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2. Die Mechanisierung biologischer Prozesse seit der Neuzeit

2.1 Eine neue Methode: Das ‘Programm einer Erfahrungswissenschaft’

Die entscheidende Weichenstellung für eine Neubestimmung von ‘Leben’ erfolgte mit der Genese der modernen Naturwissenschaften und der mit ihnen verknüpften Methode.80 Zum ersten Mal formulierte Cusanus in seinem Dialog ‘Der Laie über die Experimente mit der Waage’ das ‘Programm einer Erfahrungswissenschaft’81, das durch Galilei zur Grundlage der Naturwissenschaften wurde und durch die Veränderung des Verhältnisses von Natur und Geist auch die philosophische Diskussion maßgeblich mitbestimmte. Die Entwicklung der Philosophie lässt sich daher nicht unabhängig von der der Naturwissenschaften verstehen.

Mit humanitären Argumenten forderte Cusanus, dass man alles, was messbar sei, messen müsse. Solange man sich nur auf die subjektive Wahrnehmung von Wärme oder Gewicht stütze, um eine medizinische Diagnose zu stellen, die Witterungsverhältnisse zu beurteilen oder die Stärke der Sonnenstrahlung abzuschätzen, käme man nie zu exakten Aussagen. Trotz aller Bemühungen würde jeder Mensch zu etwas anderen Ergebnissen kommen, weil seine psychische und physische Verfassung das Urteil beeinflussen. Objektivität in dem Sinne, dass mehrere Beobachter genau zum selben Ergebnis kommen, sei ausgeschlossen. Deshalb müsse man ein Verfahren entwickeln, durch das man die Qualitäten der Dinge unabhängig von der momentanen Verfassung einzelner Menschen präzise bestimmen könne. Man müsse die sinnlichen Qualitäten ‘messen und wiegen’. Die Messungen sollten möglichst überall, bei ‘Gräsern, Hölzern, Fleisch, bei Tieren und Flüssigkeiten’82 durchgeführt werden.

Eine einzelne Messung genügt freilich nicht. „Erfahrungswissenschaft verlangt weitläufige Aufzeichnungen. Je mehr davon vorhanden sind, um so untrüglicher kann man von den Versuchen zur Wissenschaft gelangen, die aus jenem herausentwickelt wurde.“83 Ungenauigkeiten lassen sich nur minimieren, wenn man eine Messung sehr oft unter idealerweise identischen Bedingungen wiederholt. Dazu muss man künstlich immer wieder dieselben Anfangsbedingungen herstellen. Unter gleichartigen Bedingungen sollte immer wieder das Gleiche geschehen. Streng genommen verändert sich jedoch mit jedem neuen Ereignis der gesamte Kontext unumkehrbar, so dass sich nicht noch einmal exakt dieselben Bedingungen erzeugen lassen. Das Experiment konzentriert sich nur auf die Aspekte des Geschehens, die, zumindest prinzipiell, reproduzierbar sind. Nur dann gilt das nun intersubjektiv überprüfbare Wissen als Ausweis einer zeitinvarianten Gesetzmäßigkeit. Die Reproduzierbarkeit der Messung garantiert zudem, dass sie grundsätzlich von jedem Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt und an jedem Ort durchgeführt und damit überprüft werden kann. Dazu müssen freilich auch die verschiedenen Beobachter als gleichartig angesehen werden; ihre Individualität ist für diese Methode irrelevant.

Die Theorie soll sich demnach nur auf in systematisch durchgeführten Experimenten gewonnene empirische Daten stützen, die unabhängig von einem Bezug auf den wahrnehmenden Menschen sind, unabhängig also von qualifizierten Sinneswahrnehmungen, Gefühlen, Intentionen, Bedeutungen und Werten. Die empirischen Wissenschaften erklären die Welt ohne einen Bezug auf das beobachtende Individuum; sie beschreiben die Welt, lebende Wesen eingeschlossen, unter der Perspektive der dritten Person. Diese Aussage gilt nicht nur für die klassische Physik, sondern auch noch für die Quantentheorie; obwohl der Prozess der Beobachtung nicht länger vernachlässigt werden kann, ist die Subjektivität des Beobachters für die Theorie irrelevant.

Mit der Methode der ‘Erfahrungswissenschaften’ werden empirisch wahrnehmbare Ereignisse systematisch beobachtet und mit den Mitteln des diskursiven Verstandes analysiert. Dabei bewirken die Instrumente, mit deren Hilfe die Daten erhoben werden, keine Verbesserung der gewöhnlichen Sinneswahrnehmungen, sondern transformieren sie in ganz spezifischer Weise: Durch die Messung, die die Beobachterunabhängigkeit der Daten ermöglicht, werden Qualitäten in Quantitäten überführt. Jedes Experiment beinhaltet zudem eine kontrollierte Veränderung des Objektes; das Beobachtete wird unter einer begrenzten Fragestellung einem bestimmten Reiz ausgesetzt und die Reaktion hierauf gemessen. Durch die fortschreitende technische Entwicklung werden auch Bereiche erschlossen, die menschlichen Beobachtungen grundsätzlich unzugänglich sind. Dass es keine universale Gleichzeitigkeit gibt, sondern, wie die allgemeine Relativitätstheorie vorhergesagt hatte, der Verlauf der Zeit abhängig ist vom relativen Bewegungszustand eines Systems, wurde erst durch Atomuhren messbar. Der naturwissenschaftliche Begriff der Erfahrung unterscheidet sich somit in charakteristischer Weise vom lebensweltlichen, der auf der Betrachtung der Phänome beruht, wie sie für Menschen im Alltag erscheinen. Durch die Beschränkung des Beobachtungsfeldes durch die Methode verändert sich auch das, was als sinnlich wahrnehmbar und als ‘wirklich’ erscheint.

