Читать книгу Ich habe dich im Auge - Ramona Paul - Страница 11
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Zurück im Konferenzraum holte ich meinen Laptop und schlich an den Schreibtisch.
Wenige Sekunden später trat Frau Dollmann an den Tisch. „Alessa, das geht so nicht. So etwas können wir uns nicht erlauben!“
„Selbstverständlich! Ich kann es mir nicht erklären. Wir sind es am Freitagmittag noch zusammen durchgegangen. Danach habe ich die Präsentation nicht mehr angerührt …“, versuchte ich mich zu erklären.
Einige Meter rechts vor mir stand Noemi am Kopierer und beobachtete uns interessiert. Aus dieser Entfernung konnte sie allerdings nicht mithören, was wir besprachen. Wir hatten ein Großraumbüro, daher war alles gut einsehbar. Nicht nur Noemi, auch die meisten meiner anderen Kollegen schielten immer wieder zu uns. Meine Niederlage hatte sich bereits herumgesprochen. Am liebsten wäre ich im Boden versunken.
Meine Chefin schüttelte ihren Kopf, wodurch ihre kinnlangen hellbraunen Haare etwas wippten. „Fehler passieren, Leichtsinnsfehler passieren, das ist menschlich. Aber solche gravierenden Fehler dürfen einfach nicht vorkommen!“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. „Alessa, ich kenne und schätze Sie sehr. Mir ist bewusst, dass Sie hervorragende Arbeit leisten. In den letzten Wochen und Monaten haben Sie so viel gearbeitet wie kein anderer in dieser Firma. Sogar mehr als ich. Und Überarbeitung führt zu Fehlern. Sie hatten dieses Jahr bisher noch keinen Urlaub. Sechs Wochen haben Sie noch, dazu unzählige Überstunden und das Jahr ist schon bald vorbei.“ Sie atmete schwer ein. „Nehmen Sie sich doch ein paar Wochen frei. Und wenn es nur zwei sind. Es wird Ihnen guttun.“ Ihr Ton signalisierte mir, dass die Entscheidung bereits getroffen war.
Ohne mich weiter zu rechtfertigen, willigte ich ein. „Da stimme ich Ihnen zu. Ich werde mir vorerst die restliche Woche und die nächste Woche freinehmen.“
„Gehen Sie mit Noemi alle laufenden und dringlichen Aufträge durch. Dann kann sie Sie vertreten.“
„Mache ich.“
„Erholen Sie sich gut und scheuen Sie sich nicht, wenn Sie noch eine Woche dranhängen wollen. Ich brauch Sie hier schließlich mit einem klaren Kopf.“
„Danke. So etwas wird nicht noch einmal vorkommen!“, beteuerte ich, obwohl ich mir sicher war, dass ich den Fehler nicht zu verantworten hatte.
„Das hoffe ich!“ Frau Dollmann nickte mir kurz zu und verschwand.
Ich benötigte dringend etwas zwischen die Kiefer. Zucker. Etwas, um die Nerven zu beruhigen. In der Küche des Büros befand sich eine kleine Theke mit Snacks. Eine Mischung aus Obst und weniger gesunden Süßwaren.
In dem Augenblick, als ich mir einen Haferkeks in den Mund schob, erschrak ich bei der Stimme, die neben mir ertönte.
„Habe es gerade gehört. Kann ich dich mit irgendwas aufmuntern?“, sagte einer meiner Arbeitskollegen. „Dich vielleicht heute Abend auf ein Essen einladen?“
„Benji … Das hatten wir doch schon durch.“
„Was spricht gegen eine zweite Chance?“ Benjis Selbstsicherheit hatte mich vor einem Jahr zu einem Date mit ihm verleitet. Obwohl es gut lief, sprang bei mir kein Funke über. Er würde nie mehr als nur ein Arbeitskollege, höchstens ein befreundeter Kollege, für mich sein - was ich ihm öfters mitgeteilt hatte.
Ich seufzte. Auf seine ständigen Versuche hatte ich gerade keinen Nerv.
Zwischen seinen längeren dunkelbraunen Locken sah er mich mit seinem Hundeblick an. Ob er damit bei anderen Frauen Erfolg hatte? Bei mir bewirkte es jedenfalls nichts.
