Читать книгу Ich habe dich im Auge - Ramona Paul - Страница 8
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Am nächsten Tag fuhr ich in den Nachmittagsstunden nach Starnberg, um meine Eltern zu besuchen. Der Stadtteil Sendlingen, in dem ich wohnte, war nur circa eine dreiviertel Stunde mit der Bahn entfernt.
Vor zehn Jahren hatten meine Eltern sich dort ein Haus gekauft. Nachdem ich auszog, war ihnen das alte Heim zu groß. Außerdem wollten sie der Großstadt entfliehen und hatten schon immer eine Schwäche für den Starnberger See.
Nachdem meine Oma verstorben war, erbten sie eine Menge Geld – nicht, dass sie davor wenig gehabt hätten. Sie besaßen einige Immobilien. Das Wissen meines Vaters als Immobilienmakler war daher von Vorteil. Finanziell hatte meine Familie nie Probleme gehabt.
„Du hast heute aber Augenringe, Kind! Und wie sehen nur deine Haare aus?“, bemäkelte meine Mutter, als wir Richtung Esstisch liefen.
Auf dem Sideboard, das neben der Tür zur Küche stand, waren zwei Fotos aufgestellt. Das Rechte war ein Porträtfoto von mir in einem weißen Bilderrahmen, der hochkant stand. Es war fast acht Jahre her, als ich von meinen Eltern einen Gutschein für ein Fotoshooting geschenkt bekommen hatte. Meine Haare waren damals so lang, dass sie die Taille erreichten - zehn Zentimeter länger als heute. Das Bild daneben hatte einen goldenen Bilderrahmen und beinhaltete ein Foto im Querformat. Es war am ersten Weihnachtsfeiertag 2017 in einem Nobelrestaurant aufgenommen worden. Links meine Mutter, rechts mein Vater und in der Mitte saß ich. Alle hatten mit einem Lächeln, welches die Zähne zeigte, den Blick auf die Kamera gerichtet. Ich erinnerte mich daran, wie der Kellner das Bild von uns geschossen hatte.
„Hab schlecht geschlafen.“ Ich wollte ihr von den gestrigen Ereignissen nichts erzählen, um sie nicht zu beunruhigen. Den Kommentar über meine Haare ließ ich unbeantwortet. Der Wind, der heute durch die Straßen zog, hatte sie durcheinandergebracht.
Während meine Mutter Wasser aufkochten ließ, huschte sie in das Badezimmer und reichte mir daraufhin eine Bürste. Kommentarlos nahm ich sie entgegen und glitt damit durch mein feines Haar.
Kurz darauf stellte sie mir einen Tee vor die Nase. Kräutermischung, stand auf dem Schildchen, welches neben der Tasse baumelte.
„Wie läuft es in der Arbeit?“, fragte sie und ihre blauen Augen, die den meinen sehr ähnlich waren, musterten mich.
„Am Montag habe ich eine wichtige Präsentation vor einem möglichen Großkunden. Ein ziemlich großes Ding für die Agentur. Ich bin ehrlich gesagt extrem nervös. So ein großes und vor allem wichtiges Projekt hatte ich noch nie.“
„Ich bin mir sicher, dass du das hinbekommst! Schließlich bist du ein kluges Mädchen. So haben wir dich erzogen.“ Sie steckte ihre schulterlangen grauen Haare mit einem leichten Blondstich hinter die Ohren.
„Und ein Wunderschönes noch dazu.“ Eine tiefere Stimme tauchte hinter mir auf.
„Papa.“ Ich stand auf und umarmte den hochgewachsenen Mann.
„Was habe ich da gerade gehört? Einen Großauftrag? Wir sind ja so stolz auf dich. Du hast es wirklich schon weit gebracht.“
„Danke. Aber noch ist es zu früh zum Feiern. Ich muss den Kunden erst einmal überzeugen“, versuchte ich ihn in seiner Euphorie zu bremsen.
„Glaubst du etwa nicht an dich?“ Er lächelte, doch seine braunen Augen sahen mich streng an. Der Bart, der sein Lächeln umrahmte, war wie seine kurzen Haare größtenteils ergraut.
Ich atmete tief durch. „Doch klar. Die werde ich vom Hocker hauen“, gab ich grinsend zurück.
„Das ist meine Tochter. Du musst immer fest an dich glauben, dann kannst du alles schaffen. Und das wirst du auch, Liebes!“
Meine Eltern waren schon immer erfolgsorientiert und daher streng mit mir gewesen. Ihnen war wichtig, dass ich es zu etwas brachte und sie stolz auf mich sein konnten. Sie forderten mich, so viel es ihnen möglich war. Dennoch waren sie stets fürsorgliche und liebevolle Eltern. Ich könnte mir keine Besseren vorstellen. Dank ihnen war ich heute die Person, die ich war.
Ich nahm einen Schluck aus der Tasse und bereute es sofort. Es fühlte sich an wie glühende Lava, die auf der Zunge tanzte und langsam die Kehle hinunterfloss. Rasch zog ich kühle Luft hinterher, um den Schmerz etwas zu lindern.
