Читать книгу Was ist Leben? - Regine Kather - Страница 11

Оглавление

1.2 Plotin: Leben, Denken und Sein sind identisch

1.2.1 Zur Struktur der Seinswahrheit

Die Überzeugung, dass der göttliche Seinsgrund die unvergängliche Quelle des irdischen Lebens sei, verband über viele Jahrhunderte so unterschiedliche Denker wie Aristoteles und Plotin, Thomas von Aquin, Spinoza und Leibniz. Nur das vollendete Leben könne, so glaubte man, das weniger vollkommene erzeugen. Im 3. Jh. n. Chr. wurde für Plotin die ‘Stufenleiter des Seins’ zum Kerngedanken der Kosmologie36: Er beginnt allerdings nicht, wie Aristoteles und, in anderer Weise, die modernen Wissenschaften, mit der Analyse der empirischen Welt, um daraus die Folgerung zu entwickeln, dass es einen letzten Seinsgrund geben müsse. Plotin geht von der umgekehrten Blickrichtung aus: Wenn es einen absoluten Ursprung gibt, dann muss die Erklärung des Kosmos mit ihm beginnen, denn ohne ihn gäbe es den Kosmos nicht und damit nichts, was überhaupt zu erklären wäre. Der Kosmos erscheint deshalb als eine Art Beweis, dass es ein Sein geben muss, das ihn transzendiert, das von anderer Art und vor allem wirkungsmächtiger ist als alles, was zeitlich und räumlich begrenzt ist. Wenn jedoch das Eine ontologisch früher ist als alles, was entstanden ist, dann ist es vor jeder Vielfalt. Da jeder Gedanke und jede Aussage bereits eine Unterscheidung von Erkennendem und Erkanntem und damit Vielheit impliziert, ist das Eine undenkbar und unaussagbar.37 Aber wie ist es dann überhaupt möglich, von ihm zu sprechen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, es handle sich nur um haltlose Spekulationen und metaphysische Scheinfragen? Der im Folgenden ausgeführte Argumentationsgang wird das mit der Konzeption der Seinswahrheit verknüpfte Verständnis von Erkenntnis und Erfahrung verdeutlichen. Es dient jedoch nicht nur der historischen Erschließung von Texten, sondern hat nach wie vor eine systematische Bedeutung: Die Konzeption der Seinswahrheit ist für die Bestimmung von Leben im religiösen Kontext entscheidend und damit auch die Grundlage für einen Dialog zwischen den Religionen der Welt.

