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1.2 Aufbau und Methode

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Im ersten Teil des Buches wird ein ideengeschichtlicher Überblick über repräsentative Bestimmungen von Leben gegeben, der die moderne Diskussion in einen größeren Kontext einbindet. Der historische Rückblick macht sichtbar, wie sich die biologische Bestimmung von Leben und die mit ihr verknüpfte Problematik entwickelt haben. Im Spiegel der Denkmodelle der Vergangenheit wird deutlich, in welcher Hinsicht und mit welcher Begründung sich der Begriff des Lebens verändert hat. Dadurch zeigt sich, welche Fragen ausgeblendet werden oder neu hinzugekommen sind, so dass die Bedeutung, aber auch die Grenzen, Defizite und Aporien der modernen Theorien klarer hervortreten. Um die philosophische Tradition mit der Gegenwart in einen Dialog zu bringen, darf man die verschiedenen Bestimmungen von Leben freilich nicht nur in ihrem historischen Kontext analysieren; um ihre Implikationen sichtbar zu machen, werden sie auch mit modernen Fragen konfrontiert. Ein entscheidendes Kriterium für die Auswahl unter der Vielzahl historischer Positionen war, ob Schlüsselbegriffe thematisiert werden, die noch für die gegenwärtige Diskussion relevant sind.

Aristoteles hat aufgrund sorgfältiger Beobachtungen als Erster in der abendländischen Tradition Kriterien entwickelt, um die Vielfalt unterschiedlicher Lebewesen systematisch zu ordnen. Lebendigkeit ist für ihn Ausdruck von Beseeltheit; Pflanzen, Tiere und Menschen unterscheiden sich jedoch durch die Art der Beseeltheit. Die höher entwickelten Lebewesen setzen allerdings die einfacheren voraus, so dass sie, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, wie die Glieder einer Kette miteinander verbunden sind. Auch der Mensch ist ein animal rationale. Für die moderne Biologie, die Lebewesen als offene Systeme ansieht, die sich aus einer immanenten Dynamik entwickeln und sich ebenso wenig wie ein Organismus in Teile zerlegen lassen, gewinnt die aristotelische Differenzierung des Begriffs der Kausalität eine neue, wenngleich veränderte Bedeutung. Die Philosophie Plotins dient als Beispiel für die Begründung von Leben in einem Raum, Zeit und Materie transzendierenden Sein, dem Einen. Seine Theorie ist ein Beispiel für eine Bestimmung von Leben, die eine religiöse Dimension ins Zentrum stellt. Die Wahrheit des Seins ist klar zu unterscheiden von dem Wahrheitsanspruch diskursiver, wissenschaftlicher Aussagen. Diese Differenzierung ist heute für das Gespräch zwischen Religion und Naturwissenschaften ebenso unverzichtbar wie für einen interkulturellen Dialog, bei dem wissenschaftliche, mythische und religiöse Erklärungen der Wirklichkeit aufeinander treffen.

