Читать книгу Regen am Nil - Rainer Kilian - Страница 16

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Die Zeitung

Ich fröstelte etwas. Es war Abend geworden und die umliegenden Hügel verdeckten die sinkende Sonne. Ich war etwas verwundert über das soeben Erlebte. Es war mir das erste Mal passiert, dass ich das Auftauchen meiner Visionen bewusst zuließ. Es war überraschend für mich festzustellen, dass die Erlebnisse dieses Mal weniger schmerzhaft für mich waren. Trotzdem brauchte mein Körper etwas Zeit, um die Umgebungstemperatur zu registrieren. Wir hatten Hochsommer. Aber das Frösteln war mehr auf meinen Kreislauf zurückzuführen. Ich war sehr lange auf der Terrasse des Hotels still gesessen. Etwas Bewegung konnte mir also nicht schaden. Ein kleiner Rundgang vor dem Abendessen, und etwas Appetit hatte ich sowieso schon.

Die Bucht beschrieb einen fast perfekten Kreis, dem die Uferstraße folgte. An ihr entlang reihten sich verschiedene Tavernen, die sich jetzt langsam zu füllen begannen. Ein Leuchttransparent hob sich deutlich von den anderen ab. “Noda's Paradise“ stand da zu lesen. Ich konnte ihn nicht entdecken und beschloss, mir eine Taverne am Hafen zu suchen. An den Eingängen zu den Tavernen standen statt einer Speisekarte große Vitrinen mit zubereiteten Speisen, die lautstark von den Kellnern gepriesen wurden. Bouzouki-Musik krächzte und leierte aus diversen Lautsprechern über die Straße. Im Hafen hatte sich der Stau der Reisenden etwas normalisiert, aber ich war erstaunt darüber, wie viele Touristen jetzt hier unterwegs waren. Sehr viele Touristen waren Teenager, die mit Rucksäcken von Insel zu Insel reisten. Das Treiben war sehr lebhaft, aber nicht mehr ganz so hektisch. Die Uferstraße mündete im Hafen in ein großes Rondell, in dem die Busse auf Passagiere warteten.

Ich suchte mir einen kleinen Tisch aus, von dem ich einen Blick auf die Boote hatte, und bestellte meine Lieblingsspeisen. Zaziki, Bauernsalat und Moussaka. Dazu ein kleiner Krug mit Retsina. Den obligatorischen Ouzo würde ich später bei Noda trinken. Im Gegensatz zu dem Fähranleger war es bei den Segelbooten jetzt etwas ruhiger geworden. Die meisten Skipper saßen an Deck und genossen die laue Sommernacht bei einer Flasche Wein und viel Seemannsgarn. Die Ruhe wurde lediglich von den ein- und ausfahrenden Fähren unterbrochen, deren Heckwellen die Schiffe gehörig zum Schaukeln brachten. Wenn das die ganze Nacht so gehen würde, war an Bord nur wenig an Schlaf zu denken. Aber die Fährkapitäne galten unter Seglern auch nicht gerade als rücksichtsvolle Kavaliere.

Nach dem Essen schlenderte ich zurück und sog die Meeresluft ein. Es war kaum noch etwas übrig geblieben von dem vorher so stürmischen Wind. Auch der Meltemi hatte Feierabend gemacht und sich schlafen gelegt. Dagegen waren die Kellner der Tavernen kaum davon zu überzeugen, dass ich bereits gegessen hatte.

„Elate, elate!“, waren ihre Rufe überall zu hören. „Efaga thora! Ich habe gerade gegessen!“, wehrte ich dankend ab. Nachdem die ausländischen Touristen gespeist hatten, leerten sich die Tavernen sehr schnell. Lediglich griechische Gäste saßen noch dort. Gewohnheitsmäßig essen die Griechen sehr spät zu Abend. Am Tisch konnte ich sie sofort als Griechen identifizieren. Denn im Gegensatz zu den Deutschen bestellt die Tischgemeinschaft, die Parea, alles zusammen. Meist viele kleine Tellerchen mit verschiedenen Vorspeisen, den Mesedes. So bekommt jeder von allem etwas. Mit den Hauptspeisen wird genauso verfahren. Und als Krönung die Nachspeise, mit viel Zucker. Halwas, der Honigkuchen zum Beispiel. So eine Tafelrunde kann einige Zeit in Anspruch nehmen und in allgemeinem Gesang oder Tanz enden, wenn die Bouzouki dabei ist. Bezahlt wird auch gemeinsam. Jeder legt etwas dazu, bis die Rechnung beglichen ist. Getrennte Rechnung heißt in Griechenland „die deutsche Art“.

