Читать книгу Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte - Reinhard Warnke - Страница 10
7 Das Wunder von Bern
ОглавлениеIm Jahr 1953 begannen die Qualifikationsspiele für die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz. Der Zufall wollte es, dass Deutschland neben Norwegen ausgerechnet das zu dieser Zeit noch autonome Saarland als Qualifikationsgegner zugelost worden war. Trainer der Auswahlmannschaft des Saarlands war der ehemalige Dresdner Nationalspieler Helmut Schön, der den meisten Fußballfans wohl eher bekannt sein dürfte, als Assistent von Sepp Herberger und vor allem später als erfolgreicher Trainer der deutschen Nationalmannschaft. Nach einem 1:1 Unentschieden in Oslo und einem 5:1-Sieg gegen Norwegen im Rückspiel, sowie zwei Erfolgen gegen das Saarland mit einem 3:0- und einem 3:1 - Sieg, setzte sich Deutschland erwartungsgemäß ohne größere Probleme durch und konnte sich souverän für die Weltmeisterschaft im Nachbarland qualifizieren.
Im deutschen Vereinsfußball war der 1. FC Kaiserslautern nach dem Kriege bis Mitte der 50er Jahre das Maß aller Dinge. Von 1948 bis 1955 standen die Pfälzer fünfmal im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft, konnten dabei allerdings nur zweimal den Platz als Sieger verlassen. Eine Besonderheit stellt das Endspiel im Jahr 1954 dar, das Kaiserslautern in Hamburg gegen Hannover 96 bestritt. Mit 5:1 wurden die Pfälzer von den Niedersachsen demontiert. Doch dies interessierte Nationaltrainer Sepp Herberger im Hinblick auf die Nominierung seines Kaders für die Weltmeisterschaft herzlich wenig. Fünf Spieler der unterlegenen Mannschaft um die deutsche Meisterschaft, nämlich Liebrich, Kohlmeyer, Eckel sowie die Brüder Fritz und Otmar Walter, sollten wenige Wochen später im WM-Endspiel stehen, während vom Deutschen Meister kein Akteur dabei sein würde. Der Erfolg sollte Herberger Recht geben, dass er die Besetzung der Nationalmannschaft nicht von einem misslungenen Spiel einer Vereinsmannschaft abhängig gemacht hatte.
Ein etwas merkwürdiger Modus wollte es, dass die deutsche Mannschaft in der Vorrunde der Weltmeisterschaft 1954 zweimal gegen die Vertretung der Türkei anzutreten hatte, diese Spiele aber deutlich mit 4:1 und 7:2 gewann. Dazwischen lag das Vorrundenspiel gegen Ungarn, mit der zu jener Zeit besten Fußballmannschaft der Welt. Die Ungarn hatten seit vier Jahren kein einziges Spiel verloren, 1953 gar als erste kontinentale Mannschaft im Londoner Wembley-Stadion gegen England gewonnen und das gleich mit 6:3. So war es nicht weiter überraschend, dass die deutsche Nationalmannschaft bei diesem Vorrundenspiel von den Ungarn besiegt wurde. Dass die Deutschen aber gleich mit 8:3 unter die Räder kamen, war dann allerdings doch wohl etwas deprimierend. Aber Sepp Herberger war ein Trainer-Fuchs. Er hatte eine bessere „B-Mannschaft“ aufs Feld geschickt, da dieses Spiel letztlich ohne Bedeutung war. Nach der Vorrunde ist das Selbstvertrauen der deutschen Spieler dann von Spiel zu Spiel gewachsen. 2:0 hieß es gegen Jugoslawien im Viertelfinale und im Halbfinale gab es in einem mitreißenden Spiel der deutschen Mannschaft einen 6:1-Sieg gegen Österreich.
