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1. Die Tote, die sich bewegt
ОглавлениеDie Glocke der kleinen Friedhofskapelle läutete nun schon seit fünf Minuten den Beginn der Trauerfeier ein.
Es regnete schon den ganzen Tag und es war kalt an diesem Herbsttag. Viel zu früh war der Herbst gekommen und es war für die frierenden Trauergäste kein Trost, dass es noch einmal, der Wettervorhersage nach, warm werden sollte.
Die Heizstrahler an den Seitenwänden im Innenraum der kleinen Kapelle konnten den Trauergästen nur bedingt Wärme spenden. Um Stromkosten zu sparen, hatte man jeweils einen der zwei eintausend Watt - Glüheinsätze herausgenommen. So war der Raum nur mäßig warm und die warme Luft nur im Deckenbereich der Kapelle spürbar. Wer direkt unter einem Heizstrahler saß, bekam allerdings bald einen überhitzten Kopf.
Ist es im Allgemeinen nicht sonderlich gut zu sterben, in der kalten Jahreszeit ist es aber besonders schlecht, wenn auch nicht für den Verstorbenen selbst, so doch für die Trauergäste.
Diese saßen meist auf den kalten Holzbänken, da nicht für alle ein Sitzkissen bereit lag. Viele hatten kalte Füße und bewegten ihre Zehen. Andere rieben sich auch die Hände. Manche Herren hätten lieber die Mützen oder Hüte aufbehalten, was aber dem ungeschriebenen Gesetz des christlichen Empfindens in einer kirchlichen Einrichtung entgegen sprach. Aus Pietätsgründen musste man die Kopfbedeckung abnehmen, egal wie kalt es gerade war, da kannte der Herr keine Gnade. Kam ein Mann dieser allseits bekannten Forderung, das Haupt zu lüften, nicht sofort nach, so erntete er abfällige Blicke seiner Nachbarin, die wie gebannt auf den Hut starrte und deren Blick sich erst von ihm löste, wenn sich dieser in den Händen des Herrn und nicht mehr auf seinem Haupt befand. Manche Frauen allerdings behielten ihr Kopftuch auf.
Die Verstorbene war erst siebzehn Jahre alt und vor sechs Tagen bei einem Autounfall in Hamburg ums Leben gekommen. Nun lag Saskia Gebert in einem Sarg aus Eichenholz, der an den Rändern mit maschinell hergestellten, verleimten Leisten verziert war und dessen sechs Tragegriffe aus massivem Messing bestanden. Dem Betrachter konnte es bei längerem Hinschauen auf den Sarg und dessen Messinggriffe vorkommen, als kämen diese aus Secondhandbeständen des Bestatters, da sie abgenutzt waren und sicherlich nicht, wie in der späteren Rechnung ersichtlich aufgelistet, als Neuware deklariert waren.
Der Sarg war teuer und die Sterbegeldversicherung, die die Eltern vor vielen Jahren für die ganze Familie abgeschlossen hatte, reichte für die Beerdigung nicht aus, da ein Selbstbehalt von fünfhundert Euro im Vertrag, zwar nur ganz klein, jedoch lesbar, vereinbart war.
Saskias Vater wollte nach Erhalt der Rechnung die Versicherung um Stellungnahme bitten, doch seine Frau war dagegen. Sie wollte Ruhe und keinen Streit mit den Behörden. So wurde auch später nicht mit dem und nicht über das Beerdigungsunternehmen gesprochen. Was man dort mit Zufriedenheit vernahm und einen Haken an den Fall machte. Die vielen anderen Haken, die für die vielen anderen gebrauchten Neugegenstände aus den Jahren voher standen, waren ja ebenfalls ohne Nachfrage durchgegangen. Bei einer Beerdigung wurde nicht so oft reklamiert wie bei jedem anderen Kauf.
Besonders tragisch war es, dass auch Saskias Bruder erst vor wenigen Monaten verstorben war und die Eltern somit einen herben Doppelverlust hinnehmen mussten. Im Ort trauerte man mit den Eltern und vertrat die Auffassung, dass das Schicksal manche Menschen schon sehr hart treffen konnte. In einem kleinen Ort, wo man sonntags noch zur Kirche ging, stellte der eine oder andere sich die unbeantwortete Frage, warum Gott so etwas zulassen konnte.
