Читать книгу Ich habe dich im Auge - Ramona Paul - Страница 12
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Seit einer Minute versuchte ich bereits, das Hängeschloss zu meinem Abteil im Keller zu öffnen. Doch so sehr ich mich auch bemühte, wollte der kleine Schlüssel einfach nicht im Schloss verschwinden. Das Klappern des Schlüsselbunds erfüllte die Stille. Ein anderer Schlüssel daran, der ebenfalls klein war, fiel mir in die Augen und ließ mich innehalten. Ich hatte den Falschen in der Hand. Der, mit dem ich es vergeblich probiert hatte, war für den Briefkasten.
Mit dem anderen Schlüssel sprang das Schloss sofort auf.
Meinen Keller hielt ich stets ordentlich. Einige Kisten standen gestapelt an den Seiten und bildeten somit einen breiten Gang in der Mitte.
Auf der Suche nach einer Glühbirne, da die in der Küche den Geist aufgegeben hatte, durchsuchte ich nach und nach die Kartons. Denn vor einiger Zeit hatte ich vier auf Vorrat gekauft und im Keller gelagert.
Mein Unterleib zog sich schmerzend zusammen. Automatisch verzerrte ich das Gesicht. Heute war Freitag - der Tag, an dem meine Periode begann.
Ich versuchte die Krämpfe zu ignorieren und mich weiter auf die Suche zu konzentrieren.
Beim Durchsehen der Kartons stieß ich auf einen Besonderen, dessen Existenz mir in den letzten Jahren bereits entfallen war. Es trieb mir ein breites Lächeln auf das Gesicht.
Darin fanden sich unzählige Bilder, die ich vor langer Zeit gemalt und gezeichnet hatte. Einige davon waren auf einer Leinwand, andere auf einem Blatt Papier.
Die Leinwände waren mit allen möglichen Farben versehen. Von abstrakten Werken, in denen die Farbtöne planlos ineinander übergingen bis hin zu Bildern, die eine Landschaft darstellten.
Hinter dem Karton war eine weitere und um einiges größere bemalte Leinwand zu sehen. Sie war zu breit, um in eine der Schachteln zu passen. Als ich sie hervorholte, bildete sich darauf ein Sonnenuntergang an einem See mit einem Steg ab. Das Gelb knapp über dem See, welches zu einem Orange wurde und am obersten Rand zu einem tieferen Rotton überging, spiegelte sich im Wasser wider.
Mir verschlug es den Atem. All die Bilder waren mir nicht mehr in der Erinnerung gewesen. Allein der letzte Gedanke an das Malen musste schon Jahre her sein.
Die meisten der Zeichnungen bildeten ein Stillleben oder ein Porträt ab.
All die Gemälde waren keine Meisterwerke, aber dennoch erstaunlich gut, wie ich feststellte.
Beim Durchsehen der Zeichnungen stach mir ein Bild besonders in die Augen und ließ meine Erinnerungen noch mehr auffrischen. Auf einem der Porträts war ein Mädchen abgebildet.
In meinem Gehirn blitzte es auf. Nur langsam formten sich die Buchstaben zu einem Namen. Er lag mir förmlich auf der Zunge. Und wenige Sekunden später traf der Name des Mädchens in mein Gehirn wie ein Blitzschlag.
Lina Auerbach. In der achten Jahrgangsstufe hatte ich mich mit ihr angefreundet. Lina war damals neu nach München gezogen und wechselte mitten im Schuljahr in unsere Klasse.
Ich erinnerte mich, wie fasziniert sie war, was ich auf ein leeres Blatt brachte. Sie fragte, ob ich ein Bild von ihr fertigen könnte. Vor lauter Aufregung und Vorfreude hatte sie kaum stillgesessen, als ich das Porträt zeichnete. Statt es ihr anschließend zu präsentieren, bat ich sie ein paar Tage zu warten, da ich es ihr zum Geburtstag mit einem weiteren Geschenk überreichen wollte. Mein Plan war es, das handgezeichnete Porträt mit einem schönen Bilderrahmen zu versehen und es mit Geschenkpapier zu verpacken.
