Читать книгу Ich habe dich im Auge - Ramona Paul - Страница 9
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„Verfolgt? Bist du dir sicher?“, fragte meine Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen zwei Stunden später, als wir in der Bar saßen und auf unsere Getränke warteten.
Fiona Weigel - man nannte sie Fio - kannte ich seit über eineinhalb Jahren. Wir hatten uns auf einer Silvesterparty kennengelernt und angefreundet. Seitdem waren wir unzertrennlich. Sie war nicht nur meine beste Freundin geworden, sondern auch die Schwester, die ich nie hatte.
„Ja, es war ziemlich offensichtlich.“ Ich nahm den Umschlag aus meiner Tasche und legte den darin befindlichen Brief aufgeschlagen vor meine Freundin, damit sie ihn lesen konnte.
„Das nächste Mal lasse ich dich nicht entkommen!“, murmelte sie vor sich hin. „Ok, das ist wirklich offensichtlich. Der hing an deiner Wohnungstür hast du gesagt?“
„Ja, ich frage mich, wie er unten zur Tür hereingekommen ist.“ Nachdenklich packte ich den Brief weg.
„Ey, so schwer ist das bestimmt nicht. Er hat vielleicht alles durchgeklingelt, bis jemand aufgemacht hat. Oder so lange gewartet, bis jemand herauskam, um dann reinzuschlüpfen“, überlegte sie laut und spielte anschließend mit ihrer Zunge an dem kreisförmigen Piercing auf der unteren rechten Seite ihrer Lippe.
Das Lippenpiercing war nicht ihr einziger Körperschmuck. An beiden Ohren entlang waren etliche Löcher gestochen, in denen Stecker sie schmückten. Auch ihre Nase war mittig durchstochen worden. Das Piercing war nicht nur ein Kreis, wie bei einem Ochsen, sondern breitete sich mit weiteren Halbkreisen auf die äußeren Nasenflügel aus. Man könnte meinen, etwas würde versuchen, aus der Nase zu krabbeln.
„Das stimmt.“
Eine junge Frau kam mit unseren Getränken. Fio bekam den Mojito und für mich war die Piña Colada.
„Wollen Sie auch etwas essen?“, fragte sie freundlich.
„Ja, für mich bitte den Caesar Salad mit Knoblauchbrot“, sagte ich.
„Gerne. Und bei Ihnen?“ Sie wandte sich zu Fio.
„Cheeseburger.“
„Sehr gerne.“ Die Frau verschwand.
„Shit, hat es da wirklich jemand auf dich abgesehen?“ Besorgnis war in Fios Stimme zu hören.
„Vorhin hat mich eine unterdrückte Nummer angerufen. Aber es hat sich niemand gemeldet …“ Ich zögerte kurz. „Ich habe nur einen Atem gehört.“
„Atem? Wie ein Stöhnen?“ Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und sah dabei aus, als wollte sie eine knifflige Rechenaufgabe lösen. „Was für ein krankes Schwein …“
„Nein, ein ganz normaler Atem. Gleichmäßig“, unterbrach ich sie. „Als wollte er mir damit zeigen, dass jemand auf der anderen Leitung ist. Einfach um mir Angst einzujagen.“ Ich nahm einen großzügigen Schluck meines Cocktails, wodurch ein Geschmack kombiniert aus Kokos und Ananas in meinem Mund entstand.
„Verfolgung, Anrufe, Nachrichten … Das hört sich ja an wie damals mit deinem Psycho-Ex.“ Ihre Augen weiteten sich, sodass das strahlende Blau, welches von tiefer schwarzer Schminke umgeben war, noch mehr zum Ausdruck kam. „Heilige Scheiße. Das mit dem ist doch auch schon ewig her?“
„Zwei Jahre. Und gerade fühlt es sich wie ein Déjà-vu an. Wie damals, als es mit Chris zu Ende ging.“
„Hmm“, nachdenklich sah sie ihren Drink an und nahm einen großen Schluck. „Denkst du, er könnte das gewesen sein?“
Ich zuckte mit den Schultern und musste daran denken, wie ich seinen Namen am Telefon gesagt hatte. „All die Sachen lassen mich schon an ihn erinnern, aber ihn deswegen verdächtigen? Ich weiß es nicht. Immerhin habe ich ihn seit zwei Jahren nicht mehr …“ Ein Bild drängte sich mir vor Augen, welches mich verstummen ließ. Eine Erinnerung, an die ich nicht mehr gedacht hatte.
Am Montag, als ich meinen Wocheneinkauf erledigt hatte, sah ich zwei Kassen weiter ein bekanntes Gesicht.
Chris schien mich nicht bemerkt zu haben. Allerdings wirkte er nervös. Er fuhr sich öfters durch die dunkelblonden Locken. Das hatte er immer getan, wenn er angespannt war.
Da es an seiner Kasse schnell voranging und ich mich wie immer an die Langsamste gestellt hatte, verließ Chris den Supermarkt wenige Minuten vor mir.
Ich hatte mir nichts dabei gedacht. Obwohl es nicht seine Gegend war; wobei er umgezogen sein konnte. Doch jetzt nahm ich an, dass er mich sehr wohl gesehen hatte - mich nur nicht sehen wollte. War er mir dort gefolgt? Hatte er mich beobachtet?
„Alessa“, riss mich Fios Stimme aus meinen Gedanken.