Der Autofahrer war direkt auf das Mädchen zugefahren, hatte sie mit der Stoßstange erwischt, sie hochgeschleudert und sie war mit dem Kopf in die Windschutzscheibe gekracht. Dann war sie über das Dach des Wagens geschleudert worden. Sie flog sechs Meter durch die Luft und landete dann mit dem Kopf zuerst auf dem Asphalt, wobei ihr Genick mit einem hässlichen Knacken zerbrach, fast so wie der Hals einer Flasche, die auf eine Tischkante aufschlug. Bis auf die Abschürfungen an der rechten Gesichtshälfte, an den Knien und am rechten Oberschenkel sowie dem Bruch eines Handgelenkes hatte sie aber keine äußeren Verletzungen. Das nützte ihr herzlich wenig, denn sie war trotzdem mit sofortiger Wirkung tot.
Der Autofahrer fuhr zurück, hielt an, stieg aus und ging schnellen Schrittes zu dem Mädchen hin. Er schaute sie an, sah die getrübten Augen, die sich nicht bewegten und ihm war sofort klar, dass sie nicht mehr am Leben war. Er wollte sie nicht töten, hatte aber ihren Tod billigend in Kauf genommen. Er hatte halt zu spät gebremst. Absichtlich zu spät. Er wollte sie lediglich mit ihrem ‚Gepäck’ sicherstellen. Er hätte ihr aber zu Fuß nicht folgen können. Sie war ihm schon am Flughafen entkommen, denn sie war schnell in ihren weißen Turnschuhen mit den drei schwarzen Streifen. So dachte er sich, wenn du sie leicht mit dem Auto erwischst, kann sie nicht so schnell weglaufen. Das war nun in die Hose gegangen.
Er zuckte mit der Schulter und sagte zu sich selbst:
„Na, wenn schon. Du bist ersetzbar!“
Er öffnete den Kofferraumdeckel und wollte den leblosen Körper des Mädchens gerade hochheben, als er ein anderes Fahrzeug bemerkte, das zwar noch weit entfernt war, sich aber schnell näherte. Diese Gegend am Rande von Hamburgs Innenstadt wurde um diese Tageszeit nachts um halb zwei Uhr sonst eher weniger befahren. Ausgerechnet jetzt kam ihm ein Fahrzeug in die Quere.
Er fluchte.
„Mist!“
Nur dieses eine Wort kam über seine Lippen, dann schloss er schnell den Kofferraumdeckel wieder, stieg noch schneller in seinen Wagen und gab Gas. Das Mädchen musste er auf der Straße liegen lassen. Es blieb keine Zeit mehr, um sie einzuladen, sonst hätte man wohl sein Nummernschild erkennen können.
Die Polizei, gerufen von dem Fahrer, der gerade sein Fahrzeug neben der Toten zum Stehen brachte, nahm den Unfall mit Fahrerflucht eine halbe Stunde später auf. Die Hamburger Polizei informierte die Kollegen des Präsidiums Mittelhessen sofort. Noch am selben Tag überbrachten morgens um sieben Uhr fünfzehn zwei Beamte den Eltern der Toten die Hiobsbotschaft.
Das Kennzeichen hatte der Zeuge nicht erkennen können, da sich das Fahrzeug mit großer Geschwindigkeit entfernt hatte. Nur dass es ein großer Wagen, BMW, Audi oder Mercedes war, schwarz oder dunkelblau, wusste er zu berichten.
Der Polizeibeamte gab seine Beschreibung noch am Unfallort über Funk an die Zentrale weiter, in der er die Farbe dunkelblau ausschloss, da nach seiner Meinung Autos solcher Preisklasse nicht in „Blau“ gekauft würden und die Annahme des Zeugen, es sei ein dunkelblauer Wagen gewesen, eher auf die Dunkelheit und somit auf die schlechten Sichtverhältnisse zurückzuführen sei.
Er war der Annahme, dass ein großer Wagen von einem betuchten Eigentümer, der einen erlesenen Geschmack besaß, gefahren wurde. Also konnte es keine Farbe Blau sein.
Die Fahndung nach einem Wagen in ‚Schwarz’ der gehobenen Preisklasse, welcher eventuell einen Unfallschaden im Frontbereich haben könnte, verlief trotzdem ergebnislos.
Als man den Eltern die schlimme Nachricht überbrachte, schrie die Mutter ihren Schmerz heraus, sodass man ihr sofort ein starkes Beruhigungsmittel verabreichen musste. Der Arzt verschrieb ihr ein starkes Mittel in Tablettenform, von denen sie dreimal täglich je zwei Stück am Tag schluckte.
So überstand sie größtenteils teilnahmslos und ohne weitere Schreianfälle die fünf Tage bis zur Trauerfeier in der kleinen Kapelle auf dem Friedhof.
Als die Glocke langsam verstummte und die letzten drei Schläge leiser wurden, breitete sich eine wohltuende Ruhe in dem kleinen Raum der Friedhofskapelle aus.
