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II. Historischer Überblick

1. Exemplarische Bestimmungen von ‘Leben’ von der Antike bis zur Neuzeit

1.1 Aristoteles: ‘Die Seele ist des lebenden Körpers Ursache und Grund’1

1.1.1 Lebendigkeit ist Beseeltheit

In der griechischen Philosophie wird ‘Leben’ durch zwei Termini bezeichnet: durch ‘bios’ und ‘zoe’. Obwohl die Bedeutungen oft ineinander übergehen, bezieht sich ‘bios’ mehr auf die menschliche Welt, den Lebenslauf und die Lebensweise; ‘zoe’ dagegen bezeichnet eher das Leben im Allgemeinen, unabhängig davon, ob es sich um das Leben von Menschen, Tieren oder Pflanzen handelt.

In Verbindung mit detaillierten biologischen Beobachtungen entwickelte Aristoteles zum ersten Mal eine Bestimmung von Leben, die in ihren Grundzügen für das biologische, medizinische und philosophische Denken bis zu Descartes gültig war. Wie Platon2 lehnte er die Erklärung der Lebensvorgänge durch einen mechanistischen Atomismus, wie ihn Demokrit vertreten hatte, ab. Während die moderne Biologie Zeugung, Empfängnis, Vererbung, Verdauung und die Entwicklung eines Organismus durch molekulare und damit anorganische Prozesse erklärt, leitet Aristoteles die Kategorien der Natur von organischen Prozessen ab. ‘Physis’, Natur, ist alles, was „in sich selbst einen Anfang von Veränderung und Bestand“3 hat, was sich also aus einer immanenten Dynamik bewegt. Unter dieser Perspektive ist nicht das Lebendige, sondern das Tote erklärungsbedürftig.

Entscheidend für die Bestimmung des Lebendigen ist die Methode: Für Aristoteles gibt es kein einheitliches Verfahren für alle Seinsbereiche, sondern man muss „für jedes einzelne Gebiet das Vorgehen festlegen“4. Die Prinzipien einer Wissenschaft, die Form der Einteilung und der Beweisführung hängen vom jeweiligen Gegenstandsbereich ab. Es gibt jedoch Phänomene, für die eine einzige Methode unzureichend ist, weil sie zu zwei verschiedenen Gegenstandsbereichen gehört. Dass auch eine bestimmte Methode bestimmte Fragestellungen ausschließen kann, so dass derselbe Gegenstandsbereich mit unterschiedlichen Methoden analysiert werden muss, diskutiert Aristoteles noch nicht. Für ihn muss sich die Ordnung der Natur begrifflich-rational erfassen lassen, weil zwischen den Begriffen und dem Seienden eine Korrespondenz besteht. Der Ausgangspunkt für die Bestimmung des Lebendigen ist freilich keine streng logische Analyse von Begriffen, sondern das begriffliche Erfassen von beobachtbaren Phänomenen. Die Begriffe dürfen mit dem, was beobachtet wird, nicht in Widerspruch geraten. Gefordert ist eine äußerst genaue Beobachtung, die allerdings noch nicht durch systematische Experimente im Sinne der Naturwissenschaften gelenkt wird, so dass das Verständnis von Empirie noch sehr viel umfassender ist. Nicht nur die vom Beobachter unabhängig wiederholbaren, im messenden Experiment quantifizierbaren und kausalgesetzlich formulierbaren Aspekte eines Phänomens werden berücksichtigt, sondern auch qualitative Momente. Sogar seelische Prozesse, soweit sie an körperliche gebunden sind, gelten als phänomenal gegeben. Schmerz, Freude und Absichten gelten als ‘wahrnehmbar’, wenn man die sichtbaren körperlichen Bewegungen als Ausdruck seelischer Vorgänge deuten kann. Seelisches tritt vermittels des Leibes in Erscheinung. In einer Handbewegung etwa können sich ein Gruß, eine drohende Gebärde oder angstvolle Abwehr ausdrücken; die Bedeutung dieser Geste kann von anderen verstanden werden. Die Seele ist für Aristoteles kein begriffliches Konstrukt, sondern eine wirkliche Kraft, die sich im Sinnlichen manifestiert, so dass Biologie und Psychologie untrennbar verknüpft sind. Aus diesem Grund ist die Biologie noch keine Naturwissenschaft im modernen Sinne.

