Читать книгу Griechische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt - Reiner Tetzner - Страница 68
Das Schicksal des Oidipus
ОглавлениеDas letzte Kind von Harmonia und Kadmos hieß Polydoros. Nach dessen Sohn Labdakos, der ebenso wie Pentheus als Dionysosverächter starb, wurde das tragische Schicksal seines Sohnes Laios und seines Enkels Oidipus benannt, das als Labdakidenfluch in die Geschichte einging. Wie kam es dazu?
Bevor Laios Thebens König werden konnte, war er bei Pelops, dem Herrscher von Pisa, gastfreundlich aufgenommen worden. Während Laios dessen Sohn Chrysippos das Wagenrennen lehrte, entführte und vergewaltigte er ihn. Derart geschändet nahm dieser sich das Leben.73 Das lässt darauf schließen, dass der Knabe zum Analverkehr missbraucht wurde,74 was die Griechen als tiefste Demütigung empfanden. Es wurden wohl auch die Gepflogenheiten der Knabenentführung verletzt. Sobald ein Verehrer einen Jüngling auserkoren hatte, begab er sich zu dessen Familie und kündigte an, wann und wo er ihr Kind rauben werde. Bis dahin erkundigte sich die Verwandtschaft über den Bewerber; erwies der sich als untadelig, vertraute man ihm gern seinen Sprössling zur Erziehung an, täuschte jedoch einen Kampf vor. Ergaben sich bei der Überprüfung aber Bedenken gegen dessen sittliche Reife, wurde der Raub mit Waffengewalt verhindert.
Da Laios diesen Brauch missachtete, verfluchte Pelops ihn: Laios solle kinderlos bleiben oder durch seinen Sohn getötet werden. Nachdem Laios nach Theben zurückkehren konnte, dort König wurde und Iokaste geheiratet hatte, verzichtete er auf Nachkommen. Iokaste war die Tochter des Menoikeus, der von dem erdgeborenen Spartiaten Echion abstammte. Das Orakel von Delphi warnte Laios mehrmals: nur wenn er kinderlos bleibe, werde Theben gerettet. Haben Kinderwunsch oder Gier und Wein den Unglücklichen dazu verleitet, doch ein Kind zu zeugen? Als der Knabe zur Welt gekommen war, versuchte Laios, entsetzt über die schreckliche Weissagung, seinem Schicksal zu entfliehen. Er durchstach dem Säugling die Füße – der erhielt dadurch den Namen ›Oidipus‹, also Schwellfuß – und gab ihn einem Knecht mit dem Befehl, das Kind im Kithairongebirge auszusetzen, damit es dort umkäme. Das wird keineswegs nur im Mythos – man denke an Mose oder Romulus und Remus – beschrieben. Das taten auch die Spartaner in historischer Zeit mit missgebildeten Kindern, die dem Militärstaat niemals gewachsen gewesen wären. Da ein Säugling unter besonderem Schutz der Götter hätte stehen können, wagte man meist nicht, ihn direkt zu töten.
Der brave Knecht brachte es nicht übers Herz, den hilflosen Kleinen seinem Verderben zu überlassen, und übergab ihn stillschweigend einem Hirten, der Oidipus die Fesseln von den durchbohrten Füßen löste und ihn nach Korinth zum dortigen König Polybos und seiner Gemahlin Periboia (II) brachte. Da beide kinderlos waren, erzogen sie den Jungen wie ihren eigenen Sohn. So wuchs Oidipus unbeschadet auf, aber als ein korinthischer Jüngling ihm vorhielt, er sähe seinen Eltern keineswegs ähnlich, begab er sich nach Delphi, um die Pythia zu befragen.
»Weg von meinem Schrein, du Elender!«, schrie die Seherin. »Du wirst deinen Vater töten und deine Mutter ehelichen!« Erschreckt kehrte der Jüngling nie wieder zu seinen vermeintlichen Eltern nach Korinth zurück. Lieber wollte er sein Glück im fremden Theben versuchen.
Zur selben Zeit war Laios nach Delphi unterwegs, um zu erfragen, wie Theben von der Sphinx zu befreien sei. Er saß in einem Wagen, begleitet von einem Herold und drei Männern. An einem Dreiweg – die galten ohnehin als unheimlich – kam ihnen zufällig Oidipus entgegen, seinerseits nach Theben unterwegs. Da der nach Aufforderung nicht auswich und erwiderte, er füge sich nur den Göttern und den eigenen Eltern, stieß der Kutscher ihn weg, wofür Oidipus ihm einen Hieb versetzte. Dafür schlug Laios dem Fremden beim Vorüberfahren zweimal mit dem Pferdestachel auf den Kopf. Oidipus traf den Alten mit einem Stock, so dass er vom Wagen stürzte. Und Oidipus tötete alle; nur einer entkam nach Theben. – Dass sich Sohn und Vater unerkannt begegnen und einer den anderen erschlägt, wird in vielen Mythen erzählt, auch im althochdeutschen Hildebrandslied von Hildebrand und Hadubrand.