„Vergiss es einfach. Das wird nichts mehr mit uns.“
„Ich werde dich schon noch davon überzeugen können. Ich habe ein langes Durchhaltevermögen, weißt du?“ Benji zwinkerte mir zu. Seine Augen wirkten heller durch die gebräunte Haut. Wie er allen fröhlich erzählt hatte, war er vor zwei Wochen im Urlaub gewesen, um seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Surfen, nachzugehen. Als er zurückkam, war seine Hautfarbe um mehrere Nuancen dunkler geworden.
Schwach lachte ich auf und schnappte mir vier Schokoladenriegel, bevor ich ihn stehen ließ und mich auf den Weg zurück zu meinem Schreibtisch machte.
In mir herrschte nicht nur Unruhe, sondern auch ein Gefühl von Schuld. Unter all den kleinen Aufträgen wäre das die Möglichkeit gewesen, die Agentur voranzutreiben. Dass das nun ich zu verantworten hatte, ganz gleich ob ich einen Fehler machte, jemand anders sich an meinem PC zu schaffen gemacht hatte oder ob es ein technischer Defekt war, darauf kam ich nur schwer klar.
Nicht einmal zwei Sekunden nachdem ich wieder auf meinem Stuhl saß, kam Noemi hinter mir vorbeigeschossen und setzte sich auf den Hocker neben mir.
„Ciao, amore mio. Was …?“ Sie suchte nach Wörtern, fand aber keine. Ihre langen dunkelbraunen Haare lagen lockig um ihr ovales Gesicht. Eine überaus intelligente, selbstbewusste und temperamentvolle Frau steckte hinter ihrer Schönheit, deren italienische Wurzeln nicht zu übersehen waren.
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf und biss die Hälfte eines Riegels ab. „Keine Ahnung. Ich verstehe es nicht!“ Die zweite Hälfte landete in meinem Mund. Während ich das Papier zerknüllte, fragte ich sie: „Willst du auch einen?“
Noemi hielt mir, noch immer mit fassungsloser Miene, die Hand hin und ich gab ihr einen der übrig gebliebenen Riegel.
„Weg. Einfach weg. Jemand hat alles zu diesem Auftrag von meinem Laptop gelöscht.“
„Jemand?“ Sie rückte ihre weiße Rüschenbluse zurecht.
„Denkst du auch, dass es mein Fehler war und ich es gelöscht habe? Wenn auch nur unabsichtlich.“
„Nein, natürlich nicht. Ich meine nur, wer sollte so etwas tun? Seiner eigenen Arbeitsstelle schaden, so dumm ist doch niemand. Hast du den Laptop am Wochenende zu Hause gehabt?“, wollte sie wissen und verschlang den Schokoladenriegel.
„Ja, aber wer soll sich daran zu schaffen gemacht haben? Meine Pflanzen?“ Ich lachte und stöhnte zur gleichen Zeit auf.
In diesem Moment musste ich mich daran erinnern, wie sehr Noemi diesen Auftrag gerne bearbeitet hätte, doch Frau Dollmann hatte darauf bestanden, dass ich ihn übernahm. Noemi war darauf aus, immer die Beste zu sein. Und wenn sich ihr jemand in den Weg stellte, um das zu bekommen, was sie wollte, konnte sie ziemlich hinterhältig sein. Auch an Rachegefühlen mangelte es ihr nicht.
Vor einigen Monaten hatte Noemi ihren Ex-Freund in einem Restaurant gesehen. Mit seiner neuen Freundin, mit der er sie damals betrogen hatte; was sie vermutlich nicht wusste. Noemi hatte die Gelegenheit ergriffen und der Frau erzählt, dass er sie mit ihr betrügen würde, als ihr Ex auf der Toilette war. Sie erzählte ihr von dem Muttermal unter seinem Po, was sie nur wissen konnte, weil sie etwas mit ihm gehabt hatte. Weiter Dinge teilte sie ihr mit - Wahrheiten und Unwahrheiten, um es ihrem untreuen Ex-Freund heimzuzahlen. Es erbrachte den gewünschten Effekt. Sie bekam mit, wie die Frau ihm eine Szene machte, als er zurückkam. Letztlich trennten sie sich sogar vor Ort.
