Читать книгу Die Sphinx des digitalen Zeitalters - Rainer Patzlaff - Страница 15
1. An der Schwelle zu einem neuen Zeitalter
ОглавлениеDas Zeitalter der Digitalisierung hat begonnen – so lautet das Mantra der Industrie, der Wirtschaft und Politik, das uns täglich entgegentönt. «Digitalisierung» ist zum Leitbegriff unserer Epoche geworden. Viele wissen zwar gar nicht, was er genau beinhaltet, doch meint man sicher zu wissen, dass in ihm der Schlüssel für die Zukunft der Menschheit liege. Nicht anders als die Industrielle Revolution, die vor mehr als 200 Jahren die moderne Industriegesellschaft heraufführte, werde jetzt die Digitale Revolution eine umwälzende Veränderung des gesamten Lebens auf der Erde bewirken, so die allgemeine Erwartung.
In der Tat: Atemberaubend schnell sind in den letzten Jahrzehnten auf der Grundlage der Digitaltechnik elektronische Geräte und Systeme erfunden worden, die für unsere Großeltern noch jenseits des Vorstellbaren gewesen wären. Die Entwicklung schreitet derartig rasant voran, dass mit Recht von einem tiefgreifenden Wandel gesprochen wird, dessen Dimensionen gewaltig sein werden. Jedoch ist dieser Wandel – wie jeder große Umbruch in der Menschheitsgeschichte – nicht nur von Hoffnungen getragen, sondern auch von Ängsten begleitet. Begeisterung und Euphorie paaren sich zunehmend mit Furcht und Sorge. Paradoxerweise aber wirken im Falle der Digitaltechnik Angst und Sorge bisher nicht hemmend auf den Fortschritt, sondern sind selbst zu Triebfedern der Entwicklung geworden. Dieser überraschende Befund ergibt sich bereits bei einem Blick auf die Anfänge.
Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA die Computertechnik zu etablieren begann, waren Forscher und Wissenschaftler fasziniert von den Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz elektronisch gesteuerter Rechner eröffneten. Gefördert von der ARPA, einer Forschungsagentur des US-Verteidigungsministeriums, verbanden sie ab 1969 die Großcomputer mehrerer US-Universitäten zu einem Netz, das unter dem Akronym ARPANET bekannt wurde. Dahinter stand zunächst nur der Wunsch der Wissenschaftler, die Ressourcen dieser Rechner durch einen landesweiten Datenaustausch besser zu nutzen. Die US Air Force indes verfolgte damit noch ein ganz anderes Interesse, das sich nicht aus der Begeisterung für die neue Technik speiste, sondern aus der Angst vor einer drohenden militärischen Gefahr, die sich abzuzeichnen begann:
Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten befanden sich zu jener Zeit im Kalten Krieg mit der Sowjetunion und ihren Vasallen und bangten nach dem Sputnik-Schock von 1957 sowohl um ihre globale technische und wirtschaftliche Überlegenheit wie auch um ihre nationale Sicherheit. Dass die Sowjets als Erste über eine Rakete verfügten, mit der man Satelliten in den Weltraum befördern konnte, bedeutete, dass sie künftig auch in der Lage sein würden, atomar bestückte Raketen auf das Gebiet der USA zu richten. Hätte man dort das militärische Computernetz zentral strukturiert, hätte ein Raketentreffer es möglicherweise auf einen Schlag vernichten können, mit verheerenden Folgen für die gesamte Kriegsführung der USA. Deshalb setzte die US Air Force auf die dezentrale Struktur, die ihr Forscher Paul Baran bereits zu Beginn der 1960er-Jahre zum Schutz gegen einen vernichtenden Atomschlag vorgeschlagen hatte, und eben dadurch wurde das ARPANET unbeabsichtigt zum Vorläufer des heutigen Internets.
Schon bald aber entdeckte der US-Geheimdienst NSA (National Security Agency), dass die viel größere Gefahr in den Computern selbst lauerte, weil sie statt von außen auch von innen attackiert und zerstört werden konnten: Daniel J. Edwards, ein NSA-Mitarbeiter, stellte 1972 eine Studie vor, der zufolge es trotz oder gerade wegen der Dezentralisierung möglich sei, in den bestehenden elektronischen Datenverkehr ein feindliches Computerprogramm einzuschleusen, das sich hinter einem unverfänglich erscheinenden Dokument verbirgt, beim Herunterladen nicht bemerkt wird und sich sofort in die befallene Festplatte einnistet, um von dort aus je nach Absicht des Absenders wirksam zu werden.
Das war anfangs eine rein theoretische Überlegung, doch mit ihr war eine Idee geboren, die bald darauf weltweit zu einer realen Bedrohung wurde. Sie bereitet bis heute allen Benutzern digitaler Geräte Sorge, denn wer sein Gerät mit dem Netz verbindet, muss damit rechnen, dass er sich ungewollt ein Schadprogramm einfängt, das schrittweise oder auch schlagartig die Herrschaft über seinen Computer übernimmt, indem es heimlich Daten abfängt, Passwörter ausspioniert, Programme manipuliert oder den Zugang zu allen Dateien blockiert und sie im schlimmsten Falle sogar zerstört. Diese Gefahr wiederum führte einerseits zur Entwicklung ständig aktualisierter Antivirenprogramme, die den Computer schützen sollen, und andererseits bei Kriminellen zur Entwicklung immer neuer Schadprogramme zur Überwindung ebenjener Abwehr. Ein nicht endender Wettlauf entstand, wie der zwischen Igel und Hase im Märchen.
Doch zurück zu Edwards: Auf der Suche nach einem einprägsamen Titel für seine Studie besann er sich auf den griechischen Mythos von der Stadt Troja, die nicht auf reguläre Weise durch eine militärische Niederlage unterging, sondern durch das sorglose Hereinholen eines hölzernen Pferdes in die Stadt, in dem feindliche Soldaten versteckt waren. Nach diesem Vorbild taufte er das unbemerkt in den Computer gelangte Schadprogramm auf den Namen «Trojanisches Pferd» (meist abgekürzt «Trojaner» genannt).