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ОглавлениеDer Skarabäus
Mittwoch, 19.August 1998
Es kam von weit her aus tiefem, dunklem Raum. Ich konnte es nicht einsortieren, woher es kam, und ich wollte es auch nicht wissen. Ich wollte nur meine Ruhe. Aber es ließ sich nicht abschütteln. Ein durchdringender Ton, der sich ins Bewusstsein sägte, dröhnte in meinem Schädel. Mein Wecker klang nicht so, es musste etwas anderes sein, was mich in diese Welt zurückholte. Erst als sich der Anrufbeantworter einschaltete, konnte ich das Folterinstrument identifizieren, das mich so quälte. Noch blind mit geschlossenen Augen tastete ich nach dem Quälgeist auf meinen Nachttisch und nahm den Hörer ans Ohr.
„Menzl, hallo?“ „Erwachet, edler Ramses, ein neues Jahr hat begonnen. Kleopatra wartet auf Euch. Nehmt eure stählernen Flügel und begebt euch auf die Reise zu ihr!“
„Guten Morgen, Johannes!“
„Guten Morgen, Felix! Hast du mich sofort erkannt?“
„Ich weiß nicht, wer sonst noch morgens um sieben Uhr so einen Blödsinn erzählen kann. Dafür braucht man kein Abitur!“
„Schönen Dank auch.“ Das war die Retourkutsche für den frühen Weckruf gewesen, den nur Insider verstanden. Mein Freund Johannes hatte vorgehabt zu studieren, aber dafür fehlte ihm das Abitur. Er hatte auch Ansätze gemacht, im zweiten Anlauf seinen höheren Schulabschluss zu machen, aber aus Angst vor der Prüfung hatte er diesen Traum nie in die Tat umgesetzt. Zugetraut hätte ich es ihm auf jeden Fall, auf den Kopf gefallen war er nicht. Statt dessen war ein exzellenter Allround-Handwerker mit eigener Firma aus ihm geworden. Seine Arbeiten konnten sich sehen lassen. Also kein Grund, sich in überfüllten Universitäten zu quälen und am Ende mit Diplom, aber ohne Job da zu stehen.
Aber wir kannten unsere wunden Punkte gegenseitig sehr genau, es war eine Art Sport für uns geworden, den Finger auf die Wunde zu legen, ohne uns aber tatsächlich wehzutun. Im Gegenzug kannte jeder aber auch die Geheimnisse des anderen.
„Du hast heute Nacht wieder geträumt, oder?“, fragte er besorgt.
„Wenn das Telefon nicht geklingelt hätte, vielleicht sogar mal bis zum Happy End ...“, lenkte ich ab.
„Wenn es eines wird.“
„Mach mir nur Mut. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Aber woher weißt du, dass ich geträumt habe?“ Er erstaunte mich immer wieder mit seinen treffsicheren Diagnosen.
„Dafür brauche ICH kein Abitur. Du warst gestern Abend auf deiner Geburtstagsparty nur körperlich anwesend. Als Gabriele dich um Milch für den Kaffee gebeten hat, hast du ihr Ketchup gebracht.“
Jetzt musste ich doch lachen. „Ich hoffe, sie hat ihn nicht getrunken?“
„Meine Frau ist zwar blond, aber sie hat sich vor lauter Kummer um deinen Geisteszustand die Milch selbst geholt. Wann geht denn dein Flieger?“
„Erst heute Abend um sechs. Wie gesagt, wenn das Telefon nicht geklingelt hätte, wäre noch Zeit gewesen zum Ausschlafen ...“
„Mein lieber Felix, die Botschaft ist angekommen. Aber wie du weißt, bin ich viel beschäftigter Handwerker und habe Aufträge zu erfüllen. Also dachte ich, ich wünsch dir noch mal vorher schönen Urlaub.“ Irgendetwas war faul an der Sache, das konnte ich riechen. Schönen Urlaub konnte er mir auch gestern Abend wünschen.