Auch Plotin kennt freilich nicht nur den absteigenden Weg vom Einen zu den vielfältigen Erscheinungen der Sinneswelt, sondern auch den umgekehrten Weg, eine pädagogische Hinführung zur Erkenntnis der Begründung des Kosmos im Einen. Wie Platon im ‘Symposion’38 beginnt Plotin in der Enneade ‘Über das Schöne’ mit der leiblichen und damit sinnlich wahrnehmbaren Schönheit.39 Erst wenn man sich vom unmittelbaren Sinneseindruck löst, so argumentierte schon Platon, und verschiedene Leiber miteinander vergleicht, wird etwas Gemeinsames erkennbar. Nicht mehr der einzelne schöne Leib wird geliebt, sondern die Schönheit in allen Leibern. Doch was verleiht dem Leib seine Schönheit? Es ist, so argumentiert Plotin, weniger die sichtbare Harmonie, die auf messbaren Proportionen beruht, als vielmehr die seelische Kraft, die dem Leib einen Ausdruck verleiht. In Gesten, Blicken und Worten drückt sich eine innere Einstellung aus. Ein äußerlich schönes Gesicht kann leer und kalt, ein gealtertes, faltiges Gesicht dagegen gütig und warmherzig wirken. Der Leib, so schließt Plotin, ist nur schön, weil er belebt ist und einen seelischen Ausdruck hat. Ausdruckskraft als Manifestation von Lebendigkeit erhält der Leib nicht durch physiologische Mechanismen, sondern durch den Geist. ‘Anima forma corporis’, die Seele sei die formende und belebende Kraft des Leibes, hieß es daher noch im Mittelalter. Mit dieser Erkenntnis hat die Sinnenwelt ihren blendenden, verführerischen Schein verloren und ist zur Erscheinung seelisch-geistiger Kräfte geworden. Motive, Werte und Ziele, die das Leben des Einzelnen und, durch das Handeln, auch das der Gesellschaft bestimmen, die ‘Schönheit in den Seelen’40 und in den ‘Sitten’41, wie Platon sagt, sind nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Plotin spitzt das Problem, worauf die menschliche Identität beruhe, explizit zu: Solange das Verhalten von äußeren Reizen bestimmt wird, ist es nur eine reflexhafte oder gewohnheitsmäßige Re-aktion. Es wird durch die Macht der äußeren Umstände ausgelöst und ändert sich mit diesen; es ist genauso wechselhaft wie die Ereignisse, an die es sich angleicht. Das Verhalten entspringt keiner Spontaneität im eigentlichen Sinne, es ist bedingt und nicht selbstursächlich und frei. Aber sollte der Mensch tatsächlich nur ein Bündel von Eindrücken und Gewohnheiten sein, bestimmt durch Erziehung und soziale Umstände? Ist Leben, wie Darwin lehrt, nur durch die Anpassung an äußere Bedingungen möglich? So zutreffend diese Beschreibung in vielen Situationen sein mag, so wäre es für Plotin verfehlt, das Verhalten nach dem Schema von Reiz und Reaktion zu erklären oder es auf das Erfinden erfolgreicher, dem Überleben dienender Handlungsstrategien zu beschränken. Wir verwechseln die Ursache mit der Wirkung, wenn wir glauben, die äußeren Einflüsse würden genügen, um Handlungen, ihre Motive und Ziele zu erklären. Wir gleichen jemandem, der dem eigenen Schatten nachläuft, ohne den Blick auf dessen Ursache zu lenken. „Wir, die wir nicht gewohnt sind, auf das Innere zu sehen, und es nicht kennen, jagen dem Äußeren nach und wissen nicht, daß das Innere bewegt; so wie denn einer, der sein eigenes Spiegelbild sieht, ihm nachjagte, weil er nicht weiß, woher es kommt.“42 Plotin kannte noch nicht das Experiment, mit dem man untersucht, ob Tiere Selbstbewusstsein haben: Man malt Tieren, die an einen Spiegel gewöhnt sind, einen Kreidefleck auf die Stirn. Offensichtlich erkennen nur Menschenaffen die Veränderung ihres eigenen Aussehens; sie sehen nicht ein anderes Tier, sondern erkennen ihre Gesten im Spiegelbild wieder. Das Wissen um sich selbst, Selbstbewusstsein im ursprünglichen Sinne des Wortes, erwacht erst durch die Möglichkeit zu dieser ‘Umlenkung des Blicks’43. Das empirische Ich, wie Kant später sagen wird, ist für Plotin deshalb nur ein schattenhafter Ausdruck des inneren Menschen. Während der äußere Mensch durch geschichtliche Umstände bedingt ist, ist der innere Mensch die kausal nicht determinierte, unbedingte Ursache des Handelns. Selbsterkenntnis fordert deshalb die Erkenntnis der verborgenen Ursache der äußeren Erscheinung.

Das menschliche Leben ist wiederum eingebettet in die Ordnung des Kosmos, die von den Wissenschaften, von Physik, Astronomie und Mathematik erforscht wird.44 Untersucht werden nicht die sichtbaren Erscheinungen, sondern die Prinzipien, die der physischen Welt ihre Ordnung verleihen. Nur der Seinsgrund selbst ist, wie die Idee des Guten bei Platon, ‘jenseits des Seienden’.45 Er kann deshalb nicht mehr zum Gegenstand diskursiv formulierter, wissenschaftlicher Aussagen und mathematischer Theorien werden, sondern ist die Bedingung der Möglichkeit aller Theorien. Er kann weder durch systematische Experimente noch durch die begriffliche Konstruktion theoretischer Zusammenhänge erkannt werden.

Aber wie ist es überhaupt möglich, die Wirklichkeit zu erkennen? Beruhen nicht, wie die Vertreter eines radikalen Konstruktivismus behaupten, alle Wahrnehmungen und Erkenntnisse bloß auf mentalen Konstruktionen? Erzeugen nicht physiologische Prozesse der Sinne und des Gehirns in Verbindung mit kulturell erworbenen Denkschemata das Bild der Wirklichkeit? Gegen den radikalen Konstruktivismus kann man einwenden, dass schon das Überleben unmöglich wäre, wenn nicht zumindest einige Eigenschaften der Dinge erkennbar wären. Ungeachtet aller konstruktiven Elemente muss zwischen dem, was erkannt wird, und dem Erkenntnisvermögen, zwischen Objekt und Subjekt, eine gewisse Korrespondenz bestehen. So weit würden die platonische und die evolutionäre Erkenntnistheorie durchaus miteinander übereinstimmen; lediglich in der Analyse der Ursache dieser Entsprechung und in der des Zieles der Erkenntnis unterscheiden sie sich. Die evolutionäre Erkenntnistheorie geht davon aus, dass der Mensch die Umwelt innerhalb bestimmter Grenzen erkennen kann, weil sich der ‘Erkenntnisapparat’ während der Evolution an die jeweils überlebensrelevanten Strukturen angepasst hat.46 Platon und Plotin dagegen begründen die Korrespondenz zwischen Erkennendem und Erkanntem in der Idee des Guten bzw. im Einen. Da das Eine die Vielzahl der Lebewesen, unter ihnen auch die Menschen, aus sich hervorgehen lässt, ist es spurhaft in allem gegenwärtig und erhält es in seinem Sein. Die Korrespondenz zwischen Sein und Erkennen gründet nicht im endlichen, sondern im absoluten Sein, in dem Sein und Erkennen vollkommen identisch sind. Mit den Mitteln des diskursiven Intellekts und unter den Bedingungen der Zeitlichkeit ist deshalb keine vollkommen adäquate Seinserkenntnis möglich.

