Читать книгу Was ist Leben? - Regine Kather - Страница 7
Оглавление[Menü]
I. Einführung
1. Die verschiedenen Sinnebenen von ‘Leben’ und ihre Bedeutung für den Menschen
1.1 Zur Intention
Seit das Leben entstanden ist, hat es sich in eine ungeheure Vielfalt von Gattungen und Arten aufgefächert. Sie bevölkern die Luft und das Wasser, leben in dunklen Höhlen oder in heißen Quellen. Durch die Anpassung an die Umwelt hat jede Art besondere Fähigkeiten ausgebildet. Doch trotz dieser Unterschiede haben alle Wesen etwas miteinander gemeinsam: Sie sind lebendig. Doch was bedeutet das? Wodurch unterscheiden sich Lebewesen von toten Dingen? Und wie, aufgrund welcher Ursachen, ist das Leben entstanden? Wird man der Vielfalt des Lebendigen gerecht, wenn man es nur biologisch, durch Stoffwechsel, Selbstreproduktion und Mutagenität bestimmt? Doch welche Funktion haben dann die unterschiedlichen Formen psychischer Lebendigkeit, die sich im Laufe der Evolution ausdifferenziert und eine immer größere Bewusstheit ermöglicht haben, die nicht nur die Fähigkeit beinhaltet, sich und die Welt immer deutlicher wahrzunehmen, sondern auch den Spielraum der Interaktionen mit anderen Lebewesen ständig erweitert hat? Und welche Bedeutung hat schließlich für das menschliche Leben die Kultur in ihren verschiedenen Manifestationen, die von technologischen Erzeugnissen bis zu subtilen naturwissenschaftlichen Theorien und philosophisch-theologischen Reflexionen reichen? Wäre menschliches Leben ohne Kultur überhaupt möglich? Und wie wird diese konstituiert?
Bei der Bestimmung des menschlichen Lebens müssen offensichtlich biologische, seelisch-geistige und kulturelle Momente gleichermaßen berücksichtigt werden. Der Mensch ist, wie Plessner schrieb, von „Natur aus auf Kultur angelegt“. Diese Bestimmung impliziert allerdings eine doppelte Leserichtung: Einerseits ist er als Vernunftwesen leibgebunden und damit ein Teil der Natur; andererseits ist er aufgrund seiner biologischen Ausstattung auch auf die auf symbolischen Akten beruhende Sphäre der Kultur angewiesen. Sieht man das menschliche Leben gleichsam als Schnittpunkt verschiedener Seinsordnungen, dann ist nicht nur ein materialistischer Monismus einseitig, der Verhaltensweisen, Erkenntnisstrukturen und Werte aus genetischen Programmen ableitet; ebenso einseitig ist die Bestimmung des menschlichen Lebens nur durch die Vernunft oder die sozialen Bedingungen, durch die die Bedeutung der leiblich-vitalen Dimension für die Konstitution der Identität nicht angemessen berücksichtigt wird. Beide Sichtweisen sind letztlich noch eine Folge des cartesischen Dualismus und der mit ihm verknüpften Trennung von Materie und Geist. Auch die ‘Life Sciences’, die als Schlüsseldisziplinen des 21. Jahrhunderts gelten, berücksichtigen im Allgemeinen nur die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, von Biologie, Genetik und Neurophysiologie. Mit einer einseitigen Bestimmung des Menschen wird nicht nur sein Verhältnis zu sich, sondern auch zur Welt entscheidend verkürzt.
