Читать книгу Die Sphinx des digitalen Zeitalters - Rainer Patzlaff - Страница 21
Eine Leere, die nicht leer bleibt
ОглавлениеWas bedeutet diese Entwicklung für uns Menschen? Können und sollen wir tatenlos zusehen, wie die Allgegenwart digitaler Technik unser Leben verändert? Wird sie wirklich nur zu unserem Nutzen sein, wie die Verfechter beteuern, oder bezahlen wir den Nutzen schleichend mit dem Verlust eigener Fähigkeiten und Freiheiten? Erliegen wir der Illusion, die digitale Revolution werde uns weder gesundheitlich noch psychisch noch geistig unberührt lassen? In den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass eine neu eingeführte Technik nicht nur die Welt veränderte, sondern stets auch die Menschen selbst in ihrem Denken, Fühlen und Handeln.
Das wird jetzt nicht anders sein. Die Frage ist nur: Welcher Art werden dieses Mal die Veränderungen sein? Gehen wir womöglich einem menschheitlichen Massenexperiment mit ungewissem Ausgang entgegen?
Um zu einer realistischen Einschätzung zu kommen, scheint es mir notwendig, auf eine wenig beachtete Tatsache zu blicken, die zu den Fundamenten der Digitaltechnik gehört. Der binäre Rechner arbeitet mit einer «Intelligenz», die gar keine ist, sondern ein inhaltsleerer Maschinenprozess, der zwar logische Denkstrukturen imitiert, aber nicht die geringste Verbindung hat zu der Lebenswirklichkeit, aus der die Daten stammen. Weder hat er sie zu den Objekten, die er abbildet, noch zu den Menschen, die sich in der Welt betätigen. Zu jedem Gemälde gehört ein Maler, zu jedem Buch ein Autor, zu jedem Musikstück ein Komponist, zu jeder Aufführung ein Interpret, und auch zum Aufsetzen des Computerprogramms gehört ein Mensch mit individuellen Zügen und persönlicher Prägung. Nichts von alledem findet Eingang in die Abfolge der Bits und Bytes. Daher ist es berechtigt zu sagen: Die Abläufe des digitalen Rechners sind im wörtlichen Sinne «ent-menschlicht».
Das ist nicht als moralischer Vorwurf zu verstehen, sondern als ein feststehendes Faktum von großer Tragweite. Denn aus der absoluten Leere gegenüber Welt und Mensch resultiert, wie ausgeführt, die universelle Einsetzbarkeit des Computers, resultiert aber auch die häufig vorgetragene Behauptung, die digitalen Medien seien weder gut noch schlecht, sondern ein ganz neutrales Instrument wie jedes andere technische Gerät; man müsse nur vernünftig mit ihnen umgehen. Mit dieser These wird bewusst oder unbewusst ein gravierender Trugschluss verbreitet, denn die Wirklichkeit zeigt ein anderes Bild:
Vergleichbar einem physikalischen Vakuum übt auch die perfekte menschliche Leere des Rechners einen gewaltigen Sog aus. Sie kann zwar als Plattform für sinnvolle und nützliche Anwendungen dienen; doch weil sie völlig ohne den Menschen agiert, saugt sie in erschreckendem Umfang auch unmenschliche Neigungen an: Sie wird immer häufiger genutzt, um unerkannt Machtgelüste auszuleben, krassesten Egoismus und niederste Instinkte zu befriedigen. Man kann gefahrlos Betrug, Manipulationen und sogar kriminelle Handlungen organisieren, weil sich die Herkunft solcher Angriffe im Internet technisch verschleiern lässt, sodass die Täter anonym bleiben. Von einem «vernünftigen Umgang» kann da keine Rede sein; vielmehr meldet sich das Pferd von Troja zurück. Spezialisten setzen aus dem Hinterhalt sogar sogenannte Bots ein, automatische Computerprogramme, die im weltweiten Netz massenhaft bestimmte Aufgaben selbstständig und vor allem unbemerkt durchführen. Der Entleerung von allem Menschlichen ist also nicht nur technisch, sondern auch moralisch Tür und Tor geöffnet.