„Johannes, rufst du vom Handy an?“
„Richtig erraten.“
„Und wo bist du jetzt?“
„Auf dem Marktplatz in Geisenheim. Ich sitze auf den Stufen des Domes und schau zu so einem alten Trödelladen gegenüber.“
„Ich habe so was vermutet. Also komm schon rüber.“
Er hatte die ganze Zeit vor meinem Haus gesessen und erst mal die Stimmung geprüft! Ich schob mich aus dem Bett und zog mir schnell Jeans und Pullover an, bevor ich die Treppe ins Erdgeschoss herunter schlurfte. So ganz wach war ich noch nicht, mein Traum ging mir noch immer durch den Kopf. Ich schloss die Tür zu meinem Geschäft auf und ließ Johannes herein, der nach unserem Begrüßungshandschlag zielstrebig den Weg in die Küche nahm, um Kaffee aufzusetzen. Ich vergewisserte mich, dass ich die Tür wieder verschlossen hatte, und folgte ihm.
„Du sahst echt nicht gut aus gestern“, eröffnete er sein Gespräch.
„Danke für das Kompliment. Ich bin halt wieder ein Jahr älter geworden.“
„Aber mit 35 Jahren sollte man schon die Realität von der Fantasie auseinanderhalten können. Und da, glaube ich, hast du ein paar Probleme.“
Wie gesagt, wir kannten unsere Geheimnisse und er war einer der wenigen, die von meinen Träumen wussten.
„Jo, ich weiß nicht, wie ich es dir noch sagen soll. Es ist nicht nur ein Traum. Es sind wie längst vergessene Erinnerungen. Wenn ich davon träume, ist es so, als erlebe ich es nochmals. Und die Träume sind für sich recht seltsam und scheinen manchmal sinnlos. Aber sie haben angefangen, sich wie ein Puzzle zusammenzufügen.“
Er runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen nach oben. „Deshalb bin ich noch mal hergekommen. Ich mach mir wirklich Sorgen um dich. Als du mir das erste Mal erzählt hast, dass du Träume hast, habe ich gedacht, dass du irgendein Zeug rauchst, das dir den Verstand vernebelt. Aber ich denke langsam, dass du dir einen anderen Beruf suchen solltest. Vielleicht dampft der alte Trödel irgendwas aus, das dir den Schädel verdreht.“
Seine recht direkte Art, Dinge auszudrücken, war für Außenstehende ungewohnt und konnte beleidigen, aber ich war es gewohnt und konnte gegebenenfalls mit gleicher Münze zurückzahlen. Aber mir war nicht nach Streiten zumute. Jedoch die Bezeichnung „Trödel“ hatte ich heute schon zweimal gehört. Und das war einmal zu viel. Bevor ich jedoch etwas entgegnen konnte, signalisierte das Blubbern der Kaffeemaschine, dass der Leben spendende Trank fertig war. Also holte ich tief Luft und schluckte meine Bemerkung herunter.
Ich fischte zwei Kaffeetassen aus dem Schrank und füllte sie mit dem herrlich duftenden Gebräu. Eigentlich war ich nicht genießbar, bevor ich nicht wenigstens eine Tasse getrunken hatte. Wenn es keinen Kaffee geben würde, hätte ich ihn gewiss erfunden. Eine heiße Dusche gehörte ebenso zu meinem morgendlichen Ritual, um den Motor auf Trab zu bringen. Mein Hausarzt hatte mir etwas von einem zu niedrigen Blutdruck erzählt, aber damit könnte ich hundert Jahre alt werden. Im Volksmund hieß so etwas Morgenmuffel. Aber damit konnte ich leben. Dafür war ich noch wach, wenn andere schon lange müde waren.
Auf jeden Fall war mein morgendliches Aufwachritual empfindlich gestört worden, aber in Anbetracht meines Urlaubes war ich bereit ihm zu vergeben. Ich blies in meine Kaffeetasse, um ihn auf trinkbare Temperatur zu bringen und reichte Jo seine Tasse.
„Wie trinkst du deinen Kaffee?“
Der griente übers ganze Gesicht. „Ohne Ketchup!“
Wer solch nette Freunde hat, braucht keine Feinde mehr, dachte ich mir. Aber der erste Schluck Kaffee stimmte mich versöhnlich. „Okay, okay. Für dich würde ich sogar Blausäure besorgen, wenn ich die Garantie hätte, dass Ruhe wäre vor dir!“
„Wer soll denn sonst auf dich aufpassen? Deine Traumfrau muss ja wohl noch gebacken werden. Vor allem wenn sie eine Königin als Konkurrentin hat. Aber mal im Ernst“, seine Miene hatte etwas an Heiterkeit verloren. „Es wird mal Zeit für dich, dir was Weibliches zu suchen. Was real Existierendes, meine ich. Du bist gerade gewachsen, ein Kerl im besten Alter. Du hast deine Firma die eine Familie ernähren kann. Mir fallen auf Anhieb mindestens fünf Mädels ein, die glücklich wären, wenn du sie mal zum Essen einladen würdest.“
„Sind die so ausgehungert?“
„Stell dich doch nicht blöder an, als du bist. Aber wenn du es so nennen willst, könnte ich die Frage mit Ja beantworten. Oder weißt du nicht mehr, wie es geht?“ Ich wusste ja, dass er nicht ganz Unrecht hatte, was mich umso mehr ärgerte. Aber meine letzte Beziehung war eine mittlere Naturkatastrophe gewesen und ich hatte noch keine Lust auf neue Experimente.
