Читать книгу Griechische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt - Reiner Tetzner - Страница 79
Perseus enthauptet Medusa
ОглавлениеHier wuchs Perseus zu einem stattlichen, aber auch ein wenig unbesonnenen Jüngling heran. Als nämlich der König Polydektes sich anschickte, um eine Prinzessin zu freien, bat er seine Bekannten um ein Pferd als Brautgeschenk mit den Worten:
»Seriphos ist zwar eine unscheinbare Insel, aber ich will im Kreise der wohlhabenden Werber nicht ärmlich dastehen.«
»Zwar habe ich kein Pferd«, prahlte da Perseus, »aber ich werde alles herbeischaffen, wonach es dich gelüstet, selbst das Haupt der Medusa.«
»Das wäre in der Tat eine Morgengabe, meiner würdig«, ging Polydektes verschlagen darauf ein, »doch leider kennen wir deinen Hang zu großen Worten.«
Das traf Perseus’ Ehrsucht. Ungestüm verlangte es ihn, die Gorgone einen Kopf kürzer zu machen. Doch wie sollte er das anstellen? Die Medusa war ein Ungeheuer von Frau mit Schlangenhaaren, Eberhauern, heraushängender Zunge und so abgrundtief hässlich, dass jeder, der sie erblickte, vor Entsetzen versteinerte.78 Aber etwas Hoffnung blieb, denn im Gegensatz zu ihren Schwestern, den anderen beiden Gorgonen, war sie sterblich.
Als hilfreich erwies sich die gekränkte Pallas79 Athena, die sich nun rächen konnte. Denn es war ihr Tempel, in dem Medusa mit Poseidon Liebe genossen und den sie damit besudelt hatte: ein unerhörtes Sakrileg, denn die Tempelprostitution war nahezu unbekannt und vor allem für eine jungfräuliche Göttin wie Athena eine tiefe Demütigung. Athena veranlasste Hermes, Perseus eine diamantene Sichel auszuhändigen, gab ihm einen glanzpolierten Schild und geleitete ihn selbst zu den Graien, da nur sie den verborgenen Unterschlupf der stygischen Nymphen kannten, die das Paar geflügelter Sandalen, den Zaubersack und Hades’ Tarnhelm aufbewahrten.
Die Graien, drei uralte hässliche Weiber, verfügten zusammen nur noch über einen Zahn und ein Auge, das sie abwechselnd gebrauchten.80 Da sie seit ewigen Zeiten das Geschehen in der Welt kannten, wäre jeder Versuch gescheitert, ihnen Geheimnisse zu entlocken, die ihren schwesterlichen Gorgonen geschadet hätten.
Deshalb passte der Held in seinem Versteck jenen Moment ab, als das Auge einer anderen übergeben wurde, eilte vor und raubte ihnen das glibbrige Sehorgan. Die Alten kreischten und schrien:
»Wo ist das Auge? Warum hast du Tattergreisin es fallen lassen?«
»Nein, du Schlampe hast es mir aus der Hand gerissen!«
Sie zwangen ihre gebeugten Körper auf den Boden und durchwühlten den Unrat. Aus sicherer Entfernung verfolgte Perseus das Gezänk belustigt und rief:
»Hier ist das Auge! Und wenn ihr mir sagt, wo ich die stygischen Nymphen finde, gebe ich es zurück.«
Lange drohten und schmeichelten die Graien, doch als ihnen keine andere Wahl blieb, verrieten sie den Weg.
Auf Athenas Fürsprache bekam Perseus von den stygischen Nymphen die Sandalen, den Zaubersack und den Tarnhelm. Perseus flog damit zum Okeanos, wo die Gorgonen inmitten eines Statuenparks schliefen. Die Augen von ihr abgewandt, blickte Perseus auf Medusas Bild, das sich auf seinem glänzenden Schild spiegelte – denn dem Spiegelbild fehlte die erstarrende Macht – und hieb mit der diamantenen Sichel Gorgos Kopf ab. Aus dem enthaupteten Leib sprangen Poseidons Kinder Pegasos, der Flügelhengst, und Chrysaor, ein voll ausgewachsener Krieger mit goldenem Schwert.
Doch Perseus fand für diese Wunder keine Muße, er griff rückwärts tastend das um den Medusenschädel züngelnde Schlangenknäuel, steckte die Trophäe in den mitgebrachten Zaubersack und vermied dabei das Medusenhaupt anzusehen. Dann setzte er sich den Tarnhelm auf und erhob sich mit den geflügelten Sandalen in die Luft. Und wahrlich keinen Augenblick zu früh. Denn schon verfolgten im Fluge die vom Röcheln Medusas erwachten unsterblichen Schwestern den Mörder. Der entkam jedoch dank des Tarnhelms.