„Tut mir leid.“ Ich blinzelte ein paar Mal. „Mir ist gerade eingefallen, dass ich vor einer Woche Chris im Supermarkt gesehen habe. Er hat mich aber nicht entdeckt … oder nur so getan.“
„Du läufst ihm nach zwei Jahren wieder über den Weg und eine Woche später wirst du verfolgt und bekommst unheimliche unterdrückte Anrufe …“ Fio zögerte und steckte sich ihre schwarzen Haare, welche brustlang waren, hinter die Ohren. „Also das wäre schon ein Zufall, meinst du nicht? Aber davon mal abgesehen. Nachdem, was du mir damals alles über ihn erzählt hast, könnte ich mir gut vorstellen, dass er es war.“ Sie atmete tief durch und nahm nochmal einen Schluck. „Vor knapp fünf Jahren hab ich mit meinem Ex fast dasselbe durchgemacht. Hab ich dir ja erzählt. Auch als das mit dem krassen Stalking, Monate später, aufgehört hat, meldete er sich trotzdem immer wieder. Zwischenzeitlich hörte ich fast ein Jahr nichts von ihm, bis er wieder angekrochen kam und alles ging von vorn los. Teilweise schlimmer als beim ersten Mal.“ Sie schüttelte leicht ihren Kopf und versuchte ihre Miene zu kontrollieren, doch es gelang ihr nicht und ich sah Verletzlichkeit als auch Wut darin.
Eines der Dinge, die uns zusammenschweißen ließ, war die gleiche Art von Mann, die wir als unsere Ex-Freunde bezeichneten.
Die Bedienung brachte unser Essen an den Tisch.
„Danke“, sagte ich zu der jungen Frau, bevor sie kehrtmachte.
„Ich glaube, diese kranken Stalker sind wie Betrüger. Macht man es einmal, macht man es immer“, fuhr Fio fort. „Die können gar nicht anders.“
Nickend stocherte ich in meinem Salat.
„Wenn ich den in die Finger bekomme, mache ich ihn fertig. Wer etwas gegen dich hat, bekommt gleichzeitig ein Problem mit mir.“ Sie zwinkerte mir zu und wir mussten beide lachen.
„Dann will ich nicht in seiner Haut stecken“, gab ich zurück und biss von dem Knoblauchbrot ab.
„Egal was ist, du kannst dich immer melden. Und wenn du wieder verfolgt wirst, dann ruf mich sofort an!“ Warnend hob sie ihren Zeigefinger. Wie eine Mutter, die ihr Kind ermahnte.
Da ich so in meiner eigenen Welt gefangen war, bemerkte ich erst jetzt etwas Befremdliches in Fios Gesicht. Unterhalb des Endes ihrer linken Augenbraue war eine kleine Wunde, die kaum einen Zentimeter lang war, zu sehen. Mit ihren starkgeschminkten Augen hatte sie probiert, die Verletzung zu kaschieren. Dennoch drang sie hervor.
„Was ist denn da passiert?“ Mit dem Zeigefinger tippte ich auf die besagte Stelle in meinem Gesicht.
„Ach das.“ Sie zögerte und lachte anschließend auf. „Ich bin zu dumm eine Tür aufzumachen. Das ist alles und dazu echt peinlich.“ Fio verdrehte ihre Augen und winkte dieses Thema ab.
Nach dem Essen bestellten wir beide noch einen Cocktail. Anschließen verabschiedeten wir uns und machten uns auf den Heimweg.
Zu Hause angekommen, freute ich mich auf das Sofa und einen Film, um den Abend ausklingen zu lassen.
Im Wohnzimmer spazierte ich zum Fenster und öffnete es, damit frische Luft in die Wohnung strömen konnte. Als ich mich wieder umdrehen wollte, bemerkte ich, dass etwas anders war. Etwas fehlte. Meine kleine Yucca-Palme auf der anderen Seite der Fensterbank. Sie war weg.
Ich sah mich im Raum um - entdeckte sie aber nirgendwo anders. Dann huschte ich ins Schlafzimmer und sah sofort auf dem Fensterbrett die kleine Yucca-Palme. Ich konnte es mir nicht erklären. Die Pflanze stand, seit ich sie hatte, immer am selben Platz. Vorhin hatte ich sie gegossen, aber nicht umgestellt.
Jemand musste hier gewesen sein. Ein Einbrecher? Aber warum sollte ein Einbrecher eine Pflanze umstellen?
Instinktiv sah ich nach meinem Schmuck. Doch es fehlte nichts. Selbst das Collier mit Diamanten meiner verstorbenen Großmutter war noch da. Bestohlen wurde ich also nicht.
Die kleine Yucca-Palme stellte ich wieder an ihren gewohnten Platz im Wohnzimmer.
Total paranoid marschierte ich danach zur Wohnungstür, schloss auf und begutachtete das Türschloss. Kein abgesplittertes Holz oder ähnliche Anzeichen dafür, die auf einen möglichen Einbruch hindeuten können. Niemand sonst hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Den Zweitschlüssel bewahrte ich in dem Schränkchen im Flur auf. Darauf stand eine Zamioculcas, deren Blätter in die Höhe ragten.
Der Schlüssel war an seinem Platz.
Es konnte also niemand hier gewesen sein. Wer würde auch einbrechen, ohne etwas zu stehlen?
Wenn ich das der Polizei schildern würde, würden sie es nicht ernstnehmen.
Wie es schien, hatte ich sie selbst umplatziert. Auch wenn ich mir sicher war, nichts dergleichen getan zu haben. Doch es gab keine andere Erklärung. Ich begann an mir selbst zu zweifeln. In letzter Zeit vergaß ich öfters etwas oder brachte Dinge durcheinander. Nun verlegte ich schon meine Sachen, ohne mich daran erinnern zu können. Verließ mich langsam mein Verstand? Teilweise fühlte ich mich wie eine an Demenz erkrankte Frau im Frühstadium. Dabei war ich doch gerade mal dreißig!