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3. Gase, die sich freikämpfen

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Das Telefongespräch mit dem Ortspfarrer dauerte nicht lange.

„Lassen Sie den Sarg zu. Ich lasse ihn abholen.“

„Wohin bringen sie ihn?“

„Ins Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Gießen-Marburg nach Gießen. Die sollen sich die Tote mal ansehen.“

„Wie lange kann das dauern? Wir wollen sie heute noch beerdigen.“

„Da wird nichts draus. Das verschieben Sie mal lieber.“

„Oh mein Gott! Wie sage ich das den Eltern?“

„Sagen Sie ihnen einfach ‚Gottes Wege sind nicht immer einfach und oft steinig und können dauern, Vers … sowieso’. Das werden sie schon verstehen. Das versteht jeder.“

Oberkommissarin Cleopatra Brecht war sich sicher, dass dies so nie in der Bibel vorkam. Aber es kam ja auch so manches nicht vor, was von der Kanzel gepredigt wurde. Da dürfte der Satz mit ‚Gottes Wegen’ nicht allzu sehr auffallen, sagte sie sich.

Während sich die Trauergemeinde unter einer gewissen Schocksituation längst aufgelöst hatte, kam ein silberfarbener Mercedes Kleintransporter mit schwarzer Aufschrift ‚Rechtsmedizin’ auf den Friedhof gefahren.

Man nahm kurzerhand den kompletten Sarg mit und fuhr zur Uniklinik, wo sich die gerichtsmedizinische Abteilung befand.

Es war nun schon Nachmittag. Der Gerichtsmediziner war auf einen frühen Feierabend eingestellt. So war es seiner Miene anzusehen, dass er nicht gerade begeistert war, so kurz vor Feierabend noch Arbeit zu bekommen.

Als er gefragt wurde, wie lange es denn dauern könnte, war seine Reaktion logisch.

„Mann, Mann, Mann! Das ist ja wie in jedem zweiten „Tatort“. Immer wollt ihr das Ergebnis der Obduktion sofort wissen. Ich habe jetzt Feierabend. Bin schließlich seit sechs Uhr heute Morgen auf den Beinen.“

Das tat dem angesprochenen Beamten auch leid. Doch die Anweisung seines Dienststellenleiters war, möglichst Druck zu machen und den Fall schnell abzuschließen.

„Ja. Glaube ich dir ja. Aber was soll ich machen? Die Herren da oben wollen es nun mal so schnell wie möglich haben.“

Der Mediziner schüttelte den Kopf, zog die Schlaufe der weißen, wasserdichten Schürze über den Kopf und machte sich an die Arbeit.

Zwei Stunden später hatte man genaue Erkenntnisse, was der Auslöser des Geräusches im Sarg und der leichten Bewegungen der gefalteten Hände war.

Cleo Brecht hatte sich am Automaten in der Kantine des Klinikums einen Becher Kaffee geholt und den Kollegen abgelöst.

Sie war erst vor zwei Stunden von der Staatsanwältin informiert worden, dass sie sich um den Fall eines Unfalltodes kümmern sollte, was eigentlich nicht zu den Aufgaben einer Mordkommission zählte. Da aber der Gerichtsmediziner am Telefon etwas von „Drogen im Spiel“ gesagt hatte, fand die Staatsanwältin, sie solle sich mal um den Fall kümmern. Bei Drogen und Unfalltod könnte es irgendwie einen Zusammenhalt geben und da sollte man nicht weit davon entfernt sein, einen möglichen Mord in Erwägung zu ziehen. So war die Instruktion, die sie der Beamtin mitgab.

In Wirklichkeit hoffte die Staatsanwältin, dass an der Sache nichts dran wäre und die Ergebnisse der jungen Kommissarin im Sand verliefen. Für solche Fälle musste eigentlich ein Ermittlerteam tätig werden, das einfach aus Zeitgründen nicht zu Verfügung stand. Eine junge Kommissarin, die gerade von der Polizeiakademie kam und durch Bestnoten in allen Fächern sofort einen Dienstgrad höher eingestuft wurde, die allerdings keinerlei Praxiserfahrungen hatte und deshalb nicht ihrem Dienstgrad entsprechend sofort als leitende Beamtin im Tagesgeschäft eingesetzt werden konnte, sollte ruhig mal ermitteln und sich somit Lehrgeld erarbeiten. Bei diesem Fall konnte sie nichts falsch machen. Sie konnte sich auch jede Zeit nehmen, die sie brauchte, denn im Grunde war es gar kein richtiger Fall.

Dessen sollte die Staatsanwältin eines Besseren belehrt werden.

Cleo Brecht war nicht begeistert und es war ihr bewusst, dass sie nicht so schnell als Teamleiterin einer Soko eingesetzt werden würde. Also wollte man sie nur beschäftigen. Aber sie machte gute Miene zum schlechten Spiel und schniefte lediglich leicht durch die Nase.