„Mein Gott, Felix. Denk doch nur mal an das letzte Lindenfest. Die kleine Blonde in der Sektbar hat dich den ganzen Abend angestrahlt. Brauchst du 'ne schriftliche Einladung?“
Ich wusste schon, worauf er hinaus wollte. „Das war eine gute Kundin von mir, die brauchte eine Expertise eines Erbstückes“, verteidigte ich mich.
„Oh Herr, schmeiß Hirn vom Himmel! Um die zwei Erbstücke zu analysieren, die sie an dem Abend dabei hatte, wäre die Nacht zu kurz gewesen. Aber ich sehe schon, Frauen haben bei dir nur 'ne Chance, wenn sie mindestens tausend Jahre alt sind.“
Er hatte ja recht. Ich konnte ihm schlecht was vorlügen.
„Deshalb fahr ich auch nach Griechenland in Urlaub. Ich will mal raus aus der Mühle und etwas anderes sehen. Ich verspreche dir auch, dass ich mich mit Frauen unterhalten werde, die jünger als tausend Jahre sind. Aber ich muss erst mal selbst mit mir klarkommen. Und vor allem will ich darüber nachdenken, was diese Träume bedeuten.“
Johannes ließ noch nicht locker, obwohl er schon etwas beruhigter schien: „Felix, das war bestimmt 'ne gute Entscheidung. Vielleicht findest du wieder in die Realität zurück, wenn du was anderes siehst als Trö ..., sorry, Antiquitäten. Der olle Kram hat dir nicht nur das Hirn lahmgelegt, sondern auch deine Hose. Irgendetwas muss dieser Staub beinhalten, was nicht gesund ist für dich.“ Beschwichtigend hob er die Hände gegen mögliche Einwände von meiner Seite und beruhigte mich mit einer neuen Tasse Kaffee. „Aber glaube mir, wenn das nicht aufhört mit deiner Träumerei, dann musst du was unternehmen. Ich kenne da einen guten Therapeuten in Kiedrich ...“
Ich unterbrach ihn. „Du meinst einen Seelenklempner? Nein, danke! Das habe ich alles schon hinter mir.“
„Also nix gegen Klempner, gell? Aber fahr mal in Urlaub, das wirkt Wunder. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir alles Gute für deine Reise wünsche. Wo fliegst du noch mal hin?“
„Nach Ios über Santorin. Ich war vor ein paar Jahren im Hafen dort während eines Segeltrips durch die Kykladen. Ist herrlich ruhig dort. Das letzte was ich brauchen würde, ist ein Urlaub am Ballermann. Aber das habe ich dir schon ein paar Hundert Mal erzählt.“
„Ach ja, gestern Abend noch. Jetzt fällt es mir ein. War wohl ein Riesling zu viel. So, und jetzt muss ich los!“ Er stand auf und musterte noch einmal seine leere Tasse.
„Melde dich mal zwischendurch, wie es dir geht, okay?“
„Ja, klar.“ Ich begleitete ihn noch bis ins Erdgeschoss an die Ladentür. Dort gab er sich die Klinke mit meiner Mitarbeiterin Monique in die Hand, die uns mit strahlendem Lächeln begrüßte.
„Bon Jour, Herr Menzl. Sie sind schon wach? Ich 'abe gedacht, Sie 'aben doch Urlaub!“
„Ausnahmsweise, ja. Reisevorbereitungen“, schummelte ich und blickte auf Johannes. Dieser konnte nicht umhin, vielsagende Blicke zwischen Monique und mir zu wechseln. Hinter ihrem Rücken formte er mit seinen Händen ihre Figur nach. Mein warnender Blick hielt ihn aber von weiteren Bemerkungen ab.
