Читать книгу Was ist Leben? - Regine Kather - Страница 12
1.2.2 Von der Einheit zur Vielheit: Zur Korrelation von Leben und Geist
ОглавлениеDas Eine als das schlechthin Einfache transzendiert als ‘Ursprung des Lebens und des Geistes’52 Geist und Leben. Das Erzeugende ist einfacher und, weil es vollständig in sich geeint ist, auch wirkungsfähiger als das Erzeugte. Als Fülle aller Möglichkeiten ist es ein unerschöpfliches, unbegrenztes Vermögen, das die Vielfalt von Lebewesen aus sich entlässt, ohne dabei selbst an Wirkungskraft zu verlieren.53 Indem das Eine sich selbst denkt und sich darin von sich unterscheidet, geht aus ihm eine erste Form von Andersheit hervor: der göttliche Geist (nous). Sein Leben ist die Bewegung des Aus-Sich-Hervorgehens und Zu-Sich-Zurückkehrens. Da er nicht irgendein Objekt denkt, das außerhalb seiner selbst ist, sondern, wie der aristotelische Gott, sich selbst, ist das Leben ein integrales Moment seines Seins. Da die Bewegung des Sich-Selbst-Denkens auf der immanenten Dynamik des Geistes beruht, ist sie zeitlich unbegrenzt, ohne Anfang und Ende. Damit wird auch die Unterscheidung von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit sinnlos. Der Nous ist durch eine die Zeit transzendierende Seinsweise, durch reine Gegenwärtigkeit, im traditionellen Sinne gesprochen: durch Ewigkeit bestimmt. Im Geist ist daher „das gesamte Leben und zwar das klare und vollendete Leben“54. Das Leben des Geistes ist in jedem Augenblick alles, eine ungeteilte Ganzheit. Ewigkeit ist „jenes unwandelbare, allgesamte und so unendliche Leben, das, ohne irgend zu wanken, in dem Einen und auf das Eine gerichtet stille steht“55.
Der Geist ist bedürfnislos und ohne Mangel, da er ja alles schon ist. Er ist das ‘unendliche Leben’, das ‘in dem Einen und auf das Eine gerichtet stille steht’.56 Sein im höchsten Sinne ist also nicht massive, starre Dinghaftigkeit; durch die Dynamik des Sich-Selbst-Denkens ist das Sein lebendig. Damit ist das Sein gleichzeitig vollendete Bewusstheit, reiner Geist. Wie bei Aristoteles bestimmen sich auch bei Plotin Sein, Geist und Leben gegenseitig. Es handelt sich um drei verschiedene Momente eines unteilbaren Aktes. Der reine Geist ist nicht nur unzeitlich, sondern auch immateriell und damit ohne räumliche Ausdehnung. In seiner Dynamik ist er nicht an biologische Prozesse gebunden und deshalb kein Gegenstand der empirischen Wissenschaften.
Im Akt des Hervorgangs aus dem Einen werden die Grundkategorien erzeugt, die für die Ordnung und Erkenntnis der Welt konstitutiv sind: Sein, Bewegung und Ständigkeit, Identität und Andersheit. Damit wird das Leben des Geistes zum Ursprung der vielfältigen Lebensformen innerhalb des Kosmos. Mit ihrer Bestimmtheit werden auch ihre Unterschiede und möglichen Relationen festgelegt. Kein Lebewesen kann isoliert von anderen gedacht werden; es steht in vielfältigen, geordneten Bezügen zu anderen Seienden, zu dem, was es nicht ist. Der Kosmos selbst scheint einem riesigen Organismus zu gleichen, bei dem das Ganze sich aus dem koordinierten Zusammenspiel der Teile bildet. Als Ausdruck der kosmischen Vernunft kann die Ordnung der Natur dann auch von der menschlichen Vernunft erkannt werden.