In Noda's Bar hatten sich jetzt einige Nachtschwärmer versammelt. Es war deutlich mehr los als in den umgebenden Tavernen. Er hatte wohl eine Marktlücke gefunden. Allerdings war er momentan so stark beschäftigt, dass eine gepflegte Unterhaltung nicht möglich war.

„Avrio, Avrio!“, rief er mir zu, also morgen. „Echo kero. Ich habe Zeit“, antwortete ich, bevor er zu den durstigen Kehlen zurückkehrte. Ich trank meinen Ouzo und stellte fest, dass ich doch ein bisschen müde wurde. So schlenderte ich zurück ins Hotel. Bevor ich zu Bett ging, fiel mir ein, dass ich mein Handy die ganze Zeit nicht eingeschaltet hatte. Ich wollte wenigstens wissen, ob Nachrichten für mich da waren, und schaltete ein. Nach ein paar Sekunden piepte es und die Anzeige signalisierte mir eine Textnachricht. „Bitte rufe mich an, dringend, Peter.“

Er war wohl noch im Dienst um diese Zeit, also rief ich gleich durch. „Hallo, was gibt es denn so Dringendes?“

„Zu allererst mal herzlichen Glückwunsch nachträglich. Ich habs schon wieder verbummelt.“

„Das ist bei dir nichts Neues. Aber deswegen hast du nicht eine Botschaft geschickt, oder?“

„Nein, aber indirekt. Ich wollte im Verlagshaus vom Wiesbadener Kurier eine Zeitung von deinem Geburtstag haben, die haben so was im Archiv. Die sind da auch fündig geworden. Aber auf der Titelseite stand was von diesem Unwetter damals in Frankfurt. Du weißt ja, ein Unglück kommt selten allein ...“

„Danke, danke. Jetzt mach es nicht so spannend!“

„Auf jeden Fall wartet die Zeitung bei mir auf dich. Weil ich aber weiß, dass du im Urlaub bist, habe ich dir die ersten Seiten eingescannt und per E-Mail geschickt. Dein Laptop hast du ja dabei.“

„Mit Geburts- und Hochzeitstagen hast du es ja nicht so, aber als Kriminalist hast du einen erstaunlichen Spürsinn.“

Er lachte. „Ich habe Monique verhört“, erklärte er mir.

„Na, dann lass dich nicht von deiner Frau bei einer Leibesvisitation mit ihr erwischen. Aber trotzdem danke für dein Geschenk. Und vergiss nicht euren Jahrestag!“, erinnerte ich ihn. Er antwortete mit einem gotteslästerlichen Fluch.

Offenbar doch ein Sieb im Kopf ... Ich verabschiedete mich und schloss mein Notebook an. Jetzt war ich doch neugierig. Irgendwie fand ich es faszinierend, dass man Daten einfach so um die Welt schicken kann. Die Übertragung funktionierte einigermaßen schnell. Außer Peters Mail waren keine Nachrichten vorhanden, ich konnte mich offensichtlich auf meine Mitarbeiterin verlassen. Ich schickte kurz eine Mail zu ihr, dass alles Okay bei mir sei.

Jetzt war ich doch gespannt auf mein Geschenk. Ich öffnete die erste Seite der Zeitung am Bildschirm, sie war deutlich zu erkennen und trug das Datum meines Geburtstages, den 18. August 1963. Die Überschrift war wirklich nicht erfreulich: „Unwetter in Frankfurt fordert Todesopfer“ war zu lesen. Und weiter stand dann: „Ägyptische Ausstellung im Senckenberg-Museum zerstört.“ Plötzlich war ich wieder hellwach. Gespannt las ich weiter. „Bei einem der schwersten Unwetter seit Jahrzehnten wurde gestern ein Mann vor dem Frankfurter Senckenberg-Museum durch einen Blitzschlag getötet. Mysteriös daran ist, dass der offenbar geistig verwirrte Jürgen H. aus Sprendlingen zuvor die Mumie des ägyptischen Prinzen Chaemwaset zerstört hat. Die Ausstellung wurde durch ein vom Sturm eingedrücktes Fenster schwer beschädigt. Der Täter nutzte die Verwirrung und zerstörte die Mumie. Unbestätigten Zeugenaussagen nach soll er gerufen haben: „Er ist es nicht!“ Er flüchtete vor den Augen der Museums-Angestellten durch das zerstörte Fenster. Auf dem Vorplatz des Museums wurde er von einem Blitz in die Brust getroffen. Die Notärzte konnten nur noch seinen Tod feststellen.“