An einem anderen Mann, bei dem sie herausgefunden hatte, dass er nur Spielchen mit ihr spielte, wollte sie sich auch rächen. Noemi lockte ihn auf die Toilette eines Cafés. Sie zog ihn vollständig aus. Er war scharf darauf, was gleich folgen sollte. Doch statt seinen Körper zu liebkosen, schnappte sie sich all seine Kleidung - auch die Hose in der sein Handy war - und machte sich aus dem Staub. Der Mann hatte nur die Möglichkeit, früher oder später splitterfasernackt das Café zu verlassen. Die Sachen hatte sie vor seine Haustür gelegt. Ihr war es allein darum gegangen, ihn bloßzustellen.
„Ich kann eine richtige Bitch sein, was? Aber jeder wie er es verdient!“, hatte sie gesagt, nachdem sie mir von der Aktion erzählt hatte. Ihr Lachen währenddessen war voller Schadenfreude gewesen.
Ich überlegte, ob Noemi etwas damit zu tun haben könnte. Ob sie in der Lage wäre, dem eigenen Arbeitgeber zu schaden, nur um mir eine Niederlage zu verpassen, was eventuell dazu führen konnte, dass Frau Dollmann den nächsten großen Auftrag Noemi zuteilen würde? Damit würde sie zumindest bekommen, was sie von Anfang an wollte.
Mein Laptop lag den gesamten Vormittag offen auf dem Schreibtisch. Unmöglich wäre es nicht gewesen.
Unsere Freundschaft war von Beginn an eng. Doch als ich vor eineinhalb Jahren Fio kennengelernt hatte, kamen ein paar Differenzen auf uns zu. Noemi wurde etwas eifersüchtig, da ich mich mit Fio so gut verstand und wir viel miteinander unternahmen. Sie war Fio gegenüber von Beginn an feindselig und gereizt; bis heute. Ein Treffen zu dritt war eine Seltenheit. Und wenn mal eines zustande kam, war die Stimmung angespannt.
Nach all den Dingen, die mir durch den Kopf schlichen, stellte ich mir die ausschlaggebende Frage: Traust du Noemi zu, dich so zu hintergehen?
Nein!, war die Antwort, die ich mir gab.
Auch wenn sie hinterhältig sein konnte, stand sie stets hinter ihrer Familie und ihren Freunden. Einschließlich mir. Für sie waren diese Menschen das Wichtigste. Jedem von ihnen würde sie sofort helfen, eine Leiche zu vergraben. Loyalität wurde bei ihr großgeschrieben.
Nie musste ich an ihr zweifeln. In den fünf Jahren Freundschaft konnte ich ihr immer vertrauen, selbst wenn wir uns verstritten hatten.
Ich fühlte mich schrecklich, nur daran gedacht zu haben, dass Noemi etwas damit zu tun haben könnte.
„Ich gehe noch meine aktuellen Aufträge mit dir durch. Werde dann, auf Vorschlag von Frau Dollmann, einen Urlaubsschein einreichen und mich für mindestens zwei Wochen hier ausklinken.“
„Natürlich. Sag mir einfach, was ansteht und ich kümmere mich darum. Ich habe ja seit einer Woche einen Praktikanten, das schaffe ich locker.“ Sie grinste mich an.
„Super. Danke!“
Nachdem ich alles mit ihr durchgegangen war und meinen Urlaubsschein eingereicht hatte, verabschiedete ich mich in den Urlaub. Noch immer war ich von Schuldgefühlen geplagt, dass ich meiner Freundin nur eine Sekunde misstraut hatte.
Als ich zu Hause angekommen war, legte ich die Post auf den Esstisch. Neben den Ersatzlaptop, den ich vorhin auf der Arbeit hätte gebrauchen können.
Da kam mir die Frage: War auch dort die Präsentation gelöscht?
Ich schlug ihn auf und schaltete ihn an. Während er hochfuhr, öffnete ich den ersten Brief. Er war von der Bank - bevorstehende Änderung des Datenschutzes.
Der Laptop war nun startklar. Nach Eingabe des Passworts stach er mir direkt ins Auge - der Ordner Trian auf dem Desktop. Ich öffnete ihn. Darin waren die Präsentation und alle Unterlagen zu dem Auftrag.
Ohne zu wissen, was ich mit dieser Erkenntnis anfangen sollte, schaltete ich den Laptop wieder aus.
Ich schlenderte in die Küche, um mir ein Glas Sprudelwasser aus dem Kühlschrank einzufüllen.