„Übrigens, Jo“, ich konnte mich nicht beherrschen, ihm noch eine Denksport-Aufgabe mit auf den Weg zu geben. „Um auf den Beginn unseres Gespräches zurückzukommen, Ramses und Kleopatra sind sich nie begegnet. Da liegen etwa 1200 Jahre dazwischen!“
„Schade eigentlich, aber das passt ja ...“, bemerkte er noch, dann drehte er sich um und entschwand über den Marktplatz in Richtung Rathaus. Mit diesem trockenen Kommentar hatte er den Ball wieder zu mir zurückgespielt.
Ich stand im Eingang meines Ladens und sah hinüber zur Geisenheimer Kirche, die wegen ihrer Größe und Schönheit auch Rheingauer Dom genannt wurde. Der spätgotische Bau mit seiner Doppelturmfassade prägte weithin die Silhouette der Stadt und strahlte eine Würde aus, die nach meiner Meinung von keinem anderen Gebäude im Umkreis übertroffen wurde. Am Fuß des Domes hatte ich meine Kindheit verbracht, und wenn ich nach langen Reisen nach Hause kam, war es mir wohl ums Herz, wenn ich schon von Weitem seine Türme sah. Hier war ich aufgewachsen. Und auch wenn dieser kleine Ort sein Gesicht in den letzten Jahren verändert hatte, hier war meine Heimat, meine Wurzeln. Obwohl ich schon Einiges von der Welt und viele schöne Flecken gesehen hatte, im Schatten des Domes hatte ich mich immer zu Hause gefühlt.
Bereits mein Großvater hatte vor mehr als 70 Jahren den Handel mit alten Möbeln und Antiquitäten begonnen. Mein Vater hatte es von ihm übernommen. Er hatte sich auf alte Schriften und Bilder spezialisiert. Er hatte ein glückliches Händchen bewiesen und mit 50 Jahren ein kleines Vermögen geschaffen, das es ihm und meiner Mutter ermöglichte, nach Kanada zu übersiedeln und sich an der Westküste seines Lebens zu freuen. Am meisten tat er das, wenn er einen großen Lachs gefangen hatte.
So war auch ich in den Antiquitätenmarkt eingestiegen und es war mir gelungen, den Handel über das Internet weltweit auszudehnen. Mit Hilfe von Handy, Laptop und einer Internet-Verbindung war ich in der Lage, Gegenstände zu vermitteln und zu handeln, ohne dass sie je in meinem Laden standen. Diese Art von elektronischem Antiquitätenmarkt war mittlerweile zu dem größeren Teil meines Einkommens angewachsen. Meine Mitarbeiterin Monique war mehr mit Korrespondenz im Netz beschäftigt als im Laden selbst. So manch ein Geisenheimer machte sich so seine Gedanken, wie man von einem Geschäft leben konnte, in dem sich kaum ein Kunde befand.
Für die jüngere Generation war ein Computer ein ganz normales Zubehör, wie ein Fernseher für unsere Eltern. Aber für die älteren Bürger von Geisenheim blieb es wohl für immer ein Rätsel, wie man mit einem Computer Geld verdienen konnte. So kam ich jedoch ohne ein großes Ladenlokal und mit einer einzigen Mitarbeiterin aus.
Monique war ein wahres Organisationstalent. Während sie die morgendliche E-Mail abholte, hatte sie schon Kaffee gekocht und mir eine Tasse hingestellt. Eigentlich war mein Pensum an Kaffee voll für heute, aber ihrem fürsorglichem Blick konnte ich nicht widerstehen.
„Sie sehen etwas müde aus, haben Sie nicht gut geschlafen?“ „Doch, aber nur etwas zu kurz. Ich bin erst um 3 Uhr zum Schlafen gekommen.“
Sie erschrak plötzlich und kam auf mich zu. „Isch 'abe ganz Ihre Geburtstag vergessen!“ Ehe ich mir es versah, hatte sie mir einen angedeuteten Kuss auf die Wange gehaucht, der mich etwas erröten ließ. Ich war froh, dass Johannes schon weg war, eine dumme Bemerkung wäre mir sicher gewesen. Schon saß sie wieder am Computer und sortierte die Korrespondenz.