Descartes, der einen Dualismus von Materie und Geist entwickelte, vollzog eine geistesgeschichtliche Weichenstellung, die bis in die Gegenwart bestimmend blieb. Da auf dem Hintergrund der klassischen Physik Materie kein Korrelat mehr zur Form war, wurden auch Leben und Geist voneinander getrennt. Alle physischen Prozesse, unbelebte wie belebte, wurden physikalisch erklärt; der menschliche Geist dagegen fand den Grund für seine Selbstvergewisserung nur noch im reinen Denken. Das Unbelebte wurde zum Modell für die Erklärung des Lebendigen, während der menschliche Geist eine alle anderen Lebensformen überragende Sonderstellung erlangte. Eine Konsequenz dieses Denkens war die strikte Trennung der causa efficiens (Wirkursache), die zur Erklärung materieller Prozesse diente, von der causa finalis (Zielursache), die zum Verständnis zweckhafter Handlungen gefordert wurde. Wie aber ließ sich dann noch erklären, dass sich die Absicht, etwas Bestimmtes zu tun, tatsächlich in körperlichen Bewegungen manifestierte? Dieses Dilemma, das Descartes ebenso wie Spinoza und Leibniz beschäftigt hat, bestimmt noch die heutige Diskussion: Wie kann aus neuronalen Prozessen die Bedeutung eines Gedankens entstehen? Aber auch umgekehrt: Wie kann die Bedeutung eines Ereignisses physische Beschwerden erzeugen? Und selbst wenn man nur von einer Korrelation mentaler Akte und neuronaler Prozesse spricht: Wie ist diese zu denken? Bis heute gibt es kein schlüssiges Modell, das erklärt, wie physiologische und seelisch-geistige Prozesse zusammenhängen, wenn man physiologische Prozesse im Rahmen der naturwissenschaftlichen Methode objektivierend erklärt. Und doch erfahren wir Tag für Tag an uns selbst, dass leibliche und geistige Prozesse in ihrer Unterschiedlichkeit zusammengehören. Schon vor Darwin bestimmte Spinoza Leben durch das Streben, sich selbst zu erhalten. Da für Spinoza der Mensch eine Einheit aus Körper und Geist ist, wird Selbsterhaltung noch nicht auf das physische Überleben eingeschränkt. In dem Bemühen, die Aporien von Dualismus und psycho-physischem Parallelismus gleichermaßen zu überwinden, formulierte de La Mettrie zum ersten Mal einen materialistischen Monismus: Alle seelischen Regungen haben für ihn eine physiologische Ursache; sie ihrerseits haben keinen Einfluss auf den Gang der ‘Körpermaschine’. Mit diesem Schritt wurde der tote Stoff zum Seinsgrund nicht nur des Lebendigen, sondern auch des menschlichen Geistes. Im Unterschied zu Aristoteles und Descartes vollzog Kant durch erkenntnistheoretische Reflexionen erstmals eine Trennung der Physik als Wissenschaft vom Unbelebten von der Biologie als Wissenschaft von belebten Organismen. Entscheidend für die Argumentation ist der Begriff der Kausalität: Die Selbstorganisation von Organismen, so erkannte Kant, kann man nicht nur durch Wirkursachen erklären, man benötigt, zumindest als regulative Prinzipien, auch Zweckursachen.

Darwin schließlich begründete aufgrund empirischer Studien die moderne Evolutionsbiologie. Die Vielfalt der Arten, so die These, sei durch zufällige Ereignisse entstanden und müsse sich im ‘Kampf ums Überleben’ bewähren. Wirklich neu ist nicht die Entdeckung der Verwandtschaft von Tieren und Menschen, sondern die ihrer Genese und deren Erklärung. Mutation und Selektion, so Darwin, führen zu einer graduellen Abwandlung der Arten und einer allmählich zunehmenden Komplexität. Im Anschluss an Darwin versuchen moderne naturwissenschaftliche Theorien den Übergang vom Unbelebten zum Belebten zu erklären. Waren von der Antike bis zur Neuzeit Beseeltheit und Lebendigkeit synonym, so wird nun eine rein biologische Bestimmung von Leben entwickelt. Diese Minimalbestimmung muss sich auf Bakterien ebenso anwenden lassen wie auf Menschen. Gewöhnlich werden drei Kriterien angegeben: Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Mutagenität. Doch genügt es, das Leben rein biologisch zu bestimmen? Schon die einzelne Zelle, für viele Biologen die Grundeinheit des Lebendigen, reagiert, anders als Kristalle oder Steine, auf Umweltreize. Biologen sprechen von der Fähigkeit zur Signalperzeption. Wie rudimentär auch immer beinhaltet sie nicht nur eine Sensitivität für die Umwelt, sondern zugleich für den eigenen Zustand.