„Ich bin jedenfalls sehr stolz auf dich.“ Ein Strahlen breitete sich auf dem Gesicht meiner Mutter aus. „Aus dir ist eine so anständige, erfolgreiche und wunderschöne Frau geworden. Meine Tochter ist so ein toller Mensch, genau wie wir es uns immer gewünscht haben. Das würde ich für nichts auf der Welt wieder hergeben wollen.“
„Wir haben eben die beste Tochter, die man sich vorstellen kann“, entgegnete mein Vater und wandte sich zu meiner Mutter. „Kein Wunder bei den Eltern.“ Er zwinkerte ihr zu und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Ich fand es toll, dass sie sich nach so vielen Ehejahren noch so zueinander hingezogen fühlten.
Ich trank den Tee leer und aß ein Stück von dem Mandelkuchen, den meine Mutter gebacken hatte.
Als ich die Wohnungstür aufschließen wollte, bemerkte ich hinter mir eine Tür aufgehen. Mein Nachbar von gegenüber betrat den Flur. Linder stand auf der Klingel. Er wohnte seit drei Monaten hier, mehr wusste ich nicht über diesen Mann. Ich hatte ihn, bis jetzt, nicht einmal gesehen. Wobei mir das Gesicht gar nicht so unbekannt vorkam.
Er war schlaksig und sah aus wie Ende zwanzig. Seine dunklen und durchwurschtelten Haare ließen ihn aussehen, als ob er frisch aus dem Bett kam.
Erschrocken sah er mich an. Als wäre ich ein Ufo und er konnte nicht glauben, was er sah.
„Hallo“, begrüßte ich ihn mit einem Lächeln. Ich legte viel Wert auf gute Nachbarschaft. Meine Wohnung hatte ich mir vor sechs Jahren gekauft. Kurz bevor ich Chris kennengelernt hatte. Vor drei Jahren, als wir planten zusammenzuziehen, wollte ich meine Wohnung vermieten. Nachdem es allerdings genau zu dieser Zeit anfing Konflikte zwischen uns zu geben, war es nie dazu gekommen. Ich plante auch nicht in nächster Zeit auszuziehen, deshalb war ein angenehmes Verhältnis zu den Nachbarn nur von Vorteil.
Um seine Lippen zuckte es. „Ha… Hallo“, stotterte er und sah durch seine Brille verlegen weg. Ich dachte gesehen zu haben, dass er rot wurde - konnte mich aber auch getäuscht haben.
Er schloss seine Tür und huschte schnell sowie leicht ungeschickt die Treppen hinunter.
„Schönen Tag noch“, rief ich ihm nach, bevor er aus Sichtweite verschwand. Doch darauf antwortete er nicht und stolperte weiter die Stufen hinab.
Komischer Kauz, dachte ich mir.
In dem Moment, als ich durch meine Wohnungstür schlüpfte und sie hinter mir schloss, wusste ich, warum sein Gesicht etwas in mir aufblitzen ließ. Es war dasselbe Gesicht, welches ich am Abend zuvor für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte, als ich aus dem Badezimmerfenster nach unten sah.
Die Erkenntnis ließ mich beunruhigen. Allerdings wohnte er hier und verließ dadurch regelmäßig das Haus, wie ich gestern beobachtet hatte. Da war nichts Außergewöhnliches dabei.
Ich beschloss, mich nicht weiter verrückt zu machen und mich abzulenken. Bis ich mich mit meiner Freundin treffen würde, hatte ich noch Zeit. Deshalb füllte ich die kleine grüne Gießkanne mit Wasser und goss nach und nach die Pflanzen. Da meine Wohnung einem halben Gewächshaus glich, beschäftigte mich das eine Weile. Meine Lieblinge waren die Yucca-Palmen. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer stand die Kleine davon und die Große hatte ihren Platz rechts neben dem Sofa gefunden.
Meine Wohnung war modern eingerichtet. Weiß, grau, schwarz und grün. Das Grün hatten hauptsächlich die Pflanzen zu verantworten.
Als ich die Kräuter in der Küche goss, hörte ich mein Handy vibrieren. Es lag auf dem Esstisch im Wohnzimmer.
Nummer unterdrückt.
Ich starrte es an, während meine Gedanken darum kreisten, wer es sein konnte. Mir fiel niemand ein und bei unterdrückter Nummer ging ich generell ungern dran. Ich legte das Handy, noch immer vibrierend, beiseite. Kurz danach verstummte es.
Kaum in der Küche angekommen, vibrierte es erneut.
Nummer unterdrückt.
Widerwillig nahm ich den Anruf entgegen.
Ich zögerte. „Hallo?“
Keine Antwort.
„Wer ist da?“, fragte ich ein paar Sekunden später mit fester Stimme.
Noch immer keine Rückmeldung. Doch ich nahm einen tiefen Atemzug in der anderen Leitung wahr.
„Hallo?“ Leichte Wut lag in meiner Stimme.
Weitere Atemzüge drangen durch das Telefon. Ruhig und gleichmäßig.
Ich wollte bereits auflegen. Doch ohne nur eine Sekunde darüber nachzudenken, verließen folgende Wörter meinen Mund: „Chris? Bist du das?“
Die Leitung wurde unterbrochen.