Die Seele ist die „Wesenheit im Sinne der Form des natürlichen Körpers, der seiner Möglichkeit nach Leben hat“5, und damit der Grund und die Ursache6 des Lebens. Emotionen betreffen nicht nur die Seele, sondern auch den Körper. Auch das Denken, soweit es an Vorstellungen und damit an sinnliche Eindrücke gebunden ist, ist untrennbar mit körperlichen Prozessen verknüpft. Sogar der Physiker hat es aufgrund der oben genannten Bestimmung der Natur nicht nur mit toter, geistloser Materie im neuzeitlichen Sinne zu tun. Im Unterschied zu unbelebten physischen Dingen wie Steinen ist der Körper eines Lebewesens jedoch auch beseelt.7 Vom Unbelebten unterscheidet sich das Belebte dadurch, dass es eine Seele besitzt; vom rein Geistigen dadurch, dass es einen Körper hat. Nur auf einen vom Körper abtrennbaren immateriellen Geist kann die Methode der Naturforschung nicht mehr angewendet werden.

Zur Bestimmung des Lebendigen gehört demnach die Seele, und zu dieser wiederum ein Körper. Wieso aber kann man Lebensprozesse nicht, wie die moderne Biologie, nur aus materiellen Prozessen ableiten? Und in welcher Weise sind Körper und Seele miteinander verknüpft? Die Materie ist für sich genommen noch nichts Bestimmtes, Gestaltetes; es handelt sich noch nicht einmal um irgendwelche Elementarteilchen, die nach aristotelischer und platonischer Auffassung schon etwas Geformtes sind. Die bloße Materie ist ein Grenzbegriff. Ihre einzige Bestimmung ist es, so beschaffen zu sein, dass sie die Möglichkeit hat, geformt zu werden.8 Der Anstoß zu einer Bewegung kann deshalb nie von der Materie ausgehen, sondern nur von etwas, das den Antrieb zur Bewegung in sich hat. Die Materie ist daher an jeder Bewegung das Passive, Leidende, die Form dagegen das, was die Materie gestaltet. „Die Materie ist Möglichkeit, die Form Erfüllung.“9 In den konkreten Seienden können deshalb Materie und Form, Möglichkeit und Wirklichkeit nicht isoliert betrachtet werden. Obwohl die Formursachen den Stoffursachen übergeordnet sind, sind Stoff und Form – anders als später bei Descartes – als Korrelate in ihrer Funktion aufeinander verwiesen.

Anders als die Bewegung eines Körpers im Raum kann man die Entwicklung eines Lebewesens weder aus dem bloßen Stoff (causa materialis) noch durch eine rein äußerliche, mechanische Einwirkung von Kräften (causa efficiens) befriedigend erklären. Obwohl bestimmte äußere Bedingungen vorhanden sein müssen, lässt sich weder die spezifische Gestalt (causa formalis) noch die Richtung der Entwicklung (causa finalis) aus äußeren Einwirkungen verstehen. Mehr noch als in der unbelebten Natur benötigt man in der belebten die Annahme von Formprinzipien. Dass aus einer Eichel eine ausgewachsene Eiche wird, lässt sich aus der Beschaffenheit des Bodens und des Klimas nicht erklären; dass genügend Wasser und Sonnenlicht vorhanden sind, sind nur die notwendigen Randbedingungen dafür, dass sich der Wachstumsprozess vollziehen kann. Unabhängig von den äußeren Einwirkungen entwickelt sich aus dem Samen der ausgewachsene Baum. Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, kommt der Entwicklungsprozess zu einem Abschluss – es sei denn, er wird vorher durch äußere Umstände gewaltsam unterbrochen. Die einzelnen Lebewesen unterscheiden sich daher nicht nur durch die räumliche Anordnung der materiellen Elemente, sondern durch ihre Gestalt und die mit ihr verbundenen Funktionen. Leben beinhaltet die Entfaltung eines Zieles, das dem Seienden immanent und Ausdruck seines Wesens ist. In diesem Sinne haben Lebewesen aufgrund ihrer Eigendynamik eine gewisse Autonomie.

Jedes Lebewesen strebt nach der Verwirklichung seines Wesens; dieses verleiht dem Entwicklungsprozess seine Richtung. Der Prozess der Entwicklung, das Werden, ist also um des Seins willen da, nicht das Sein um des Werdens willen. In diesem Sinne geht die Wirklichkeit, das Ziel, das es zu erreichen gilt, der Möglichkeit voran.10 Alles Werden ist letztlich Ausdruck von Bedürftigkeit, eines Mangels an Sein, des unvollendeten, noch nicht zur vollen Form gereiften Daseins. Potentiell ist ein Seiendes mehr, als es aktuell ist; es ist noch nicht alles das, was es sein könnte. Alles Geschehen setzt deshalb ein ‘Wozu’, ein Ziel voraus, bei dessen Erreichen die Bewegung erlischt. Es ist jedoch nicht dem Prozess von außen vorgegeben, sondern in der Dynamik der Entwicklung gegenwärtig. In seiner Entwicklung geht es einem Lebewesen um sein eigenes Sein. Der Prozess des Werdens beinhaltet damit noch nicht das Entstehen von unvorhersehbar Neuem, und er hat noch nicht, wie bei Bergson, als ‘schöpferische Entwicklung’ einen Eigenwert.