„Gut, Frau Staatanwältin. Werde ich mich mal um die Tote kümmern. Wie ist sie denn zu Tode gekommen?“

„Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Bei der Gelegenheit können Sie sich auch gleich um den geflüchteten Unfallverursacher kümmern. Kontaktieren Sie die Kollegen in Hamburg.“

Was Brecht schon vermutet hatte, dass ihr nämlich lediglich etwas Arbeit auferlegt werden sollte, bestätigte sich somit. Bei der Erwähnung der Stadt Hamburg besserte sich allerdings ihre Laune.

„Mache ich, Frau Staatsanwältin.“

„Ach … ja, Frau Brecht! Halten Sie mich auf dem Laufenden!“

„Jawohl, Frau Staatsanwältin.“

Dabei streckte sie den Mittelfinger der rechten Hand in die Höhe.

Die Nacht war kurz gewesen und sie hatte wenig Schlaf bekommen. Ihre Dauerwochenendbeziehung war zwar wieder einmal in den Staaten unterwegs, aber alleine fand sie auch selten den Tiefschlaf, den sie sich oft herbeisehnte. Es lag wohl doch am zunehmenden Mond, der ihr den erholsamen Schlaf raubte.

Sie nahm auf dem Flur vor dem Büro auf einem der vielen Stühlen Platz, die nicht gerade bequem waren. Ein junger Designer hatte den Zuschlag zum Kauf des Mobiliars in der Klinik gewonnen. Zeitlose Optik und leichtes Reinigen standen im Gegensatz zum bequemen Sitzen.

Nun wartete sie schon geschlagene fünfundvierzig Minuten auf den Rechtsmediziner. Sie waren verabredet. Er war zu spät und sie hasste es, wenn jemand zum Termin zu spät kam. Als er endlich mit wehendem Kittel ankam, ihr die Hand gab und sie mit den Worten ‚komme gerade von einer Obduktion’ begrüßte, war ihr erster Gedanke: ‚Der hat sich doch hoffentlich die Hände gewaschen!‘

Sie schalt sich auch sofort für solch unsinnige gedankliche Ausschweifungen.

‚Die desinfizieren sich doch alle zwei Minuten die Hände. Wozu hängen denn sonst an jeder Tür solche Spenderdinger? Obwohl in so manchem Krimi gezeigt wird, wie einer sein Butterbrot neben der Leiche isst oder seine Zigarette zwischen die Zehen eines Toten steckt. Aber das ist alles sicher nur Klischee. Das macht in Wirklichkeit doch kein Mensch.’

„Abend nochmal, Frau Brecht. Wir hatten telefoniert. Kommen Sie in mein Büro.“

Dort angekommen zog er seinen weißen Kittel aus und hängte ihn auf den Haken hinter der Tür.

Cleo Brecht kam gleich zum Thema.

„Also, was ist mit dem Mädchen los? Warum rumorte es in ihrem Bauch?“

„Rumorte ist gut. Das trifft die Sache genau. Sie hatte zweiunddreißig Trojaner im Magen.“

„Was? Trojaner?“

„Sie hat die Dinger geschluckt.“

„Was genau meinen Sie?“

„Na, sie hat zweiunddreißig mit Kokain gefüllte Kondome verschluckt.“

„Sie war ein Drogenkurier?“

„Muss wohl so gewesen sein. Hatte ich aber der Staatsanwältin schon so geflüstert.“

„Das ist ja nichts Neues. Aber sie war erst siebzehn Jahre alt. Erzählen Sie weiter.“

„Jedes Kondom hatte ein Gewicht von fünfundzwanzig Gramm. Das macht summa summarum achthundert Gramm Koks im Bauch. Da setzte ein Gärvorgang ein.“

„Aber daran ist sie nicht verstorben?“

„Nee.“

„An was ist sie wirklich gestorben?“

„Na, der Genickbruch hat sie schon von hier nach da befördert.“

Dabei machte er eine Geste, bei der er zuerst auf den Boden und dann in die Höhe zeigte.

„Aber ist das denn nicht vor Ort von einem Arzt untersucht worden?“

„In der Akte steht ein Dr. Kielmann aus Eckernförde, tätig in einem Hamburger Krankenhaus, der sie untersucht hat, noch am Unfallort. Todesursache: Genickbruch. Das war eindeutig. Außer einer Blutentnahme und Sicherung der Partikel unter den Fingernägeln hat es da keine weitere Untersuchung gegeben. Es gab keine weiteren Verletzungen, die auf einen anderen Tod als den Unfalltod deuteten. So ist sie gleich überführt und zur Beerdigung freigegeben worden. Von Kokain im Bauch ist man da nicht ausgegangen.“

„Wieso hat das Kokain gegärt? Das habe ich noch nie gehört, dass es so etwas überhaupt gibt. Wie kann das sein?“

„Das ist ja der Grund, weshalb ich so spät bin. Ich habe das Koks im Labor untersucht. Raten Sie mal, was ich dabei festgestellt habe?“

„Wir sind hier nicht bei Günther Jauch! Schießen Sie schon los!“

Etwas beleidigt fuhr der Mediziner fort.