Dann setzte die Orgel ein.
Der Pfarrer betrat die Kapelle und man konnte ein Räuspern oder dezentes Husten im Raume hören.
Die Organistin haute ordentlich in die Tasten, als ob sie alle düsteren und traurigen Gedanken der Trauergäste damit vertreiben wollte.
Als die Orgel nach drei Minuten endlich verstummte, war es mucksmäuschenstill. Räuspern und Husten hatten aufgehört und man lauschte dem, was da vom Pfarrer gesagt werden sollte.
Man hätte tatsächlich die oft zitierte Stecknadel fallen hören können.
Gerade als der Pfarrer am Anfang seiner Predigt sein ‚gesegnet sei der Herr unser Gott’, loswerden wollte, drang ein Geräusch aus dem Sarg.
Es war nicht laut und in den hinteren Reihen hatte man es kaum vernommen.
Die Angehörigen, ganz vorne sitzend, hatten es jedoch sofort gehört.
Die Mutter der Toten schrie auf. Man sah sich ungläubig an und wusste nicht, was das eben gewesen war.
„Sie lebt! Sie lebt! Habt ihr nicht das Klopfen gehört? Macht sofort den Sarg auf!“
Die Frau war aufgesprungen und auf den Sarg zugelaufen. Sie war wie von Sinnen und rief noch einmal, man solle sofort den Sarg öffnen.
Sie fasste sich mit der rechten Hand an den Bauch und knickte etwas ein.
Sie hatte Schmerzen im Magenbereich und sie kämpfte mit der aufsteigenden Magensäure. Mehrmals musste sie das sich sammelnde Wasser im Mund runterschlucken.
Eine große Betroffenheit breitete sich in der kleinen Kapelle aus. Jetzt standen nach und nach alle Trauergäste auf. Die im hinteren Bereich erfuhren durch Zuflüstern der Vorderen, dass sich im Sarg etwas bewegt hätte. Es entstand ein lautes Stimmengewirr.
Der Pfarrer bekreuzigte sich und sein Blick nach oben suchte die Hilfe und den Beistand seines Herrn.
Ein Onkel der Verstorbenen fasste sich ein Herz und sorgte nun für etwas Ruhe.
„Ruhe! Bitte Ruhe! Seien Sie etwas ruhiger!“
Er trat an den Sarg und stützte seine Schwester, die Mutter der Toten, die nun drohte, trotz der vielen Beruhigungstabletten ohnmächtig zu werden.
Er führte sie zu ihrem Stuhl zurück. Dann rief er nochmals zur Ruhe, was aber nicht notwendig gewesen wäre, da mittlerweile wieder Grabesstille herrschte.
Die Mutter weinte nun und flehte ihren Mann an, doch was zu tun.
„Sie lebt! Ich habe es doch deutlich gehört. Sie hat von innen an den Sarg geklopft! Holt sie da raus! Sofort! Sie bekommt doch keine Luft da drinnen!“
Ihr Mann und ihr Bruder sahen sich ungläubig an.
„Aber sie liegt da doch schon drei Tage drinnen. Da kann sie nicht mehr leben. Der Arzt hat gesagt, dass ihr Genick gebrochen sei bei dem Unfall.“
Die Mutter ließ sich in ihrem Glauben nicht beirren, dass ihre Tochter doch noch leben könnte.
„Macht den Sarg auf! Ich muss sie sehen!“
Die Männer nickten und gingen wieder auf den Sarg zu. Es wurde im Raume nun geflüstert.
Der Pfarrer hob die Arme und ließ sie verzweifelt wieder sinken.
„Jesus sei mit uns!“ Mehr brachte er nicht hervor.
Man begann nun die acht messingverzierten Schrauben, jeweils vier auf jeder Seite des Sarges, die ebenfalls wie die Tragegriffe Gebrauchsspuren zeigten, loszudrehen. Es dauerte ewig lange, wobei die Mutter drohte, zweimal in Ohnmacht zu fallen. Es wurde ihr ein Fläschchen mit Riechsalz unter die Nase gehalten, worauf sie schmerzvoll das Gesicht verzerrte, aber wach blieb.
Dann war der Sarg endlich geöffnet. Man hob den Deckel ab.
Nach und nach standen alle Gäste auf, um einen guten Blick auf die Leiche zu haben.
Diese lag friedlich mit geschlossenen Augen da, die Hände auf dem Bauch gefaltet, als wenn sie schliefe. Man hatte ihr zwar das Gesicht geschminkt und die Lippen rot angemalt, der aufmerksame Beobachter übersah allerdings nicht die blasse, blutleere Farbe am Hals und an den Händen.