Doch dazu war es nie gekommen.
Zwei Tage später fing sie an mir aus dem Weg zu gehen. Bis sie letztlich sagte, dass sie nichts mehr von mir wissen wollte und ich sie in Ruhe lassen sollte.
Ich hatte mich immer gefragt, woher der plötzliche Sinneswandel kam. Warum sie mich wie Luft behandelte, obwohl wir uns so gut verstanden hatten. Aber diese Frage hatte sich mir nie beantwortet.
Krämpfe zogen sich erneut durch meinen Unterleib und ließen mich aus der Erinnerung platzen.
Das Blatt mit dem künstlerischen verteilten Graphit darauf fiel zurück in den Karton.
Ein paar leere Leinwände befanden sich ebenfalls darin und warteten vergeblich darauf, als Grundlage für Kunstwerke genutzt zu werden.
Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich schon immer gerne gemalt und gezeichnet. Und von Jahr zu Jahr wurde es mehr als nur ein Hobby für mich.
Bevor ich die Schule beendete und somit das Abitur in der Tasche hatte, stellte sich die Frage, was ich daraufhin studieren würde. Immer wieder hatte ich voller Überzeugung geschildert, dass ich Künstlerin werden wollte, um meine große Leidenschaft zu meinem Beruf zu machen.
Doch meine Eltern waren dagegen. Sobald ich es ansprach, versuchten sie es mir auszureden. „Kind, die Berufsaussicht ist mit einem Kunststudium einfach nicht besonders gut. Auch wenn du gut malen kannst; aber damit wirst du nichts Großes erreichen. Du musst etwas Richtiges und vor allem Sicheres studieren. So was wie Medizin oder Jura.“ Da meine Mutter selbst als Ärztin tätig war, hatte sie bereits als ich klein war versucht mich in den medizinischen Bereich zu lenken. „Mit so einem Abschluss kannst du dich sehen lassen und auch was Vernünftiges erreichen. Wir wollen doch stolz auf dich sein und dich unterstützen.“
Letztlich knickte ich ein.
Auf das Drängen meiner Mutter, Medizin oder Jura zu studieren, hatte ich mich dennoch nicht eingelassen. Somit wurde es ein Studium im Projektmanagement, womit auch meine Eltern zufrieden waren. Zusätzlich bot mir die Werbeagentur ein gewisses Maß an Kreativität.
Im Nachhinein war ich ihnen dankbar. Denn ich hatte ein hervorragendes Leben. Eine angesehene Arbeit und ein überdurchschnittliches Gehalt, mit dem ich mir einige Wünsche erfüllen konnte. Ich hatte viel erreicht und musste mir keine Sorgen um meine Zukunft machen.
Doch es war trotz alledem nur eine Arbeit. Keine Tätigkeit, die mich zu einhundert Prozent erfüllte.
Im Laufe des Studiums hatte ich weiterhin, so oft ich konnte, den Pinsel geschwungen. Aber durch die wachsenden Erwartungen meiner Eltern wurde mein eigentlicher Traum immer weiter erstickt. Bis all die Gemälde in einem Karton landeten, der im Keller verstaubte.
Doch jetzt, wo ich die Bilder wiedersah und mich zurückerinnerte, wie glücklich und voller Feuer ich beim Malen immer gewesen war, fragte ich mich, wie alles gekommen wäre, wenn ich mich von meinem Traum nicht hätte abbringen lassen.
Der Anblick des großen Leinwandbildes raubte mir noch immer den Atem. Somit entschloss ich mich dazu, es mit nach oben zu nehmen, auch wenn mir nicht bewusst war, wo ich es aufhängen könnte.
Nachdem ich den Karton zugeklappt hatte und das Bild aus meinem Abteil trug, wollte ich bereits das Schloss an der Tür verschließen, als mir die Glühbirne einfiel – der Grund, aus dem ich überhaupt hinuntergekommen war.