„Sie könnten ruhig etwas freundlicher zu mir sein, wenn Sie mir schon meinen Feierabend versauen.“

Das sah Cleo ein und wurde zugänglicher.

„Ja. Tut mir leid. Was war mit dem Koks?“

„Es war gestreckt. Und zwar gewaltig gestreckt. Über dreißig Prozent war es mit einem Gemisch aus einem Hefemittel und einem Backpulver versetzt.“

Die Kommissarin pfiff durch die Zähne.

„Da wollte wohl jemand etwas mehr Kohle machen.“

„Davon ist auszugehen.“

„Aber das erklärt nicht, weshalb es aus den Kondomen in den Magen gelangte. Die sind doch auch in Extremsituationen unkaputtbar.“

Der Mediziner grinste, sah die Kommissarin von oben bis unten an und dachte sich seinen Teil zu ihrer Kenntnis über Belastbarkeit der Kondome.

„Ja. Scheinbar doch. Die Kondome sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. In Deutschland gibt es dafür eine DIN-Norm, was die Größe und Festigkeit angeht. Aber das hier ist Chinaware. Schlechter Kautschuk, hält nicht allen Belastungen stand. Hätte sie die so benutzt, wofür sie eigentlich hergestellt wurden, dann wäre sie noch am Leben, vermutlich nur halt etwas schwanger.“

Der Mediziner verzog die Mundwinkel nach oben.

Cleo Brecht verzog sie nach unten.

„Lustig.“

Der Arzt wurde wieder ernsthaft und murmelte etwas von ‚keinen Spaß verstehen’. Dann gab er seine weiteren Erkenntnisse preis.

„Also, im Magen der Kleinen habe ich eine Menge Flüssigkeit eines Energiedrinks gefunden, der wie Cola eine zersetzende Wirkung hat. Durch das extreme Schütteln auf dem langen Transportweg haben die zweiunddreißig Kondome aneinander gerieben und eine Angriffsfläche auf der Oberseite des Gummis freigelegt. Der Energiedrink hat die darunterliegende Gummierung innerhalb kürzester Zeit wie Säure zerfressen, der Rest war nur eine Frage der Zeit. Das Koks mit der versetzten Hefe ist ausgetreten, der flüssige Inhalt des Magens und die Magensäure haben die Hefe zur Gärung gebracht und dies hat sich in einer Bewegung und der Ausdehnung nach oben, also dem Bauchbereich gezeigt. Somit war ein leichtes Zittern der über dem Bauch gefalteten Hände sichtbar. Das Geräusch war wohl eher dem entfleuchenden Gas aus dem Darm zuzuschreiben, was unter Umständen schon laut gewesen sein mag, da durch die liegende Position der Toten und der damit verbundenen Knickung des Darms ein erheblicher Druck aufgebaut wurde, der sich durch die abgewinkelten Darmgänge durchkämpfen musste. Das Gas musste sich also erst einen Weg nach außen freikämpfen, bevor es den Darm überhaupt verlassen konnte. Das könnte stoßweise geschehen sein und hat sich eventuell wie ein Klopfen angehört.“

„Ok. Wäre das geklärt. Bleibt die Frage, woher hat sie das Koks bekommen und wo ist es mit der Hefe gestreckt worden?“

Der Arzt zuckte mit den Schultern.

„Das zu beantworten liegt nicht in meiner Macht, Frau Brecht. Das müssen Sie schon selber herausfinden. Allerdings kann ich Ihnen da einen Rat geben, nur wenn Sie wollen, selbstverständlich.“

Cleo Brecht wollte. Sie wollte allerdings nicht lange darum bitten.

„Also. Schießen Sie schon los. Für fachlich fundierte Ratschläge habe ich immer ein Ohr.“

Der Mediziner war nun abermals beleidigt und fasste sich kurz.

„Der Stoff ist, lässt man das Streckmittel mal außer Acht, recht reiner Natur, um es mit verständlichen Worten zu sagen. Der Herstellung nach zu urteilen, tippe ich auf ein südamerikanisches Land. Vielleicht Chile!“

„Danke, Doc. Das hilft ungemein.“

„Jetzt möchte ich aber meinen …“

„… wohlverdienten Feierabend machen. Sie haben es gut. Mein Tag ist noch nicht zu Ende.“

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