Man beugte sich über das tote Mädchen und wer gerade eingeatmet hatte, der drehte sich schleunigst um und war dem Erbrechen nahe.
Ein durchweg übler Geruch machte sich in der kleinen Kapelle breit und vertrieb nach und nach alle Trauergäste. Man flüchtete ins Freie.
Die Mutter sank nun in ihre wohlverdiente Ohnmacht und musste auf den kalten Boden gelegt werden.
Der Pfarrer warf einen genauen Blick auf die Tote. Er stellte fest, dass sich die Hände, die immer noch über ihrem Bauch gefaltet waren, leicht bewegten.
„Oh Herr! Was ist das für ein Zeichen?“
Jedoch fing er sich schnell wieder und sah der Realität ins Auge.
Das Mädchen war tot, toter konnte es gar nicht sein. Blass, kalt und regungslos. Wenn da nicht das leichte Vibrieren der Hände gewesen wäre.
Der Onkel sah die Sache nüchtern.
„Sie ist tot. Etwas in ihrem Bauch gärt, sodass es scheint, als atme sie. Machen wir den Deckel wieder drauf!“
Als die Mutter wieder bei Sinnen war und man ihr erklärte, dass es nur Gase waren, die sich aus dem Körper geschlichen hatten, was das undefinierbare Geräusch betraf, beruhigte sie sich langsam wieder.
Der Vater drängte nun auf eine schnelle Beendigung der Trauerfeier und ein Versenken des Sarges in die Erde.
Die Bitte wurde jedoch vom Pfarrer abschlägig beschieden.
„Ich kann jetzt den Sarg nicht in Gottes Acker geben! In einem solchen Fall muss ich dies den Behörden melden.“
„Aber warum denn? Unsere Tochter ist doch tot! Wir wollen jetzt Abschied nehmen!“
„Seien sie versichert, es ist nur eine Formsache und wir werden sie heute gegen Abend beerdigen.“
Damit verließ er den Raum und eilte zu seinem Auto, in dem er sein Handy gelassen hatte.
Er rief seinen Vorgesetzten, Dekan Blöchlinger, an und erstattete ihm Bericht.
Dieser war überaus erstaunt über die Sachlage und vermutete mit kriminalistischem Gespür ein Verbrechen.
„Ein übler Geruch kam aus dem Sarg? Gott im Himmel! Da wird doch nicht etwa ein Verbrechen geschehen sein und der Autounfall war am Ende nur eine Ablenkung oder sollte zur Vertuschung der Tat dienen?“
Der Pfarrer wollte seinem Chef nicht widersprechen. Und zuckte nur mit der Schulter.
„Äh, ich kann das nicht sagen, da fehlen mir die Kenntnisse. Ich sah es nur als meine Pflicht, Sie zu informieren.“
„Ja, ja, Das war richtig. Ich melde den Fall der Polizei.“
Der Dekan hatte einen alten Schulfreund bei der Staatsanwaltschaft in Gießen, den er kurzerhand anrief und ihm die Sachlage schilderte.
Dieser war nicht sonderlich begeistert von dem Fall, sagte aber sofortige Hilfe zu. In der Tat leitete er eine Untersuchung des Falles ein und instruierte die Kripo Mittelhessen. Gleichzeitig übergab er den Fall seiner Kollegin, die sich, wiederum nach kurzer Sichtung der Lage, mit der Kommissarin Cleopatra Brecht in Verbindung setzte.
Oberkommissarin Cleo Brecht von der Kripo Mittelhessen hörte sich die Fakten an und entschied, tätig zu werden. Im Grunde war sie nicht der richtige Ansprechpartner, da sie sich noch nicht festgelegt hatte, welche Dienstrichtung sie einschlagen wollte. Sie war erst vor wenigen Wochen von der Polizeischule Hamburg nach Gießen gekommen und aufgrund ihres positiven Schulungsabschlusses im Rang einer Oberkommissarin eingesetzt worden. So war sie zunächst erst einmal für die Mordkommission tätig. Da jedoch kein Verbrechen, was auch nur im weitesten Sinne als Mord zu erkennen sei, vorlag, vermutete Brecht, dass man sie im Kommissariat lediglich etwas beschäftigen wolle, womit sie im Prinzip richtig lag.
„Die wollen hier eine ruhige Kugel schieben und überlassen die Ermittlungen mir. Da wird es wahrscheinlich nicht viel zu ermitteln geben.“
Damit lagen allerdings alle, die dieses vermuteten, falsch.