Da der Mensch jedoch am Göttlichen seinsmäßig Anteil hat und sich vor allen anderen Lebewesen dadurch auszeichnet, dass er sich bewusst auf den Ursprung zurückwenden kann, muss er sich nicht mit einer bloß verstandesmäßigen Einsicht in das göttliche Sein begnügen, sondern kann dessen Wirksamkeit in sich selbst erkennen. Selbsterkenntnis bedeutet auch die Einsicht in den Ursprung dieses Selbst; dann weiß er nicht nur, woher er stammt, sondern kennt auch sein Ziel.47 Das menschliche Leben ist von seiner Struktur auf die Überschreitung in ein transzendentes Sein angelegt, das als ein Gut begehrt wird. Auch der Weg zur Wahrheit ist deshalb kein rein kognitiver Prozess, sondern verändert den Strebenden existentiell. Die Erkenntnis des Ursprungs des eigenen Seins führt zu einer anderen Beurteilung der alltäglichen Ereignisse und damit auch zu einem anderen Verhalten. Die Erkenntnis der Wahrheit als einem Sein bleibt freilich, trotz aller methodisch geleiteten Erkenntnisbemühungen, unverfügbar. Dem Menschen zeigt sich die Wahrheit ‘plötzlich’.48 Nicht nur die Sinne, sondern auch der Verstand werden durch die noetische, intuitive Erkenntnis überschritten.49 Gefordert ist eine kontemplative Einstellung, die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, um etwas so, wie es sich von sich her zeigt, zu erfassen. Nicht mehr durch Argumentation oder stringente Spekulation, sondern durch eine spezifische Form der Erfahrung, die ‘cognitio Dei experimentalis’, wird das Eine als Grund der menschlichen Existenz und des Kosmos erkannt. Kontemplation ist für Plotin äußerste Sammlung ohne jede Zerstreuung und damit Tätigsein im höchsten Sinne. Ist der Mensch im höchsten Grade mit sich selbst eins, dann kann die Kontemplation in die mystische Einung münden, in der ‘der Mittelpunkt des Menschen momenthaft den Mittelpunkt des Alls berührt’.50

Die Bezeichnung des Einen als Wahrheit wird bei Plotin demnach nicht im Sinne einer wissenschaftlichen und logischen Aussage verstanden, und sie beruht nicht nur auf intersubjektivem Konsens. Der Bereich des intelligiblen Seins, der die Zeitlichkeit transzendiert, ist die Wahrheit, so dass jede Differenz der Wahrheit des Seins mit der der Aussage aufgehoben ist. „So ist … die eigentliche Wahrheit, welche nicht mit einem andern übereinstimmt, sondern mit ihr selber übereinstimmt und nichts anderes als sich selber aussagt; vielmehr was sie aussagt, das ist sie auch, und was sie ist, das sagt sie aus.“51 Im Begriff der Wahrheit als einem transzendenten Sein verbinden sich somit drei Aspekte: der ontologische, der erkenntnistheoretische und der ethische. Das absolute Sein begründet die Struktur des Seienden und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen; als ‘summum bonum’ vermittelt es dem menschlichen Leben eine ethische Orientierung und ein letztes Ziel. Was jeweils unter ‘Wahrheit’ verstanden wird, hängt somit entscheidend von erkenntnistheoretischen und methodologischen Vorentscheidungen ab. Die Bedingungen der Erkenntnis bestimmen wiederum maßgeblich, was als ‘Wirklichkeit’ angesehen wird. Da sich das methodische Vorgehen Plotins grundlegend von dem der empirischen Wissenschaften unterscheidet, ist auch sein Begriff von Wirklichkeit ein anderer. Mit Kant darf man sagen: Ändern sich die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, dann ändert sich auch der Begriff von Wirklichkeit. Zu den Bedingungen der Erkenntnis gehört in diesem Fall nicht nur der begriffliche Rahmen, sondern auch die Form des Bewusstseins.

Was ist Leben?

Подняться наверх