Die Physik, die das Leitbild für die exakten, empirischen Wissenschaften und, bis zu Quine, für ein daran orientiertes Wahrheitsverständnis gilt, untersucht nicht die Substanz oder das Wesen eines Körpers, sondern nur, wie ein bestimmter Prozess verläuft.84 Nicht was die Seienden sind und warum bzw. wozu sie so und nicht anders sind, wird erfragt, sondern wie, aufgrund welcher Bedingungen und Gesetze, etwas geschieht. Ein Ereignis zu erklären bedeutet nun, es aus einer zeitlichen Abfolge von kausal wirkenden Ursachen zu verstehen. Die Ursache beinhaltet die konkreten Randbedingungen und das jeweilige Naturgesetz. Die Aussagen werden so weit wie möglich mathematisch formalisiert, so dass die Natur unter einer rein funktionalen Perspektive erscheint. In den vielfältigen Formen der Natur drückt sich nicht mehr, wie Aristoteles dachte, ein Wesen aus, das nach der Vollendung seiner Form strebt; die in Experimenten gemessene Natur ist auch nicht mehr die natura naturans, von der Plotin sprach, sondern eine Ansammlung von Körpern im Raum, deren Zustandsveränderungen empirisch gemessen und mathematisch-formal beschrieben werden.

Da sich auch Werte auf ein Wesen beziehen, für das Ereignisse eine Bedeutung haben, vollzieht die wissenschaftliche Methode mit dem Ausschluss der Subjektivität auch eine Trennung des Tatsachenwissens vom Orientierungswissen. Die Erklärung von physischen Prozessen beinhaltet keine Information mehr über die Ziele, für die sie gebraucht oder nicht gebraucht werden sollten. Auch das Intelligible ist der auf die empirische Verifikation im Experiment angewiesenen Methode unzugänglich; es gehört zu einer anderen Ordnung der Wirklichkeit, die eine andere Form der Erkenntnis verlangt. Das Vermögen der Wesenserkenntnis wiesen deshalb schon Galilei, Spinoza85, Goethe86 und sogar Kant87 der intellektualen Anschauung zu. Das, was wissenschaftlich beweisbar ist, wird eingeschränkt auf das – wie Kant sagt – in Raum und Zeit Vorhandene. Mit der Fragestellung und der Erkenntnisform ändert sich das, was von einer Sache erfasst wird, und damit das, was als ‘wirklich’ und als ‘wahr’ gilt. Die Naturwissenschaften verdanken ihre Entstehung somit einem neuen Verhältnis von Erfahrung und Denken. Mit der Methode der ‘Erfahrungswissenschaft’ verändert sich das Modell von der Natur und das Verhältnis des Menschen zu ihr und zu sich selbst.

Der Ausschluss von allem, was für die Perspektive der ersten Person von Bedeutung ist, erfolgte bei Cusanus nur innerhalb einer begrenzten Methode und für bestimmte Ziele. In seinem Werk ‘De visione Dei’ und im zweiten Buch von ‘De docta ignorantia’ begründete er gerade die Einzigartigkeit der individuellen Perspektive. Trotzdem zeichnet sich in seinem Programm bereits die Trennung ab zwischen dem, was fortan als ‘objektiv’ wahr, und d. h. als wissenschaftlich beweisbar gilt, und dem, was ‘nur’ von ‘subjektiver’ Relevanz ist und deshalb, so der weit reichende Schluss, einen geringeren Realitätsgehalt hat. Die Trennung zwischen objektiv Nachweisbarem und subjektiv Wahrgenommenem wird im Laufe der folgenden Jahrhunderte immer mehr zu einer eindeutigen Wertung. Auf ihr beruht bis heute der Anspruch der Naturwissenschaften, objektiv gültige und allgemein verbindliche Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, und die Ablehnung anderer Erkenntnismodalitäten als subjektgebunden und damit ‘unwissenschaftlich’. Das Programm von Cusanus markiert eine geistesgeschichtliche Weichenstellung, mit der sich die Welt der Körper, die wissenschaftlich untersucht werden, von der des Geistes mit seinen Plänen, Zielen und Empfindungen trennt.88 Sieht man, wie maßgebliche Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie und der Kognitionswissenschaften, in der Wissenschaft die höchste Form des Wissens, dann sind die subjektiven Wahrnehmungen sogar nur noch von privatem Interesse und für die Konzeption der Realität irrelevant, eine, wenn auch angenehme ‘Illusion’.89

Das Programm der Entwicklung einer ‘Erfahrungswissenschaft’ sollte bei Cusanus dazu beitragen, einige Bedingungen des sozialen Lebens zu verbessern. Um jedoch durch systematische Messverfahren exakte Daten zu erhalten, sind spezielle Instrumente notwendig. Für Cusanus war die ideale Technologie noch eine Waage. Um die Exaktheit der Daten zu verbessern, müssen auch die Instrumente immer wieder verbessert werden. Der Fortschritt in der experimentellen Wissenschaft ist deshalb verbunden mit einem technologischen Fortschritt. Während Aristoteles im 6. Buch der ‘Nikomachischen Ethik’ die technische Intelligenz von der sozialen und wissenschaftlichen unterschieden hat, werden sie bei Cusanus zum ersten Mal verbunden. Die soziale Dynamik hängt nun nicht mehr nur von der Verwirklichung ethischer Werte ab, sondern auch vom technologischen Fortschritt. Bis heute beruht die Dynamik der modernen Gesellschaft wesentlich auf der Überzeugung, dass die Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und technischen Erfindungen den Fortschritt zu mehr Humanität unterstützt.

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