Diese erste Form der Sensitivität für Reize, die offensichtlich mit dem biologischen Leben beginnt, bildet den Keim für eine sich immer mehr ausdifferenzierende Innenwelt: für die Entwicklung von Sinneswahrnehmungen, Empfindungen, Gefühlen und Bewusstsein. Mit der wachsenden Komplexität des inneren Erlebens gewinnt die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen und diese zu tradieren, eine immer größere Bedeutung. Zu einem der markantesten Merkmale der Evolution gehört daher die des Bewusstseins. Die Bestimmung von Leben wäre deshalb unbefriedigend ohne die Diskussion der Funktion unterschiedlicher Formen psychischer Lebendigkeit und der Methode, durch die sie zu beschreiben sind. Die Biologie als Naturwissenschaft kann psychische Prozesse nur aus der Perspektive der 3. Person, der eines Objektes also, beschreiben; explizit stellt sich nun die Frage, ob eine Beschreibung des Lebendigen nicht um die Aspekte ergänzt werden muss, die sich nur erschließen, wenn man einem Lebewesen auch ein, wie Scheler sagt, ‘Für-Sich-Sein’ zugesteht und mit ihm qualifizierte Perzeptionen, Intentionen und das Erfassen von Bedeutungen. Dann allerdings muss auch die Methode der Naturwissenschaften bei der Bestimmung von Leben überschritten werden.

Durch die genuin menschliche Form des Bewusstseins erweitert sich der Verhaltensspielraum noch einmal entscheidend: Der Mensch sieht die Welt nicht nur im Licht vitaler und emotionaler Bedürfnisse; er kann auch über sich selbst reflektieren und Objekte aus purem Interesse, sozusagen um ihrer selbst willen, betrachten. Das, was Menschen erleben, wird symbolisch, im Medium bedeutungstragender, sinnlicher Zeichen interpretiert. Der Mensch, so Cassirer, ist ein ‘animal symbolicum’, ein symbolschaffendes Lebewesen, das sich durch Sprache, Kunst, Mythen, Religion, Wissenschaft und Technik eine eigene Lebenssphäre erzeugt, die Kultur. Doch kann man diese fast sprunghafte Veränderung der Lebensweise tatsächlich durch eine graduelle Steigerung einzelner Fähigkeiten erklären? Um diese Fragestellung zu klären, wird auf einen zentralen Gedanken der Systemtheorie rekurriert: Wenn Menschen wie alle Lebewesen ‘offene Systeme’ sind, dann bilden sie eine Einheit in der Vielfalt verschiedener Funktionen. Mit dem Menschen ändert sich die Bewusstheit deshalb nicht nur graduell, sondern, so die These von Scheler, Plessner und Cassirer, es entsteht eine neue Form des Bewusstseins. Der genuin menschliche Verhaltensspielraum erklärt sich erst aus dem Zusammenspiel verschiedener Facetten der Intelligenz, von Selbst- und Zeitbewusstsein, von sozialer und theoretischer Intelligenz und der verbalen Sprache. Damit eröffnen sich dem Menschen unterschiedliche Möglichkeiten, Erfahrungen zu interpretieren und über sie zu kommunizieren. Zur Kultur gehören deshalb, abgesehen von technischen Erzeugnissen und sozialen Gepflogenheiten, auch mythische Deutungen, ethische Werte, philosophische und religiöse Reflexionen, künstlerische Darstellungen und wissenschaftliche Theorien. Was Menschen im Rahmen ihrer kulturschöpferischen Aktivitäten erzeugt haben und noch immer erzeugen, überschreitet das, was zum Überleben notwendig ist. Obwohl Leben ohne jeden Zweifel ohne biologisches Überleben unmöglich wäre, stellt sich doch spätestens beim Menschen die Frage, ob alle Aktivitäten nur Funktionen des Überlebens sind oder auch eine darüber hinausführende Bedeutung haben.