Ich hatte Kontakte zu Experten im Ausland geknüpft, die mir notfalls zur Seite standen, um Gegenstände zu datieren und zu beurteilen. Das ersparte mir viele unnötige Reisen, was sich günstig auf meine Verkaufspreise auswirkte. Monique hatte gemeinsam mit mir eine Homepage entwickelt, mit der wir weltweit werben konnten. Vor einiger Zeit war sie sogar mit einer kleinen Summe als Beteiligung an meiner Firma eingestiegen. Meine Freunde hatten alle die Hoffnung, dass sie auch privat mit mir ein Team bilden würde, aber sie war seit Längerem verlobt. Außerdem war ich glücklich über eine so hervorragende Mitarbeiterin und war auch gut damit gefahren, Geschäft und Privates zu trennen, zum Kummer von Johannes.
Ich beschloss, die Überdosis Kaffee mit einem Spaziergang durch Geisenheim zu verarbeiten. Insgeheim musste ich schmunzeln. Mein Freundeskreis machte sich mehr Gedanken um mein Liebesleben als ich selbst. Dabei war ich erst ein halbes Jahr wieder Single. Nein, meine wahren Sorgen waren diese Träume, die so intensiv waren, dass ich sie als Erinnerung empfand. Sie schienen sich mehr und mehr in mein Leben zu drängen und mir kam es vor, als wollten sie mich in eine bestimmte Richtung dirigieren. Ich schüttelte unbewusst meinen Kopf, um einen klaren Gedanken zu fassen und ging die Fußgängerzone aufwärts Richtung Rathaus. Sinnierend blieb ich vor dem alten Lindenbaum stehen, dem der Platz vor dem Rathaus seinen Namen verdankte. Er war gewiss über siebenhundert Jahre alt, aber so genau wusste das keiner. Anbetracht seines hohen Alters hätte er wohl lächeln können über die Sorgen, von denen man sich den Tag vermiesen ließ. Können Bäume lächeln? Ich glaube, dieser ja.
In früheren Zeiten hielt man Gericht unter der Dorflinde. Dazu bog man die Äste in drei Etagen übereinander rund um den Stamm, um einen natürlichen Schirm zu erzeugen. Alle Äste, die dazwischen waren, wurden entfernt; die drei Schirme durch Biegen und Schneiden in Form gehalten. Was über der Schirmkrone wuchs, konnte frei wachsen. So hatte die Linde im Laufe der Jahrhunderte eine charakteristische Form erhalten. Sozusagen eine Doppelkrone.
Aber leider hatten ihr Baumaßnahmen an der Straße, bei denen man große Mengen an Wurzeln kappte, defekte Gasleitungen und asphaltierte Oberflächen dermaßen zugesetzt, dass die Linde erkrankte und der obere Teil der Krone entfernt werden musste. Umfangreiche Sanierungsmaßnahmen verhinderten Schlimmeres. Und so stand wenigstens die Schirmkrone heute wieder voll im Saft und war wieder so stark ausgetrieben, dass man sie sogar etwas zurückschneiden musste. Ich liebte diesen Baum für diese unerschütterliche Lebenskraft, die er ausstrahlte. Die Linde hatte für mich ein Gesicht, das lächeln kann. Auch heute war sie wieder ein Treffpunkt für Jung und Alt, der neueste Klatsch und Tratsch unter ihrem grünem Dach trieb ebensolche Blüten wie die Linde selbst.
So schlenderte ich weiter aufwärts über die Bahnschienen und stieg auf zum Gipfel des Rothenberges, ein kleiner Hügel, um den die Stadt im Laufe der Jahre herumgewachsen war. Das Kreuz am höchsten Punkt erinnerte daran, dass einst eine Mühle dort stand. Ich stellte mich vor die Bank, die hier zur Rast einlud. Man hatte einen Blick auf den gesamten Rheingau, von der Landeshauptstadt Wiesbaden und Mainz gegenüber, rheinabwärts bis zum Binger Loch und Rüdesheim. Hoch über den Hügeln grüßte das Niederwald-Denkmal mit seiner Germania-Statue. Als dünne Linie war die Seilbahn zu sehen, die die Touristen nach oben brachte. Weiter rechts in den Weinbergen lag die Abtei der heiligen Hildegardis, und wenn man sich ganz nach rechts umdrehte, schweifte der Blick über die Wälder des Rheingaus bis zum Schloss Johannisberg, dem Sitz der Fürsten von Metternich.