Doch Lebewesen sind komplexe Gebilde, so dass auch der Begriff des Lebens vielschichtig ist. Er fordert eine Abgrenzung vom Unbelebten einerseits von nicht mehr rein biologisch zu bestimmenden Formen des Lebens andererseits. In der Philosophie wurde und wird er unter naturphilosophischer und anthropologischer Perspektive diskutiert. Beide Sichtweisen sind sowohl durch ihren Gegenstand wie durch erkenntnistheoretische Reflexionen aufeinander verwiesen: Eine philosophische Anthropologie, die nach einer Antwort auf die kantische Frage, was der Mensch sei, sucht, muss naturwissenschaftliche und naturphilosophische Überlegungen berücksichtigen. Der Mensch ist in der Evolution entstanden und partizipiert durch seinen Leib nach wie vor an der Natur, und zwar sowohl aufgrund physiologischer Bedürfnisse wie durch qualifizierte Sinneswahrnehmungen und die durch sie möglichen ästhetischen Empfindungen. Es ist deshalb die über die Naturwissenschaften hinausführende Aufgabe der Naturphilosophie, eine Interpretation des Lebendigen zu entwickeln, die den Menschen mitsamt seinen Erkenntnismodalitäten einschließt. Die Naturwissenschaft sieht sich ihrerseits auf genuin philosophisch-anthropologische Reflexionen verwiesen. Zum einen muss man die Bedeutung der Kultur für die Entwicklung des Individuums berücksichtigen; zum anderen muss man in erkenntnistheoretischer Hinsicht bedenken, dass auch die Interpretation der Natur, biologischer Prozesse eingeschlossen, nur im Medium der Kultur erfolgt, mit den Begriffen und Methoden also, die einer bestimmten Epoche zur Verfügung stehen. Der Mensch erlebt nicht unmittelbar, was in ihm oder um ihn herum geschieht, sondern interpretiert es im Medium bedeutungstragender Zeichen, von Symbolen. Dadurch erzeugt er die Kultur als genuin menschliche Lebenssphäre. Wie Leben bestimmt wird, hängt daher maßgeblich von der jeweiligen Fragestellung ab und, damit zusammenhängend, auch von der Methode und dem jeweiligen Begriffssystem. Dagegen, dass die Interpretation der Natur eine bloße Konstruktion ist, spricht freilich, dass sie zumindest das biologische Überleben ermöglichen muss. Die Adäquatheit oder Inadäquatheit der Interpretationen von Wirklichkeit entscheiden über nichts Geringeres als über Sein oder Nicht-Sein des Menschen.
Um nicht nur eine Minimalbestimmung des Lebendigen zu entwickeln, sondern seine Vielschichtigkeit zu erfassen, muss man demnach unterschiedliche Quellen der Erkenntnis benutzen. In diesem Sinne heißt es in einem Artikel zum Begriff des Lebens programmatisch: „Philosophische Aufgaben einer Theorie des menschlichen Lebens lassen sich heute durch das Erfordernis bestimmen, biowissenschaftliche Begriffsbildungen und Beschreibungskriterien, die sich auf molekulare intrazelluläre, organismische und ökologische Sachverhalte beziehen, durch (philosophisch-anthropologische) Kategorien, z. B. des kommunikativen Handelns und der vitalen Selbsterfahrung (z. B. Fühlen, Wollen, Erinnern), also durch eine nicht-empirische Theorie der Lebensformen, zu ergänzen. Zu einer derartigen Theorie gehören, zum Teil wiederum im Anschluß an den antiken Bios-Begriff, auch die Begriffe des guten Lebens, als eines Lebens, in dem die wesentlichen Bedürfnisse und Bestimmungen des Menschen Berücksichtigung finden, des vernünftigen Lebens und der Eudämonie, diese verstanden als eine Verbindung von gutem Leben und theoretischer Lebensform. In sachlichem Zusammenhang mit diesen Begriffen steht ferner die Erörterung der Frage nach dem Wert des Lebens. Zu deren Beantwortung bedarf es a) differenzierter Unterscheidungen, die insbesondere die spezifischen Eigenschaften des menschlichen Lebens betreffen und daher auch von einer biologischen Theorie nicht zureichend zur Verfügung gestellt werden können, b) der Beurteilung von Handlungen nach einem mit den Organismen nicht schon selbst gesetzten Prinzip der Zweckmäßigkeit sowie einem Prinzip der Sittlichkeit. … Zu den Grundbegriffen der (philosophischen) Anthropologie und damit zu philosophischen Grundbegriffen des menschlichen Lebens gehört wiederum insbesondere der Begriff des Todes, einerseits (historisch) als komplementärer Begriff zum Begriff des ‘ewigen’ Lebens, andererseits (vor allem innerhalb der Existenzphilosophie ausgearbeitet) als derjenige Begriff, in dem das menschliche Leben seine spezifische Form besitzt.“1 Nur wenn sich die Erkenntnisse und Methoden verschiedener Disziplinen ergänzen, ist eine umfassende Bestimmung von Leben möglich. Über die Form der Ergänzung schweigt der Artikel freilich.