Unabhängig davon, ob man eine den Tod transzendierende Seinsdimension annimmt oder nicht, beruht die Frage nach ihr auf der spezifischen Form des menschlichen Bewusstseins: auf der Fähigkeit, sich den eigenen Anfang und das eigene Ende vorzustellen, mithin auf der Verbindung von Zeit- und Selbstbewusstsein. Obwohl Leben und Tod in unterschiedlichen Epochen und Kulturen je anders interpretiert wurden, gab es bisher keine Kultur, die die Frage nach dem, was vor dem Anfang des menschlichen Lebens oder nach seinem Ende kommen mag, nicht gestellt hätte. Die Frage selbst beruht auf der Conditio humana und ist in allen Kulturen weniger von rein theoretischer, als vielmehr von existentieller Bedeutung. Die Frage, was Leben sei, gehört zu den kultur- und epochenübergreifenden Schlüsselthemen der Menschheitsgeschichte. Um dem ganzen Spektrum menschlicher Erfahrungen und damit dem systematischen Anspruch dieses Buches gerecht zu werden, das menschliche Leben als Schnittpunkt verschiedener Bestimmungen von Leben zu sehen, darf auch die religiöse Dimension nicht fehlen. Nicht nur repräsentative traditionelle Bestimmungen werden berücksichtigt, die sich in besonderem Maße für eine religionsvergleichende Perspektive anbieten; die Frage nach einer transzendenten Dimension stellt sich heute auch aufgrund empirischer Studien über Grenzerfahrungen. Im vorletzten Kapitel werden abschließend die ethischen Probleme angesprochen, die sich seit der Neuzeit durch die Verflechtung des technologischen, wissenschaftlichen und humanitären Fortschritts für den Umgang mit Lebendigem ergeben haben.

Nimmt man das menschliche Leben als Schnittpunkt zwischen Natur und Kultur, dann ergeben sich schwerwiegende methodologische Probleme: Insofern der Mensch als Gattungswesen in der Evolution entstanden ist, gehört die Frage nach seiner Stellung innerhalb der Ordnung der Natur heute zum Gegenstandsbereich der Biologie als einer Naturwissenschaft. Sie unterscheidet sich durch ihre Methode, ihren Gegenstandsbereich und die zulässigen Fragen von anderen Disziplinen: „Die Biologie ist eine Erfahrungswissenschaft, die lebende Systeme untersucht, um sie zu beschreiben, ihr Verhalten zu erklären und nach Möglichkeit auch vorauszusagen.“2 Zum Gegenstandsbereich der Biologie gehören nicht nur die derzeit lebenden Pflanzen und Tiere, sondern auch ihre stammesgeschichtlichen Vorfahren. Die Entstehung der Arten vollzog sich unter einmaligen, nicht exakt reproduzierbaren Bedingungen, so dass sie sich durch allgemeine Gesetze nicht adäquat erklären lässt. Wie die physikalische Kosmologie hat auch die Biologie eine historische Dimension, bei der die einzigartige Konstellation von Bedingungen eine entscheidende Rolle bei der Genese eines bestimmten Ereignisses spielt. Die die Theorie stützenden empirischen Daten werden durch Freilandbeobachtungen oder Experimente in einem biowissenschaftlichen Labor gewonnen. Die Möglichkeit der Reproduzierbarkeit von Ereignissen ist allerdings, im Vergleich zur Physik, sehr beschränkt: Zum einen haben sich die Bedingungen, unter denen sich die Evolution vollzogen hat, irreversibel verändert; zum anderen wird das Verhalten von Lebewesen von Empfindungen und Bedürfnissen mitbestimmt, die durch die Versuchssituation und, bei Freilandstudien, auch durch das Verhältnis zum Beobachter beeinflusst werden. Ab einer gewissen Komplexität ist das Verhalten zudem nicht mehr nur durch artspezifische Reaktionen bestimmt, sondern auch durch Lernprozesse, die bei jedem Lebewesen aufgrund seiner Intelligenz und schon erworbener Erfahrungen anders verlaufen. Die Biologie kann daher nur die Abfolge der vergangenen Ereignisse kausal rekonstruieren; welche Alternativen jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt bestanden haben und wie die künftige Entwicklung verlaufen wird, lässt sich nicht bestimmen. Damit ist eine Aussage über einen Endzustand oder gar ein mögliches Ziel der Evolution methodisch ausgeschlossen. Wie alle anderen Disziplinen erfasst auch die Biologie die Welt nicht unmittelbar. Sie analysiert die Wirklichkeit unter einer ausgewählten Fragestellung und mit einer bestimmten Methode und deutet diese Beobachtungen im Rahmen eines bestimmten Begriffssystems. Methode und Begriffssystem müssen sich zwar an einem bestimmten Gegenstandsbereich bewähren; doch weder die Fragestellung noch die theoretische Interpretation lassen sich von der untersuchten Sache unmittelbar ableiten. Jede Theorie hat deshalb Gültigkeitsgrenzen, so dass es in ihrem Rahmen auf bestimmte, möglicherweise durchaus sinnvolle Fragen keine Antwort gibt.