Hier oben war die drückende Schwüle des Spätsommers einem angenehmen Lüftchen gewichen, das über die Weinberge strich. Silbern glitzerte der Strom des Rheins in der Sonne und nur ein paar Schönwetterwolken waren am Himmel zu sehen. Weiß strahlende Schiffe der Köln-Düsseldorfer-Flotte zogen am Geisenheimer Dom vorbei, der sie majestätisch grüßte. Bis hierher trug der Wind das gleichmäßige Brummen der Schiffsmotoren. Dieser Sommer war nicht gerade von Schönwetterperioden verwöhnt, aber an Tagen wie diesem fragte man sich schon, warum man den Rheingau überhaupt verlassen sollte. Ich genoss die hervorragende Aussicht und machte mich auf der Rastbank breit. Die Bewegung und die Luft taten mir gut. Wenn diese Träume nicht wären, hätte mein Leben kaum besser sein können. Ich musste unwillkürlich daran denken, wie alles begann:
Es war ziemlich genau vor zwei Jahren, also kurz nach meinem dreiunddreißigsten Geburtstag, als ein Freund meinen Laden betrat. Peter war Kommissar beim Landeskriminalamt Wiesbaden. „Das Verbrechen schläft nicht!“ war seine leidvolle Erfahrung, denn er hatte dadurch zu Zeiten Dienst, wenn andere schon oder noch schliefen. Wir bekamen uns nicht so oft zu Gesicht, auch am meinem Geburtstag spielte er mal wieder Räuber und Gendarm. So war ich recht erfreut, als er mein Geschäft beehrte
„Ja, Hallo! Du lebst noch?“
„Grüß dich, Felix. Hast du mit meiner Frau gesprochen? Die hat mich heute das Gleiche gefragt.“
„Wann du es geschafft haben solltest, zwei Kinder in die Welt zu setzen, ist mir auch ein Rätsel. Aber schön, dass du hier bist. Wie komme ich zu der Ehre? Brauchst du ein Präsent für euren Jahrestag?“
Ein heiliger Schrecken fuhr in seine Glieder. „Au, ach weh, den hätte ich glatt verpasst, hast du was für mich?“
„Wie wäre es mit dieser Biedermeier-Kommode hier?“
Ich deutete auf ein Möbelstück. „Ich hab nix ausgefressen, also darf es schon was Preiswertes sein. Ich bin Familienvater und kein Lottomillionär.“ Nach kurzer Suche fand er etwas Passendes, es war eine kleine Schmuckdose mit einer Spieluhr im Deckel. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten ...“ erklang beim Öffnen der Dose.
„Deine Frau wird stolz auf dich sein“, lobte ich ihn. „Aber noch mal von vorne, was wolltest du denn eigentlich von mir?“
Er zog einen faustgroßen Gegenstand aus seiner Jackentasche, der in ein Stofftuch gehüllt war. „Wir haben letzte Nacht einen kleinen Dealer hochgenommen. Er hatte das hier dabei.“ Er legte es auf die Theke und begann es auszuwickeln. Es war ein faustgroßer Skarabäus aus einem grünlich schimmernden Stein.
„Der kleine Ganove behauptet, das wäre ein fabrikneues Souvenir aus Ägypten. Aber der sieht reichlich alt aus. Mich würde interessieren, was du meinst. Wenn seine Behauptung stimmt, würde ich mich recht blamiert fühlen.“ Ich hatte nie mit ägyptischen Antiquitäten gehandelt. Teilweise war es strafbar und das meiste war sowieso im Besitz von Museen. Aber dieser Skarabäus war interessant. Ich hatte von meinem Vater ein paar Hieroglyphen zu entziffern gelernt. Ich nahm den Skarabäus mit dem Tuch in die Hand und betrachtete ihn von oben und den Seiten.
„Solche Skarabäen waren Glücksbringer und oft auch Propaganda in Stein. Die Pharaonen haben oft Hunderte Skarabäen fertigen lassen, immer mit gleichem Text, um ihre Taten im Land bekannt zu machen.“
„So 'ne Art Bild-Zeitung vielleicht?“, versuchte er zu verstehen.
„Ja, so ähnlich, aber mit gewichtigerem Inhalt. Betrachten wir uns mal die Unterseite.“
Der Skarabäus ruhte die ganze Zeit auf dem Tuch in meiner Hand. Jetzt wollte ich ihn mit der anderen Hand umdrehen und berührte ihn direkt. Wie ein Blitz durchfuhr es mich schlagartig, und meine Hand krampfte sich um den Skarabäus. Ich sah plötzlich Bilder vor mir, die binnen Sekunden auf mich einstürzten. Als wenn jemand ein Fenster öffnet und sofort wieder schließt; bevor man verstand, was man gesehen hatte, war es wieder verschwunden. Aber es waren Tausende Bilder, ich hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen. Ich hörte Stimmen, die wie von weit her zu mir sprachen, ohne dass ich sie verstand. Ich taumelte und griff mir ans Herz, das wild zu rasen begann. Ich fand Halt an der Theke, gleichzeitig war Peter zur Stelle, um mich aufzufangen.