Die Vielfalt von Lebewesen geht in sukzessiv aufeinander folgenden Stufen hervor; sie haben noch Anteil am Leben des Geistes, sind jedoch bereits in ihrer Lebensspanne und ihrer schöpferischen Kraft begrenzt. Die Intensität und Bewusstheit des Lebens nimmt mit der Entfernung vom göttlichen Ursprung immer mehr ab. Die Hierarchie der Seinsstufen ist deshalb zugleich eine des Bewusstseins. Je dumpfer die Wahrnehmungsfähigkeit eines Lebewesens ist, desto weiter ist es vom schöpferischen Urgrund allen Seins entfernt. Die Materie ist die letzte Manifestation des göttlichen Lebens. Sie allein ist ohne jede Struktur, reine Unbestimmtheit, ohne jegliches schöpferisches Potential, so dass sie keine weitere Seinsstufe mehr aus sich erzeugen kann. Da sich Denken immer auf irgendwie Bestimmtes und Begrenztes richtet, kann man nicht nur das Eine, sondern, in anderer Weise, auch die Materie nicht mehr begrifflich präzise definieren; sie lässt sich nur durch ein ‘unechtes Denken’57 erfassen. Als reine Möglichkeit kann sie alle Formen aufnehmen, so dass sie allen Körpern zugrunde liegt, den Elementarteilchen ebenso wie den Lebewesen. Nur etwas, das aus Materie und Form zusammengesetzt ist, kann werden und vergehen. Mit dem Kosmos und der Vielfalt der Lebewesen entsteht daher auch die Zeit als Fortschreiten vom einem zum anderen und mit der Sukzession der Ereignisse Geburt und Tod. Lebendiges ist zeitlich verfasst.
Da alles Seiende seinen Ursprung in einem unvergänglichen Sein hat, entfällt in der gesamten Natur ein Dualismus von geistig und materiell, bloß mechanisch und vital-lebendig bewegt. „Aus Leben tritt ewig Leben hervor“58, so dass der gesamten Natur eine schöpferische Dynamik, eine ‘Wirkungskraft’59 (dynamis) innewohnt. Obwohl für Plotin keine neuen Formen in der Natur entstehen, ist die Natur nicht statisch gedacht. Sie ist nicht nur natura naturata, sondern auch natura naturans. Die Dynamik der Natur ist weder einem ‘mechanischen Hebelspiel’60 vergleichbar noch blinde Triebhaftigkeit; Leben ist eine Gestalt verleihende, schöpferische Dynamik, durch die die Seienden ihre Gestalt und ihre innere Einheit erhalten. „Alles Leben … ist Betätigung; … die Betätigung also, die dem Leben zugehört, vermag Form zu geben, ihr Bewegen bedeutet ein Formen.“61
Die Korrelation von Leben und Geist ermöglicht Plotin eine Differenzierung des Begriffs des Lebens, wie sie in ähnlicher Weise auch Aristoteles vollzogen hat. Obwohl alle Wesen lebendig sind, sind sie es nicht in derselben Weise, so dass man den Begriff des ‘Lebens’ nicht als synonym auffassen darf. Aufgrund der Korrelation von Sein, Leben und Geist entspricht einer höheren Form der Bewusstheit auch eine größere Nähe zum Einen. Kriterium für die Hierarchie der Lebewesen ist daher der Grad der Bewusstheit, der die Qualität der Lebendigkeit bestimmt. Wie Aristoteles wählt Plotin ein Merkmal, das sich auf die Innenwelt von Lebewesen bezieht und sich nicht auf naturwissenschaftlich-empirische Weise überprüfen lässt. „Einige Wesen nun haben anscheinend nur am Sein teil, andere auch schon am Leben, andere, die im höheren Grade am Leben teilhaben, verfügen über Wahrnehmung, andere wieder auf der nächsten Stufe besitzen Vernunft, die letzten endlich haben das volle Leben.“62 Durch die Differenzierung im Begriff des Lebens ändert sich auch das, was als Ziel des Lebens, als Lebenserfüllung gilt. Deshalb wäre es für Plotin verfehlt, wenn man das Verhalten aller Lebewesen durch den Nutzen im Kampf ums Überleben erklären würde.
