertappt. Außerdem ärgerte es ihn, dass ein anderer Mann sie so ansah.
„Es geschieht, wie du es befiehlst, Herr.“ Er nahm den Papyrus und entfernte sich. Senenmut war mit seinen Gedanken alleine. Er konnte sich kaum konzentrieren. Für heute war es genug mit seiner Arbeit. Er wollte ja noch zum Tempel gehen. Er verschloss den Raum und machte sich auf den Weg. Bevor er das Heiligtum erreichte, traf er auf Hapuseneb.
„Dein Werk ist schon im ganzen Tal bekannt. Ich bin froh, dass du den Tempel nicht angezündet hast, als wir dich aufgenommen haben!“, lachte er.
„Da gibt es nicht so viele Ratten!“, nahm Senenmut den Faden auf.
„Du hast recht, mein Freund, aber dafür sind sie dicker.“ Er wies auf einen Priester, dessen Leibesumfang bedenklich war. Sie lachten beide los, was ihnen tadelnde Blicke einiger Tempelbesucher einbrachte.
„Ich kann mir denken, was du willst, Senenmut. Ich habe dir eine Abordnung an Bauhandwerkern bereitgestellt.“ Er war verblüfft, wie Hapuseneb seine Gedanken erriet. „Leider kann ich dir nicht so viele mitgeben, wie ich gerne möchte, da viele Männer mit Thutmosis in den Krieg gegen die Nubier gezogen sind.“
Erst jetzt fiel es Senenmut auf, dass es deutlich ruhiger als sonst im Tempel war. Nur wenige Soldaten waren zu sehen.
„Der Pharao ist heute Morgen aufgebrochen, um die Nubier zu strafen. Es war so geheim gehalten worden, dass nur die obersten Befehlshaber es wussten. Man vermutet einige Spione im Tempel, die es sofort weiterberichtet hätten.“
„Schlimme Zeiten für Ägypten“, sinnierte Senenmut.
„Ja, es war schon einmal friedlicher in unserem Land. Aber Thutmosis ist stark. Er wird die Nubier in die Schranken weisen, und danach wird Ägypten mächtiger sein denn je. Unsere Grenzen sind in alle Himmelsrichtungen gesichert. Die Maat ist gefestigt.“
Über all der Arbeit mit den Kornkammern hatte Senenmut es gar nicht bemerkt, dass die komplette Armee Ägyptens abgezogen war. Aber die Nubier würden es auch nicht bemerkt haben, oder wenn, dann zu spät. Und die Zeit konnte ein wichtiger Verbündeter sein. Der Nil war niedrig. Das hieß, eine nur geringe Strömung setzte sich den Barken der Armee entgegen. Zu Lande rückte Thutmosis mit Fußtruppen und Streitwagen gegen Nubien vor.
Senenmut dachte an die Erlebnisse in Mitanni. Er war froh, dass er nicht mehr dabei war. Jetzt war ihm auch klar, warum Hatschepsut ihn so einfach in den Palast beordern konnte. Nur wenige Bedienstete waren jetzt anwesend. Und außerdem war er ja offiziell bestellt worden. Er hoffte inständig, sie wenigstens einen kurzen Moment alleine sehen zu können. Er ging gemeinsam mit Hapuseneb zum Abendgebet ins Heiligtum des Amun. Sie brachten ein Opfer dar und beteten mit den anderen Priestern um einen glücklichen Ausgang der Schlacht. Hapuseneb lud Senenmut zum Essen ein.
„Es war ein Glück für dich, dass du den Komplott entdeckt hast.“
„Das war eher ein Zufall. Ich war nur etwas irritiert über die geringen Kornreserven. Ich habe lediglich laut gedacht, was ich davon halte.“
„Und die Götter haben es gehört ...“, warf Hapuseneb ein.
„Ja, die Götter ...“, echote Senenmut.
„Ihre Wege sind unergründlich“, fuhr Hapuseneb fort. „Vor allem dann, wenn sie uns ihre Ratschlüsse durch ihre irdischen Nachkommen übermitteln.“
„Du meinst ...“
„Ich bin nicht blind, Senenmut. Und ich freue mich für dich. Ich bin dein Freund und ich glaube, dass die Götter es gut mit dir meinen. Aber es wird Neider geben, die dir dein Glück nicht gönnen. Du musst vorsichtig sein. Wenn du gegen die Maat verstößt, werden dich die gleichen Leute den Krokodilen zum Fraß vorwerfen, die dich eben noch auf Händen getragen haben. Ich bete zu den Göttern, dass sie dich weiterhin beschützen.“
Senenmut tat es gut, dass er sich nicht vor Hapuseneb verstecken musste. Es hätte ihm leidgetan, Versteck vor ihm spielen zu müssen. Aber er war ein zu guter Beobachter, als dass es überhaupt möglich gewesen wäre.