Durch die Begriffe von Möglichkeit und Wirklichkeit, Form und Stoff kann Aristoteles die Einheit von Seele und Körper denken. Obwohl beide gedanklich unterschieden werden müssen, lässt sich die Seele in Wirklichkeit nicht vom Körper abtrennen, so dass nur „die Seele und der Körper zusammen das Lebewesen“11 sind. Es handelt sich um einen ‘Hylemorphismus’. Die Seele ist weder ein Körper noch ist sie ohne Körper; sie ist nach ihrer allgemeinsten und umfassendsten Bestimmung die „Erfüllung (Entelechie) des natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben besitzt“12. Die Seele ist demnach nicht an einem beliebigen Körper, sondern nur an einem auf bestimmte Weise beschaffenen Körper. Das Verhältnis von Körper und Seele lässt sich deshalb nicht wie das von Hard- und Software bei einem Computer deuten. Hier können sehr verschiedene Programme auf derselben Hardware laufen; in ihr drückt sich die Besonderheit des Programms nicht aus. Bei Aristoteles dagegen muss der Körper so beschaffen sein, dass er prinzipiell lebensfähig ist, er muss die den jeweiligen seelischen Funktionen entsprechende organische Konstitution haben. Ein Körper, der der Möglichkeit nach Leben hat, ist daher der „mit Organen ausgestattete“13. Die einzelnen Teile eines Organismus sind nicht nur zufällig zu einer bestimmten Funktion fähig, sondern zu diesem spezifischen Zweck gebildet. Der Begriff des Organischen beinhaltet daher, dass der Körper eine Ganzheit ist, bei der die einzelnen Teilfunktionen sinnvoll zusammenwirken. Sie sind derart aufeinander abgestimmt, dass sie ihre spezifischen Funktionen nur im Zusammenspiel mit allen anderen Organen vollbringen können. Als Gestalt- und Funktionsganzheiten sind Lebewesen nicht in einzelne Elemente zerlegbar.

„Die Seele ist das eigentliche Sein und der Begriff nicht eines solchen (künstlichen) Körpers, sondern eines natürlichen …, der in sich das Prinzip der Bewegung und des Stillstandes hat.“14 In dreifacher Hinsicht ist die Seele „des lebenden Körpers Ursache und Grund“15: Sie ist Bewegungsanstoß, Endzweck und Wesen des beseelten Körpers. Die Seele ist die organisierende Kraft der Materie; als forma corporis belebt sie den Körper und verleiht ihm seine spezifische Gestalt. Ohne die Seele wäre der Körper nur der Möglichkeit nach lebendig; erst durch die Seele wird diese Möglichkeit verwirklicht, so dass die Seele der eigentliche Zweck eines organischen Körpers ist, das, worin sein Sein zur Erfüllung kommt. „Ein solcher Zweck ist in den Lebewesen naturgemäß die Seele. Denn alle natürlichen Körper sind Werkzeuge (Mittel) für die Seele.“16 Die seelische Kraft lässt sich nicht aus dem materiellen Aufbau des Körpers ableiten; doch umgekehrt lässt sich aus der Bewegung des Körpers auf die Tätigkeit der Seele schließen. Im Unterschied zu Descartes und Spinoza wirkt Seelisches unmittelbar auf Körperliches ein und drückt sich in ihm aus. Die Seele bewegt den Körper daher nicht im Sinne einer äußerlichen Ursache; da sie sich nicht im räumlichen Sinne bewegt, benutzt sie auch den Körper nicht nur wie ein technisch hergestelltes Werkzeug quasi von außen. Als Form und Zweck des Körpers ist die Seele für Aristoteles unbewegt bewegend. Sie ist das Lebensprinzip des Körpers. Leben ist daher nicht irgendeine Eigenschaft, die einem Seienden neben anderen Merkmalen auch noch zukommt, sondern Leben ist ‘das Sein des Lebendigen’.17 Beseelt sein und lebendig sein sind identisch.

Was ist Leben?

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