So schnell, wie es kam, war es wieder vorbei. „Was ist mit dir? Soll ich einen Arzt holen?“ Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Nein, nichts“, log ich. „Nur ein paar Kreislauf-Probleme, ich kann nachts in dieser Hitze nicht richtig schlafen. Außerdem müsste ich mehr trinken.“ Ich hatte mich etwas gesammelt, um ihm wieder zu antworten.
„Junge, Junge, Felix, ich hab schon gedacht, mein Erster-Hilfe-Schein kommt zum Einsatz. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“
„Thutmosis, der Dritte!“, stammelte ich.
„Was?“
„Thutmosis, der Dritte! Der Skarabäus ist echt!“
Peter blickte mich entgeistert an. „Du hast ihn ja kaum angeschaut!“ Erst jetzt fiel mir auf, dass ich den Stein noch in der Hand hielt; sie zitterte etwas. Ich zeigte ihm ein Zeichen, das von einem ovalen Ring umgeben war.
„Das ist eine Kartusche. Darin ist der Name des Pharaos eingraviert.“ Innerhalb der Kartusche war das Zeichen einer Scheibe mit einem Punkt in der Mitte, ein Käfer und eine Art Spielbrett zu sehen. „Der Skarabäus ist etwa 1450 vor Christus hergestellt.“
„Felix, du bist ein Phänomen. Erst fällst du mir halb tot in den Arm, dann bestimmst du mit einem Blick das Alter von diesem Stein. Aber ich danke dir. Jetzt müssen unsere Profis ran.“ Er nahm mir den Skarabäus aus der Hand und wickelte ihn wieder in das Tuch ein. „Aber trink mal 'nen Eimer Wasser. Du siehst immer noch etwas blass aus.“ Er legte mir zum Abschied den Arm um die Schulter und verließ mich.
Ich ging erstmal hinter dem Haus in den Garten, um frische Luft zu schnappen. Jetzt erst bemerkte ich, dass meine rechte Hand schmerzte. Ein paar der Hieroglyphen waren noch als Abdruck zu sehen. Sie hoben sich weiß ab gegen die restliche Handinnenfläche, die rot war und wie Feuer brannte. Wie eine lang vergessene Erinnerung hörte ich eine Stimme, die wie von weit her zu kommen schien. Aber unbewusst sprach ich die Worte nach, die sich in meinem Kopf breitmachten:
„Hört die Worte des Thutmosis: Groß ist Amun-Re, er hat mich zu seinem Pharao gemacht. Die Ketzer sind besiegt!“ Ich hatte die Hieroglyphen kaum gesehen, geschweige denn entziffert. Woher kannte ich den Text? Ich wusste es nicht und war froh, dass mir niemand in diesem Moment diese Frage stellte. Ich spürte immer noch ein Stechen in der Brust. Da ich alleine war, öffnete ich mein Hemd, um Luft zu bekommen. Als ich an mir herabsah, fiel mein Blick auf mein Muttermal auf der linken Brust.
Seit meiner Geburt war es dort vorhanden, aber relativ blass und unscheinbar. Es hatte mir nie Probleme bereitet, aber jetzt brannte es wie meine Hand und war feuerrot. Es war vielleicht so groß wie ein Euro-Stück. Wie die Beine eines Käfers liefen einige Adern aus seinem fast kreisrunden Zentrum. Erst in dieser Situation wurde mir die Ähnlichkeit mit dem Skarabäus bewusst und mir war es himmelangst. Nur langsam konnte ich mich beruhigen. Das Brennen wurde schwächer und die Rötung ließ nach, aber wie eingebrannt waren mir die Worte im Gedächtnis. „Die Ketzer sind besiegt!“
Allmählich verblasste das Bild vor meinem inneren Auge und ich saß immer noch auf dem Rothenberg. Mit einem Seufzer erhob ich mich von der Bank und machte mich auf den Heimweg. Es war fast Mittag geworden, als ich am Marktplatz ankam.