„Ich danke dir, Hapuseneb! Ich werde in den Palast gehen und Bericht erstatten über meinen ersten Tag als Imir Schenuti en Imen!“
„Der Titel geht dir über deine Lippen, als hätte Amun ihn dir in deine Wiege gelegt“, lächelte Hapuseneb.
„Ich bin Amun dankbar dafür, dass er mir diese Gnade erweist“, antwortete Senenmut. „Aber darum gebeten habe ich ihn nicht.“
„Ich weiß es. Aber er wird sich etwas dabei gedacht haben. Irgendwann wirst du es erkennen.“
„Du hast soeben gesprochen wie mein Vater. Aber ich danke dir nochmals für die Handwerker. Morgen bei Sonnenaufgang werden wir beginnen“, verabschiedete sich Senenmut von ihm.
„Sie werden bereitstehen für dich. Sag ihr Grüße von ihrem treuen Diener.“ Hapuseneb drehte sich um und ließ den verblüfften Senenmut stehen.
Kopfschüttelnd nahm Senenmut seinen Weg zum Palast. Atum, die Sonnenscheibe des Abends, war dabei, ihren Weg in die Unterwelt anzutreten, als er die äußeren Mauern des Palastes durchschritt. Die Wachen salutierten und gaben den Weg frei, ohne ihn aufzuhalten. An der großen Pforte geleitete ihn ein Diener ins Innere des Gebäudes.
Reich verzierte Wände mit Gemälden fesselten den Blick. Der Boden war aus glänzendem Stein, mit eingelegten Mosaiken. Kostbar glänzende, goldene und bronzene Vasen geleiteten Senenmut in den großen Saal des Palastes. Überall waren Statuen aufgestellt, die die Vorfahren Hatschepsuts in der Form der Götter darstellten. Pures Gold verkündete den Reichtum Ägyptens. Mächtige Säulen aus Stein trugen die Dachkonstruktion. Senenmut war fasziniert von der Fülle dieser Macht und Schönheit, die der Palast ausstrahlte. Er stand vor einer lebensgroßen Statue der Göttin Selket, der Skorpiongöttin. Sie war aus purem Gold. Ihre Augen waren mit Edelsteinen eingelegt und schienen zu leben. Mit ausgebreiteten Armen versprach sie Gesundheit und Schutz für die Bewohner des Palastes.
„Gefällt sie dir?“ Senenmut zuckte zusammen. „Das ist das zweite Mal, dass du dich an mich heranschleichst!“ Er strahlte sie an. Sie war nahe an ihn herangetreten, ohne dass er sie bemerkt hatte.
„Wenn du immer nur den ganzen Tag träumst, kann ich auch nichts dafür. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du mit deinem Geist woanders.“ Sie trat direkt auf ihn zu und küsste ihn. Er nahm sie in den Arm und drückte sich innig an sie. Sogleich wurde ihm bewusst, wo er sich befand und ließ sie erschreckt los.
„Keine Angst, ich habe die Wachen vor den Eingang geschickt. Wir sind vollkommen allein. Ich habe dich so vermisst!“
Sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust.
„Auch ich habe mich nach deiner Nähe gesehnt. Aber ich hatte so viel zu tun. Die Kornspeicher waren in einem entsetzlichen Zustand. Möge die Brut von Nef-Sobek auf ewig aus den Feldern von Iaru verbannt bleiben. Aber ich habe nicht einmal bemerkt, dass unsere Armee nach Nubien gezogen ist. Es war ein weiser Entschluss von deinem Vater.“
„Ja, er ist stark. Aber mein Halbbruder Thutmosis wird einmal sein Nachfolger werden. Und er ist krank“, bemerkte Hatschepsut mit sorgenvollem Blick.
„Ich habe davon gehört“, gab Senenmut zu. „Ist er der einzige männliche Thronfolger?“, wollte er wissen.
„Meine Brüder sind alle ins Reich des Osiris gegangen. So ist er außer mir der einzige lebende Nachkomme der Götter. Es wird seine Aufgabe sein, die Maat zu hüten.“
Senenmut spürte ihre Sorge.