Inzwischen litt in Theben das Volk unter der Macht der Sphinx, einer Tochter des Weltfeindes Typhon und der schrecklichen Echidna. Auf einem Felsen vor der Stadt lauerte sie auf Beute – über ihren wohlgeformten Brüsten der liebliche Kopf der verführerischen Maid, darunter strotzte ihr Löwenkörper. Es hieß, Hera habe die Sphinx nach Theben entsandt, um Laios für Chrysippos’ Selbstmord zu strafen. Die Sphinx gab allen heiratsfähigen Männern ein Rätsel auf und erwürgte und verschlang die Unwissenden. Bisher hatte noch keiner die Lösung gefunden.
»Sage mir, Fremder!«, sprach die Sphinx Oidipus an, »was geht morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen?« Oidipus überlegte nicht lange und antwortete:
»Der Mensch. Als Säugling krabbelt er auf allen vieren, später geht er aufrecht, und als Greis stützt ihn der Krückstock.«
Damit brach die Macht des Ungeheuers, es sprang vom Felsen und starb. Und da ihr König Laios, der die Pythia um die Lösung des Rätsels befragen wollte, umgekommen war, setzten die Thebaner den Fremden von Korinth, ihren Retter, als König ein. Was einschloss, dass Oidipus die verwitwete Iokaste heiratete, ohne zu ahnen, dass es sich um seine Mutter handelte. Er zeugte mit ihr die Söhne Polyneikes und Eteokles und die Töchter Ismene und Antigone.
Viele Jahre später wütete eine schreckliche Pest in Theben. Oidipus ließ Apollons Orakel befragen, das verkündete, die Pest sei eine Strafe der Götter und dauere so lange, wie Laios’ Mörder ungestraft in Theben lebe. Oidipus verfluchte den Täter, verhängte gegen ihn die Verbannung und forschte unerbittlich nach dem Urheber des Verbrechens.
Teiresias, der bedeutendste Seher Griechenlands, wurde darauf von Oidipus befragt. Der wissende Alte versuchte, die Wahrheit zu verschweigen, verkündete jedoch, als er selbst des Verbrechens verdächtigt wurde, dass der Täter seinen Vater ermordet und seine Mutter geheiratet habe. Oidipus ging dem Verdacht unerbittlich nach.
Als Iokaste sah, in welche Verzweiflung Teiresias’ Weissagungen ihren Gatten gestürzt hatten, machte sie sich über die Seherkunst lustig. Keine einzige Prophezeiung habe sich erfüllt. Ein fremder Räuber erschlug Laios und nicht sein Sohn, der mit durchstochenen Füßen im Kithairongebirge umgekommen war. Obwohl von düsteren Vorahnungen bedrängt, forschte Oidipus weiter. Ein genauer Bericht über den vierfachen Totschlag am Dreiweg ließ ihn ahnen, dass er seinen Vater umgebracht habe, und ausrufen:
»Ist dieser Gott nicht grausam, der Derartiges über mich verhängte!«
Iokaste wollte Oidipus daran hindern, weiter nach dessen Vergangenheit zu forschen:
»Wozu fürchten sich die Menschen? Der Zufall regiert, nicht Vorsehung. Man lebe ruhig in den Tag hinein. Heirat mit der Mutter – wie viele Menschen träumten schon davon, sie zu verführen. Wer sich aus dem nichts macht, der lebt am leichtesten.«
Da meldete ein Bote aus Korinth den Tod des Polybos und enthüllte, dass Oidipus gar nicht sein Sohn sei, sondern als Säugling übergeben worden war. Wieder sträubte sich Iokaste, das Unglück ahnend, tiefer nachzufragen. Doch Oidipus fürchtete, vielleicht ein Sklave oder anderer niederer Abstammung zu sein, ließ den Knecht von damals rufen und drohte, ihn foltern zu lassen, wenn er nicht die Herkunft jenes Säuglings preisgäbe. Als die Wahrheit offenbar war, stürzte Iokaste ins Haus, raufte sich die Haare und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Oidipus folgte ihr schreiend, sprang gegen die Doppeltür, welche nachgab, und fand seine Frau mit einer Schlinge, die sie sich selbst geflochten, aufgehängt. Er löste den Strick, Iokaste fiel zu Boden. Da riss er ihr die goldenen Spangen aus dem Gewand, durchbohrte sich beide Augen und schrie:
»Die sollen nie mehr sehen, was mir geschah und was ich selber tat!« Und auf die Frage, woher er den Mut zu dieser Schreckenstat nahm, antwortete er:
»Apollon war es, der mir das Schlimme zugefügt. Doch keine fremde Hand griff zu, es war die eigene. Verstoßt mich Unheilsmenschen! Schlagt mich tot, werft mich ins Meer!«
Weil Oidipus’ Söhne Eteokles und Polyneikes ihn ohne Schmerz und Tränen aus der Stadt ziehen ließen, verfluchte er sie und irrte, von seiner Tochter Antigone begleitet, als Bettler durch Griechenland.