Das Ziel dieses Buches ist es daher, zunächst die ganze Spannbreite der Bestimmungen von Leben – biologische, kulturanthropologische und schließlich auch religionsphilosophische – paradigmatisch darzustellen. Indem die der jeweiligen Bestimmung zugrunde liegenden Fragestellungen, Methoden und Beobachtungen ebenso wie die Grenzen der einzelnen Perspektiven sichtbar werden, zeigt sich auch, ob und inwiefern sie sich ergänzen. Bei der Bestimmung des menschlichen Lebens wird in exemplarischer Weise sichtbar, dass nicht nur die Trennung von Materie und Geist und von Natur und Kultur, sondern auch die mit ihr verbundene Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften unhaltbar ist.
Die Frage, was der Mensch sei, so erkannte Kant, sei untrennbar mit den Fragen danach verbunden, was er wissen könne, tun solle und hoffen dürfe. Auch die Aufgabe, eine umfassende Bestimmung von ‘Leben’ zu entwickeln, die die Vielfalt seiner Erscheinungsformen berücksichtigt, ist nicht allein von theoretischem Interesse. Sie ist die Grundlage für eine Antwort auf viele ethische und juristische Fragen, die sich, vor allem aufgrund der Entwicklung der modernen Technologien, heute in ganz anderer Weise stellen als in früheren Jahrhunderten. Auch für die Ethik sind neue Probleme entstanden, die frühere Ethiken nicht bedenken konnten: Die Eingriffe in das planetare Ökosystem bedrohen das biologische Überleben der Menschheit; der Prozess der Globalisierung hat den Blick für gemeinsame Ziele, aber auch für die Unterschiede zwischen Kulturen geschärft; durch die technischen Möglichkeiten der modernen Medizin schließlich wurde die Frage, wie das Verhältnis von Leib und ‘Seele’ zu bestimmen sei und wann das Leben wirklich beginnt und wann es zu Ende ist, immer brisanter; die Entschlüsselung des genetischen Codes schließlich verleiht der Debatte, ob und inwieweit psychische Eigenschaften, Alkoholismus, Kriminalität und Hyperaktivität, aber auch Egoismus und Altruismus, genetisch bedingt und veränderbar sind, eine neue Dimension. Welchen Einfluss man physischen, kulturellen und individuellen Faktoren jeweils zuschreibt, ist wiederum die Grundlage von therapeutischen Entscheidungen in Medizin und Psychologie. Obwohl sich aus der wissenschaftlichen Bestimmung von Leben nicht unmittelbar Werte ableiten lassen, entscheidet die Antwort doch darüber, welche ethischen Fragen überhaupt sinnvoll sind. Bei einem Stein etwa stellt sich die Frage, was man mit ihm tun darf, anders als bei einem leidensfähigen Wesen. Würde man von einer vollständigen genetischen oder neuronalen Determiniertheit menschlichen Handelns ausgehen, wären Begriffe wie Verantwortung und Schuld ebenso obsolet wie pädagogische Konzepte, die an Einsicht und Freiwilligkeit appellieren. Die Antwort auf die Frage, was ‘Leben’ ist, entscheidet daher mit darüber, wie es ethisch zu bewerten ist, welche Handlungen zulässig oder unzulässig sind und wozu sie dienen.