Für die der platonischen und aristotelischen Tradition angehörenden Philosophen ist das Leben ein Gut, ein Wert in sich, den es zu entfalten und zu erhalten gilt. Doch Selbsterhaltung erfolgt nicht aus purer Pflicht, weder sich selbst noch den kommenden Generationen gegenüber, sondern aus einer Lust am Dasein, aus dem Bedürfnis zu leben und dem Streben nach Erfüllung. „Wir setzen das Leben als Glückseligkeit an.“63 Doch sind Lebenserfüllung und Glückseligkeit schlechthin gleichzusetzen? Können alle Lebewesen gleichermaßen glückselig sein? Und worin besteht überhaupt ‘Glück’?
Lebenserfüllung kommt schon nicht-menschlichen Lebewesen zu, dann nämlich, wenn es ihnen „verstattet ist, ungehemmt ihrer Anlage gemäß ihr Leben darzuleben“64. Lebenserfüllung ist die ‘Vollbringung des wesenseigenen Geschäftes’65 und beinhaltet Wohlbefinden. Plotin entwickelt eine nicht-anthropozentrische Sicht des Lebens nicht-menschlicher Lebewesen: Auch sie haben aufgrund ihres Wesens ein Ziel in sich. Sein Wert bestimmt sich nicht aus dem Nutzen für menschliche Ziele, für etwas also, das außerhalb von ihm liegt. Sein eigenes Sein beinhaltet den Maßstab für seine Lebensweise und damit auch für den Umgang mit ihm. Kein Lebewesen ist zudem ganz ohne eine Sensibilität für sein Befinden; keines funktioniert nur aufgrund kausal-mechanischer Gesetze. Affizierbarkeit ist für Plotin ein allgemeines Kennzeichen alles Lebendigen. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass diese Affektion bereits gefühlt wird, so dass ein Lebewesen seinen eigenen Zustand auch wahrnimmt. Dennoch ist die Affektion, die ein Lebewesen erleidet, offensichtlich eine zumindest rudimentäre qualifizierte Perzeption dessen, was für das eigene Dasein nützlich oder schädlich ist, was für seine Erfüllung förderlich oder hinderlich ist. In seiner Lebendigkeit manifestiert sich, wie geringfügig auch immer, eine Spur von Geist. Dadurch wird allen Lebewesen ein gewisses Interesse am eigenen Wohlbefinden zugestanden; sie streben nach etwas, sie haben Bedürfnisse und Ziele. Das einfachste Ziel ist das Ziel zu sein.
Plotins Argumente stimmen mit den ethischen Positionen überein, die heute aufgrund einer pathozentrischen Ethik eine artgerechte Tierhaltung fordern: Nur wenn Tiere ‘gemäß ihrer Art’ leben können, wird vermieden, dass sie unter der Behandlung der Menschen und für deren Ziele leiden. Tieren werden eigene Bedürfnisse und Interessen zuerkannt, die es zu respektieren gilt, wenn man Schmerz und Leid in der Welt minimieren will. Außerdem könnte man argumentieren, dass ein Lebewesen, das ein eigenes Wesen und damit eigene Bedürfnisse und Interessen hat, auch einen gewissen Zweck in sich und damit einen Eigenwert hat. Deshalb sollte es nicht nur als Mittel für etwas benutzt werden.
Pflanzen haben zwar noch keine Sinneswahrnehmung und sie fühlen noch keine Lust und keinen Schmerz. Trotzdem entwickelt sich auch ihr Leben bis zu einem Zustand der Vollendung, bis sich alle Anlagen entfaltet haben. Schon sie streben, so argumentiert Plotin, nach Lebenserfüllung. An ihrem Aussehen kann man, so wird auch Scheler schreiben, erkennen, ob die Umweltbedingungen für sie zuträglich sind oder nicht, ob sie die Ausfaltung ihrer Anlagen unterstützen, erschweren oder gar verhindern. „Leben … muß immer entweder erfüllt sein oder das Gegenteil, wie es denn auch bei den Pflanzen ein Wohlbefinden und ein Nicht-Wohlbefinden gibt, d. h. ein Fruchttragen und Nicht-Fruchttragen. Wenn also die Lust der Zielwert ist und in ihr die Lebenserfüllung besteht, so ist es ein Unding, den außermenschlichen Wesen die Lebenserfüllung abzusprechen.“66 Tiere, so hatte auch Aristoteles gelehrt, haben bereits Sinneswahrnehmung, und das bedeutet, „daß einem Wesen seine eigene Affektion nicht verborgen ist“67. Sie fühlen, was ihnen gut tut und was nicht.