Schon dass Menschen Theorien über die Welt und sich selbst bilden können, zeigt allerdings, dass sie als biologische Wesen auch Kulturwesen sind: Ihnen erschließt sich die Welt nur im Medium von Symbolen, die aufgrund intentionaler Akte geprägt und von anderen in ihrer Bedeutung verstanden werden. Dass sich biologische Anlagen und kulturelle Vermittlung weder voneinander trennen noch aufeinander reduzieren lassen, zeigt beispielhaft das Erlernen der Sprache. Das Sprachvermögen, das zur biologischen Grundausstattung jedes gesunden Kindes gehört, entwickelt sich nur, wenn es in einer sensiblen Lebensphase sprechen lernt. Das zeitliche Fenster, in dem die Sprachentwicklung möglich ist, wird durch ein genetisches Programm gesteuert. Wird es in den ersten Jahren nicht angesprochen, dann kann das Kind später aus biologischen Gründen nicht mehr richtig sprechen lernen. Damit es jedoch sprechen lernt, ist es auf die Kommunikation mit anderen Menschen angewiesen, die ihm eine ganz bestimmte Sprache vermitteln. Welche Sprache erlernt wird, ist nicht genetisch determiniert. Die Sprache beruht auf bedeutungstragenden Zeichen, die den Ausdruck des Erlebten und die Kommunikation mit anderen ermöglichen. In diesen Zeichen haben sich bestimmte Erfahrungen und Wertungen einer Kultur verdichtet, so dass jede Sprache eine historische Dimension hat. Durch die individuelle Aneignung einer Sprache vollzieht sich freilich immer auch eine Transformation ihres Bedeutungsgehaltes. Weder aus den Genen noch aus der kulturellen Tradition lässt sich daher der individuelle Sprachgebrauch vollständig erklären. Für das Individuum hat die Sprache eine dreifache Funktion: Sie wird zum Medium der Welterschließung, des Ausdrucks der eigenen Innenwelt und der Kommunikation mit anderen.

Ebenso wenig wie die Sprache lassen sich die Genese und die Bedeutung von Kunst, Wissenschaft, Religion und Technologie mit biologischen Prinzipien zureichend erklären. Auch die ethische Bewertung des Lebens nicht-menschlicher und menschlicher Lebewesen kann nicht mehr mit der Methode der Naturwissenschaften erfolgen. Die Aspekte der menschlichen Erfahrung, die nicht wissenschaftlich objektivierbar, aber gleichwohl für die Orientierung in der Welt unverzichtbar sind, bedürfen daher eines eigenen methodischen Zugangs. Es handelt sich vor allem um die Erfahrungen, die nur dem Individuum, der Perspektive der ersten Person also, zugänglich sind: qualifizierte Perzeptionen, seelische Erlebnisse wie Emotionen, Gedanken, Intentionen und Motive, die Bedeutung eines Ereignisses, die Wahrnehmung des eigenen Leibes und schließlich die Begegnung mit einem anderen Menschen als einem personalen Gegenüber, einem Du.