Einige Magneten fixierten etliche Bilder an der Kühlschranktür. Ein Foto vom Silvesterabend 2017 zeigte, wie ich in einem Silber glitzernden Kleid neben Noemi stand. Von dem Urlaub auf Mauritius, den ich mit Chris gemacht hatte, als wir gerade ein Jahr zusammen waren, befand sich auch ein Bild darauf. Ich lag am Sandstrand in einer Hängematte und schlürfte aus einem Glas, welches wie eine Ananas aussah, eine Piña Colada. Auch ein Bild von Fio und mir in Florenz vor einem Jahr war dabei. Wir schnitten beide eine Grimasse und streckten die Zunge in die Kamera. Weitere Fotos zeigten mich in New York auf dem Times Square und in Australien, wo ich ein Jahr verbracht hatte. Ich liebte es zu reisen und hatte noch genug Platz für weitere Bilder.
Als ich wieder auf dem Weg zum Esstisch war, blieb ich so abrupt stehen, dass das Wasser im Glas auf einer Seite überschwappte und auf den Boden tropfte. Mein Blick heftete sich auf das Lowboard, auf dem der Fernseher stand. Etwas war anders und ich brauchte einen Moment, bis mir bewusst wurde, was damit nicht stimmte.
Rechts und links vom Bildschirm hatte ich immer eine Kerze stehen. Doch die Rechte war verschwunden. Selbst der schwarze Untersatz der grünen Stumpfkerze war nicht mehr an seinem Platz.
Zuerst nahm ich einen großen Schluck Wasser und spürte das Prickeln der Kohlensäure in meinem Mund. Dann stellte ich das Glas auf den Tisch und überprüfte den Schrank, in dem ich die Dekorationsartikel aufbewahrte. Doch die zur Hälfte abgebrannte Kerze war auch dort nicht zu finden.
Mehr als verwirrt versuchte ich mich daran zu erinnern, die Kerze von dort entfernt zu haben. Vergeblich.
Anscheinend räumte und verlegte ich in vergangener Zeit öfters Sachen um, ohne mich daran zu erinnern. Wie bei alltäglichen Dingen, beispielsweise dem Stempeln der Arbeitszeit. Kaum hatte ich das Büro verlassen, dachte ich darüber nach, ob ich mich ausgeloggt hatte, weil ich mich nicht im Geringsten daran erinnern konnte. Zurück im Büro stellte sich heraus, dass ich mich natürlich ausgeloggt hatte. Manche Sachen tat man, ohne darüber nachzudenken und ohne dass man sie überhaupt wahrnimmt, da sie alltäglich und in Fleisch und Blut übergegangen waren. Doch so etwas wie Kerzen wegschmeißen, obwohl sie nicht mal annähernd abgebrannt waren oder Pflanzen umstellen, ohne dass ich mich daran erinnern konnte, war merkwürdig.
Immer mehr zweifelte ich an mir und meinem Verstand. Was, wenn ich wirklich aus Überarbeitung, Verwirrung und Vergesslichkeit die Datei versehentlich gelöscht hatte?
Ich setzte mich wieder an den Tisch. Zwei weitere Briefe lagen vor mir. Der Nächste stammte von einer Versicherung, die an die bevorstehende Zahlung der Gebühren erinnerte. Der letzte Brief bekam meine vollste Aufmerksamkeit, da weder eine Briefmarke noch ein Absender oder ein Empfänger darauf geschrieben war. Nur mein Name stand mit Computer getippt auf der Vorderseite des Umschlags.
Es war ein DIN-A4-Blatt darin.
Während ich es aufklappte, hielt ich den Atem an. Meine Hände zitterten. Ich musste an den letzten Brief denken, der an meine Tür geklebt worden war.
Mitten auf dem Zettel stand:
Du musst mehr auf deinen Arbeitslaptop aufpassen. Da kann schnell was verschwinden - wie du gemerkt hast.
Damit stand fest, dass dieselbe Person, die mich vergangenen Freitag nach dem Fitnessstudio verfolgt hatte, sich an meinem Laptop zu schaffen gemacht hatte, um die Datei zu löschen. Ebenso war sicher, dass es definitiv nicht Noemi sein konnte. Schließlich war es ein Mann gewesen, der mir gefolgt war. Außerdem hatte ich definitiv keinen derartigen Leichtsinnsfehler gemacht.