Um jedoch zu beurteilen, dass das Lustvolle etwas Werthaftes ist, genügt das bloße Fühlen nicht; es bedarf darüber hinaus der Vernunft. Deshalb steht für Plotin die Vernunft höher als die vernunftlosen Gefühle, die bereits höher stehen als bloß qualifizierte Perzeptionen. Aus demselben Grund kann das Leben sich für Plotin nicht in der Lust erfüllen, denn dann würde eine bloße Empfindung, die reine Affektion, das schlichte Erleben von Gefühlen höher stehen als die Fähigkeit, den eigenen Zustand zu beurteilen. Doch warum kann letztlich nur das vernunfthafte Leben glückselig sein? Die Funktion der Vernunft, so argumentiert Plotin, kann nicht auf das optimale Erlangen natürlicher Güter beschränkt sein, denn darin sind uns viele vernunftlose Lebewesen überlegen. Außerdem wäre die Vernunft dann ein bloßes Mittel für andere Ziele und nicht in sich wertvoll. Aber wenn sich die Funktion der Vernunft nicht auf das Beschaffen lebensnotwendiger Güter, auf die Sicherung des Überlebens also, beschränkt, was ist dann ihre charakteristische Tätigkeit?
Dem Menschen kommt in der ‘Kette der Wesen’ eine eigentümliche Zwischenstellung zu. Er steht „in der Mitte zwischen den Göttern und den Tieren, er kann nach beiden Seiten sich neigen“68. Die leiblichen Bedürfnisse, viele Triebe und Gefühle teilt er mit anderen Lebewesen. Doch das menschliche Wesen beruht nicht auf der „Wachstumskraft“69, und es erfüllt sich nicht im bloßen Fühlen von Lust und Unlust; es beruht auf der geistigen Kraft, „und daher betätigt sich unser eignes Wesen, wenn die Denkkraft sich betätigt“70. Wie Aristoteles bestimmt Plotin das eigentümlich menschliche Lebensziel aus der Differenz zu anderen Lebewesen. Denn: Das Gute für jedes Wesen liegt in ‘dem seiner Anlage gemäßen Vollzug des Lebens’71 und, wenn ein Wesen ‘Vielfalt in sich hat’, d. h. komplex ist, dann ist ‘sein Gutes die Betätigung seiner besten Kraft ihrer Anlage gemäß’.72 Das Leben ist ein Gut – und dieses Gut ist umso höher anzusetzen, je höher die Lebensintensität ist – und das bedeutet bei Plotin auch die Bewusstheit. Allein der Mensch ist durch die Vernunft nicht auf das biologische Überleben und die Befriedigung vitaler und emotionaler Bedürfnisse beschränkt. Gerade dies macht ihn erst zum Menschen. Er unterscheidet sich von anderen Lebewesen dadurch, dass er den Ursprung des Seins erkennen und am Ursprung des Lebens bewusst Anteil gewinnen kann. Nur bei einem Lebewesen, das nach zeitloser Erkenntnis streben kann, können daher Leben und Glück identisch sein. Obwohl alle Lebewesen nach Lebenserfüllung streben, ist Glückseligkeit nur dem ‘vernunfthaften Leben’73 vorbehalten. „Wenn also der Mensch imstande ist, das vollkommene Leben zu haben, so ist auch der Mensch glückselig, derjenige nämlich welcher dies Leben hat.“74
Dennoch gehört auch zum Menschen als Lebewesen die Fähigkeit, sinnlich wahrzunehmen und sich affizieren zu lassen, Schmerz und Lust zu empfinden. Da jedoch die Glückseligkeit als die eigentümlich menschliche Form der Lebenserfüllung nur durch den Geist möglich wird, sind die leiblichen Funktionen ein Mittel für das eigentliche Lebensziel: die Betätigung der Vernunft. Der Leib ist nur ein Werkzeug, ein ‘Organ’ der Seele; nur durch einen funktionsfähigen Leib kann sich der Geist in der Welt orientieren und sein Leben so gut wie möglich erhalten. Selbsterhaltung ist eine Bedingung für die Selbstüberschreitung in ein transzendentes Sein. Die eigentliche Identität des Menschen beruht jedoch für Plotin auf dem ‘inwendigen’75 Menschen, der reines Denken ist. Der endliche Geist überschreitet durch seine Teilhabe am göttlichen Geist den Gegensatz von Geburt und Tod; er übt, davon ist Plotin überzeugt, seine Tätigkeit unabhängig von den physisch-vitalen Funktionen des Leibes aus.76