„Ägypten braucht eine starke Hand. Unsere Feinde werden jede Schwäche ausnutzen. Wir müssen zu den Göttern beten, dass sie Thutmosis beistehen, wenn er Pharao geworden ist.“
„Du kennst meine Gedanken, Liebster. Ich hoffe auch, dass mein Vater noch lange Zeit Herrscher bleiben wird. Er hat bereits seit langer Zeit sein Per-Djed, sein Haus der Ewigkeit, bestellt und vorbereitet. Es ist alles bereit, nachdem er seinen Sohn zu seinem Thronfolger bestellt hat. Es war ein Zeichen an die Götter.“
Senenmut strich ihr tröstend eine Träne aus dem Gesicht.
„Du liebst deinen Vater sehr. Und du hast Angst, dass er dich zu früh verlässt.“
Sie drückte ihr Gesicht an ihn. Sie umschlang seine Brust mit ihren Armen und ließ einen tiefen Seufzer los.
„Ja, ich liebe ihn sehr. Er ist ein starker Pharao, aber er ist auch ein liebevoller Vater für mich. Er hat mich alles gelehrt, was ich weiß.“
„Was wird einmal aus dir werden, wenn dein Halbbruder Pharao ist?“
„Das wissen nur die Götter selbst. Es wird Sache des Pharaos sein zu entscheiden, was wird.“ Sie löste sich etwas von ihm und blickte ihm in die Augen. „Aber bevor es soweit ist, werden hoffentlich noch viele Schemu vergehen, und mein Vater wird noch oft die Sonnenscheibe des Ra schauen. Ich habe uns etwas zu essen bereiten lassen. Komm, folge mir.“
Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinaus auf die breite Terrasse des Palastes. Im Schein der Fackeln war ein breiter Tisch zu sehen, der mit Speisen und Wein beladen war.
„Setz dich!“, forderte sie ihn auf. Er setzte sich in den Stuhl und genoss die Aussicht. Der Nil war als dunkles Band zu sehen, in dem sich der Mond spiegelte. Einige Barken waren im fahlen Licht zu sehen. Einzelne Feuer der Bewohner von Theben hoben sich aus dem Dunkel der Nacht hervor. Auch am gegenüberliegenden Ufer waren Feuer zu sehen. Dort waren die Dörfer der Arbeiter zu finden, die an den Totentempeln arbeiteten. Hatschepsut nahm einen Kelch mit Wein und reichte ihn Senenmut. „Auf dein Wohl, Liebster. Mögen die Götter dir ein langes Leben schenken.“ Sie goss ein wenig des Weines auf den Boden, um den Göttern zu opfern. Senenmut tat ihr nach. „Und auf unsere Liebe!“, ergänzte er. „Möge sie ewig dauern. Ich werde immer für dich da sein.“ Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn zärtlich. Dann nahm sie ebenfalls Platz und fütterte ihn mit einzelnen Weintrauben. Kichernd ließ sie es geschehen, dass er nach ihren Fingern schnappte. Sie füllte seinen Teller mit gebratenem Fleisch und frischem Gemüse. Begierig aß er auf, was sie ihm reichte. So vergaßen sie die Zeit und alle ihre Sorgen. Ein kühler Wind aus der Wüste vertrieb die Hitze des Tages. Irgendwann zogen sie sich in die Mauern des Palastes zurück, der die Wärme speicherte. Senenmut wollte gehen, aber sie hielt seine Hand fest. „Bleibe bei mir heute Nacht!“, bat sie ihn. Er zögerte, aber ihre Gegenwart beseitigte seine Zweifel. Er folgte ihr in das Innere ihrer Räume. Sie verschloss die großen Türen ihrer Gemächer mit einem Riegel. Dann fiel sie in seine Arme und gab sich seiner innigen Liebe hin. Sie löschten alle Lampen. Nur das Licht des Mondes drang noch durch die großen Fenster und beleuchtete die beiden Körper, die sich gegenseitig aus ihren Gewändern lösten und auf das freistehende Bett sanken. Chons, der Mondgott, sah ihre Liebe zueinander und lies sein Licht auf sie fallen. Sie hielten sich umklammert und bewegten sich im Klang einer Musik, die nur aus ihrer Liebe bestand. Tief in der Nacht sanken sie in den Schlaf. Sie bettete ihren Kopf in seine Armbeuge und sie hielten einander fest, als könne nichts außer den Göttern selbst sie trennen.