Deutschland hatte also erstmals das Endspiel einer Fußball-Weltmeisterschaft erreicht. Doch mit Weltklassespielern wie Lantos, Bozsik, Lorant, Kocsis, Czibor und Hidekuti, allen voran aber dem überragenden Ferenc Puskas, war Ungarn haushoher Favorit auf den Gewinn der Weltmeisterschaft. An ein Wunder glaubten nur die größten Optimisten. Horst Eckel, mit 22 Jahren jüngster Spieler der deutschen Endspielmannschaft, gehörte dazu. Jahrzehnte später erzählte er, mit welcher Einstellung er in dieses Spiel gegangen war: “Nach dem Halbfinale wussten wir erst, wie stark wir sind. Wenn du im Endspiel stehst, willst du auch Weltmeister werden“. Doch auch sein Optimismus bekam schon nach kurzer Zeit einen gehörigen Dämpfer, denn bereits nach 8 Minuten stand es aufgrund der Tore von Puskas und Czibor 2:0 für Ungarn. Die Geschichte schien ihren erwarteten Verlauf zu nehmen und das, obwohl das Wetter mitspielte. Pünktlich zum Anpfiff begann es zu regnen im Berner Wankdorf-Stadion, genauso wie in dem Dorf, wo ich in meinem kleinen Bett lag und unter der wärmenden Decke schlummerte. Regen! Das erhoffte „Fritz Walter Wetter“. Der erste Weltklassespieler Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg, der bereits 24 seiner insgesamt 61 Länderspiele bis zum Jahr 1942 bestritten hatte, bevor er eine achtjährige, kriegsbedingte Länderspielpause einlegen musste und später als erster Nationalspieler Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft werden sollte, spielte lieber im Regen, weil er Hitze nicht so gut vertragen konnte.
Doch da half auch der Regen nichts. Es stand bereits 2:0 für Ungarn und es hatte den Anschein, als käme es für Deutschland jetzt nur noch darauf an, das Ergebnis in vertretbaren Grenzen zu halten. Doch so erwartet, wie die schnelle Führung der Osteuropäer eingetreten war, so überraschend fiel das Anschlusstor bereits nach 10 Minuten. Noch viele Jahre später wurde an den deutschen Biertheken immer wieder die Frage gestellt, wer das 3. Tor im WM-Endspiel 1954 geschossen habe. Natürlich war die Antwort meistens: „Helmut Rahn“! Das war selbstverständlich nicht richtig, denn das 3. Tor des Spiels erzielte der Nürnberger Max Morlock mit dem Anschlusstreffer zum 1:2. Doch dann kam er, Helmut Rahn, den sie den „Boss“ nannten. Er sollte erst gar nicht im Aufgebot für die Weltmeisterschaft stehen, weil er nach einem Verkehrsdelikt vom DFB für die Nationalmannschaft gesperrt worden war. Zum Glück konnte sich Sepp Herberger gegen die DFB-Funktionäre durchsetzten und seinen Rechtsaußen mit in die Schweiz nehmen. Abgesehen von dem Debakel gegen die Ungarn, gehörte Rahn in den Vorrundenspielen allerdings noch nicht der Mannschaft an, sondern für ihn spielte der Schalker Berni Klodt. Im Viertelfinale gegen Jugoslawien kam Rahn dann aber zum Einsatz und schoss das entscheidende 2:0. Nur neun Minuten nachdem Morlock im WM-Endspiel der Anschlusstreffer gelungen war, schoss der „Boss“ den Ausgleich. Die Fußballwelt stand Kopf und der große Favorit Ungarn begann zu wanken. Spätestens jetzt war Radioreporter Herbert Zimmermann in seinem Element. Nachdem „Teufelskerl“ Toni Turek, der Torwart von Fortuna Düsseldorf, erneut einen gefährlichen Ball abgewehrt hatte, rief Zimmermann in das Mikrophon: „Toni, du bist ein Fußballgott“, was anschließend ernsthafte Proteste der Kirche und einen Tadel durch den Intendanten im hannoverschen Funkhaus des NDR zur Folge haben sollte. Sechs Minuten vor Schluss des Finales näherte sich Zimmermanns Euphorie dem Höhepunkt. Aus den Empfangsgeräten hörte man seine sich überschlagende Stimme und er berichtete: „Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn. Er hat den Ball verloren diesmal gegen Schäfer, Schäfer nach innen geflankt, Kopfball, abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt – Toooor! Toooor! Toooor! Toooor! Tor für Deutschland“. Dies war der Moment, als ich in meinem kleinen Bettchen in Norddeutschland wahrscheinlich glaubte, die Welt ginge unter. Doch das Gegenteil war der Fall. Wenig später elektrisierte Zimmermanns Stimme aus dem Radio eine Nation: „Aus – aus – aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit drei zu zwo Toren im Finale in Bern.“ Das Ende eines Fußballspiels? Nein, es war mit Sicherheit mehr. Für viele gilt der Weltmeisterschafts-Titel von 1954 noch heute als das bedeutendste Sportereignis der deutschen Geschichte und gleichzeitig als die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland, sowie Antrieb für das spätere Wirtschaftswunder. Fußball – die schönste Nebensache der Welt.