Schon die genannten Aspekte zeigen, dass eine Bestimmung von Leben unlösbar mit dem Verständnis des Menschen von sich und der Welt und mit den Methoden, mit deren Hilfe er nach Erkenntnis sucht, verbunden sind. Die Bestimmung von Leben kann daher letztlich nur in einem transdisziplinären Dialog zwischen der Philosophie, soweit man das ganze Spektrum der verschiedenen Teildisziplinen einbezieht, und den Naturwissenschaften erfolgen. Da jedoch die unterschiedlichen Disziplinen, die sich um eine Bestimmung von Leben bemühen, je andere Fragestellungen, Gegenstandsbereiche und Methoden haben, sind erkenntnistheoretische Reflexionen notwendig, die zeigen, wie sich mit der Fragestellung und der Methode, mit den Bedingungen der Erkenntnis also, auch die Begriffe von Wirklichkeit und Erfahrung verändern. Keine Disziplin hat die ‘ganze’ Wahrheit; doch in jeder klärt sich das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt.

Hätte freilich ein plurales Wahrheitsverständnis, die strikte Trennung von Gegenstandsbereichen, Methoden und Begriffssystemen das letzte Wort, dann würde der innere Zusammenhang der Erfahrung verloren gehen. Die Menschen würden sich im Denken und Handeln in disparaten ‘Sprachspielen’ bewegen und könnten die unterschiedlichen Erfahrungen in keinen Deutungszusammenhang integrieren und auf sich selbst beziehen. Ohne die Möglichkeit, sich, ungeachtet aller Teiltheorien, als leibseelische Einheit zu verstehen und sich im Wechsel der Lebensumstände wiederzuerkennen, würde sich die Identität in verschiedene Teilfunktionen auflösen und in eine Art ‘multiple Persönlichkeit’ zerfallen.3

Ein zusammenhangloses Nebeneinander verschiedener Theorien ist daher ebenso unbefriedigend wie die Reduktion auf einen einzigen Zugang. Wenn der Mensch von Natur aus auf Kultur angewiesen ist und sich umgekehrt die kulturelle Dynamik nicht gänzlich unabhängig von biologischen Prozessen verstehen lässt, dann ist die Trennung der ‘zwei Kulturen’, von Natur- und Geisteswissenschaften, die die letzten drei Jahrhunderte bestimmend war, obsolet. Die Ordnung der Natur und der Kultur, der funktionsfähige Körper und der empfundene Leib, das intakte Auge und der sprechende Blick gehören in ihrer Unterschiedenheit zusammen. Der Mensch selbst ist der Schnittpunkt der verschiedenen Sichtweisen; er muss sie in seinen Handlungen koordinieren. In ihm konvergieren die verschiedenen Bestimmungen, die in der gegenwärtigen Diskussion wie disjecta membra beziehungslos nebeneinander existieren.4

Um diesen Zusammenhang zu erarbeiten, muss zunächst das vorhandene Material gesichtet und aufbereitet werden. Damit zeichnet sich der Rahmen ab, innerhalb dessen sich eine Bestimmung von ‘Leben’ bewegen muss, wenn man die ganze Spannbreite menschlicher Erfahrungen mit ‘Leben’, eigenem wie fremdem, thematisieren will. Dies in paradigmatischer Form zu leisten ist das Anliegen des vorliegenden Buches. Studien, die einzelne Themen detailliert ausarbeiten, müssen freilich folgen. Sie würden jedoch sowohl die Intention wie den Umfang dieses Buches bei weitem überschreiten.

Was ist Leben?

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