Ich fühlte mich ebenfalls wie vom Blitz getroffen. Fragen über Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Wie ein Schwertschlag traf mich der darauf folgende Satz: „Der Täter soll nach Aussage seiner Nachbarn seit Jahren von Visionen erzählt haben, die ihn regelrecht verfolgten. Er sei in den Wahn verfallen, in der Antike in Ägypten bereits gelebt zu haben und wiedergeboren zu sein.“

War es Zufall? Ich war ein eher nüchtern und wissenschaftlich denkender Mensch und glaubte an alles andere als an Wiedergeburt. Wenn ich daran dachte, wie viele Napoleon Bonapartes es in der Welt gab, wusste ich Bescheid. Wenn irgendein Mensch von sich behauptete, wiedergeboren zu sein, dann war er ein Kaiser oder König gewesen, aber nie geringer. Jetzt hatte ICH aber dagegen Visionen, genau wie dieser geistig verwirrte Mann, der auch noch exakt vor dem Tag meiner Geburt stirbt. War es doch an mir, den Verstand zu verlieren, oder war ich gar schon soweit? „Selber merkt man es am wenigsten“, pflegte mein Vater immer zu sagen. Ich musste es genau wissen, ob ich damit zu tun hatte. Peter wusste offensichtlich nicht, was er mir da geschickt hatte. Ich würde ihn um einen Gefallen bitten. Ich hatte jedenfalls nicht vor, bei dem Versuch zu sterben, meine Vergangenheit zu klären. Ich wählte nochmals Peters Handy an.

„Du rufst ja zu immer besseren Zeiten an!“ „Hab ich dich geweckt?“

„Nein, aber wir observieren gerade einen Dealer. Ich sitze im Heck eines blick- und geräuschdichten Vans. Der Drecksack hatte eben nichts Besseres zu tun, als mir ans Hinterrad zu pinkeln. Was gibts denn noch?“

„Ich habe deine Mail erhalten. Der Artikel war echt interessant. Da war von einem Jürgen H. aus Sprendlingen die Rede. Könntest du mir einen Gefallen tun und feststellen, ob er noch lebende Verwandte hat?“

„Hast du vor, ihn zu beerben?“ Mit etwas Galgenhumor antwortete ich ihm: „Könnte schon sein, dass ich etwas von ihm geerbt habe. Aber im Ernst, er hat sich mit Ägyptologie beschäftigt und es könnte sein, dass mir die Familie die eine oder andere Frage beantworten kann.“

„Das war mir neu, dass du dich mit dem Zeug beschäftigst. Aber wenn ich mich recht erinnere, hast du mir ja diesen Steinklotz damals recht schnell übersetzt. Ein Maikäfer oder so, nicht wahr?“

„Fast, ein Skarabäus, um genau zu sein.“ „Jaaa, richtig, jetzt fällts mir wieder ein, sehr alt, von Moses!“

„So was wie dich nennt man halbgebildet. Es war Thutmosis, der Dritte.“

„Ich sehe schon, du hast da mehr Ahnung als ich. Aber ich klemme mich dahinter und sage dir Bescheid. Mensch, der Typ pieselt mir schon wieder ans Auto. Ich geh jetzt gleich da raus und hau dem auf die Zwölf!“ Ich dankte ihm erneut und beendete das Gespräch. Ich war so aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Ich fand kaum Schlaf in dieser Nacht. Ich hatte nun doch wieder etwas Angst zu träumen, aber irgendwann klappten mir dennoch die Augen zu und ich fiel in unruhigen Schlaf.

Regen am Nil

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