Diese Überzeugung hat weitreichende ethische Konsequenzen für den Umgang mit geistig schwer Behinderten und die Definition des Todes: Entscheidend ist für Plotin nicht nur das empirisch sich in bestimmten Verhaltensweisen, in Sprechakten und anderen Willensbekundungen manifestierende und damit intersubjektiv wahrnehmbare Bewusstsein. Ein Mensch, dessen Organismus so geschädigt ist, dass er nicht mehr in der Lage ist, mit anderen zu kommunizieren und sein eigenes Leben bewusst zu führen, wäre immer noch als Person zu behandeln. Obwohl die leiblichen Funktionen gestört sind, ist für Plotin der Geist ungehindert tätig. Ein schwer geistig behinderter Mensch hätte deshalb, anders als Peter Singer behauptet, ein Recht auf eine menschenwürdige Behandlung, auf den Schutz seines Lebens oder zumindest, wie Jonas betont, auf einen menschenwürdigen Tod. Auch die Definition des Todes durch die irreversible Schädigung bestimmter Partien des Gehirns müsste modifiziert werden. Zum einen wäre der Tod nicht nur an das Erlöschen des bewussten Lebens gebunden, da Leben sehr viel umfassender verstanden wird und vegetative, emotionale, intellektuelle ebenso wie rein geistige Momente umfasst. Deshalb könnte es auch keine letzte Sicherheit geben, dass es, solange noch leibliche Funktionen vorhanden sind, keine irgendwie geartete Wahrnehmung des eigenen Zustandes mehr gibt.
Der Mensch betätigt freilich nicht immer alle seelischen Funktionen gleichzeitig, sondern kann sich auf bestimmte Seelenbereiche ‘einstellen’77, er kann seine Intention bewusst auf etwas lenken. Deshalb haben auch Menschen die höchste Form des Lebens gewöhnlich nur potentiell. Das reine Bewusstsein kann unbewusst bleiben, da es sich auf keine Sinnendinge bezieht und durch keine sinnlichen Empfindungen erweckt wird.
Geist und Leben sind in allen Seinsstufen untrennbar verbunden, so dass Leben nie schlechthin irrational ist. „Alles Leben ist irgendwie Denken, nur das eine Denken ist trüber als das andere, so wie auch das Leben.“78 Alle Lebewesen streben nach einem vollendeten Leben, so dass der Ursprung von allem auch für sie zum letzten Ziel wird.79 Als letztes Ziel und höchstes Gut verleiht es den anderen Seienden eine Orientierung, indem sie sich auf ihn richten und danach streben, an ihm teilzuhaben. Doch obwohl sich lebendige Bewegtheit vom Nous bis zur Materie erstreckt, ist bei Plotin die reine Kontemplation des Einen, nicht das Handeln, das letzte Ziel allen Lebens, auch und insbesondere des menschlichen. Darin drückt sich die Überzeugung aus, dass das sinnliche Leben, Emotionen und alle anderen Formen der Lebendigkeit, nur ein Mittel, ein Übergang zur Schau des Einen sind. Trotz der einfühlsamen Darstellung nicht-menschlicher Lebewesen hat die vitale Sphäre des Lebens für den Menschen keinen Eigenwert. Auch die Natur ist, obgleich sie dem Menschen Grenzen des Handelns auferlegt und in ihm ein Gefühl für Achtung weckt, noch kein Gegenstand der Ethik.