Читать книгу Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte - Reinhard Warnke - Страница 12
9 Ein neuer Lebensabschnitt
ОглавлениеDie meisten Dinge, die ich bisher niedergeschrieben habe, sind von mir nicht bewusst miterlebt worden. Dennoch wirken sie auf mich wie eigene Erinnerungen, da ich von dieser Zeit viel gehört und gelesen habe. Die Nachkriegsgeneration, zu der auch ich gehöre, wurde mit dem Zusatzprädikat „Gnade der späten Geburt“ bedacht. Die Menschen, die nach dem Ende des 2. Weltkrieges geboren wurden, können sich in der Tat glücklich schätzen, dass sie die schrecklichen Ereignisse des Krieges und des Nazi-Terrors nicht miterleben mussten. Manchmal denke ich zwar, dass es schade ist, niemals ein Fußballspiel mit Ferenc Puskas, Fritz Walter oder Alfredo di Stefano live gesehen zu haben, sondern dass ich ihr Können nur anhand von Schilderungen in Büchern oder Zeitschriften bewundern konnte. Doch der glückliche Umstand, dass ich den Krieg nicht miterleben musste, ist dann doch wohl deutlich höher einzuschätzen.
Im Frühjahr 1959 wurde ich in unserer Dorfschule eingeschult. Erinnern kann ich mich an meine erste Lehrerin nur dahingehend, dass es sich um eine wohlbeleibte ältere Dame gehandelt hat, die sich mit „Fräulein Otto“ ansprechen ließ. Irgendwie war dies für mich gewöhnungsbedürftig. Im gleichen Jahr verließ unsere Familie die Baracke, in der ich meine ersten Lebensjahre verbracht hatte und wir zogen in das Bahnhofsgebäude ein. Plötzlich wohnten wir nicht mehr auf engstem Raum, sondern lebten in riesigen Zimmern, die nicht nur breit, sondern auch sehr hoch waren, wie es eben in einem alten Bahnhofsgebäude üblich war. Doch wir hatten jetzt auch ein großes Badezimmer mit fester Badewanne und Spülklosett. Auch wir waren also im Wirtschaftswunder angekommen. Ein Fernsehgerät ließ der Finanzrahmen allerdings noch nicht zu und dies sollte noch einige Jahre so bleiben. Unsere bisherigen Nachbarn aus Schlesien, die sehr nett waren, aber sich nicht wirklich mit der Zubereitung von Grünkohl auskannten, konnten seitdem die Räume unserer früheren Wohnung mit nutzen. Es gab jedoch noch andere Dinge, die mich in diesem Jahr bewegt haben. Ich weiß noch genau, dass ich im September sehr betroffen war, als uns Kindern von der Lehrerin erzählt wurde, dass Theodor Heuss kein Bundespräsident mehr sei. Wie konnte das angehen? „Papa Heuss“, wie er liebevoll in der Öffentlichkeit genannt wurde, war doch in der ganzen Bevölkerung so beliebt und er war der ideale Präsident eines Volkes, das sich aufgemacht hatte, die Schrecken des Krieges zu verarbeiten, das Land wieder aufzubauen und lebenswert werden zu lassen. Als „Papa Heuss“ die deutsche Olympiamannschaft 1956 nach Melbourne verabschiedete, rief er ihnen am Schluss zu: „Nun siegt man schön!!“ Und dieser humorvolle und beliebte Mann sollte kein Bundespräsident mehr sein? Entweder hatte ich bei dem Bericht der Lehrerin nicht bis zum Schluss zugehört oder sie hatte uns nicht gesagt, dass es ein ganz normaler politischer Vorgang war, dass Heuss sein Amt aufgeben musste, da im Grundgesetz geregelt ist, dass die Amtsperiode eines Bundespräsidenten fünf Jahre beträgt und er nur einmal wieder gewählt werden darf. Und die Wiederwahl lag bei Heuss nun einmal schon fünf Jahre zurück. Es hatte also alles seine Richtigkeit.
Der Sommer 1959 war außergewöhnlich heiß und trocken. Entsprechend gut und begehrt war der Wein aus diesem Jahr. Meine drei und vier Jahre älteren Schwestern hatten in der Schule gehört, dass aufgrund der andauernden Trockenheit Wasserknappheit drohe. Sie ermahnten mich, nicht so viel Wasser zu verbrauchen. Von meinen Schwestern erfuhr ich auch, dass unter der Führung eines gewissen Fidel Castro auf Kuba eine Revolution gegen das herrschende Militärregime begonnen habe. Mit meinen sechs Jahren habe ich mich köstlich über den Namen „Fidel“ amüsiert. Niemand hat damals ahnen können, dass dieser Fidel Castro, der schon als junger Jurastudent in der revolutionären Studentenbewegung aktiv gewesen ist, fast 50 Jahre lang Staatschef Kubas sein würde. 1952 hatte Castro die Führung der oppositionellen Untergrundbewegung übernommen, die das Ziel hatte, den Diktator Batista zu stürzen. Ein erster Angriff auf eine Kaserne in Santiago ein Jahr später scheiterte jedoch und hatte 56 Guerilleros das Leben gekostet. Castro selbst wurde verhaftet und zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Bei seiner Verteidigung vor Gericht, die er selbst übernommen hatte, prägte er in seinem Schlussplädoyer einen Satz, der zum wichtigsten Schlagwort der revolutionären Bewegung Kubas werden sollte: „Die Geschichte wird mich freisprechen!“
Castro wurde allerdings bereits 1955 aus der Haft entlassen und ging ins Exil nach Mexiko, wo er eine neue Guerillabewegung aufbaute. In Mexiko-City lernte er durch Zufall den aus Argentinien stammenden Arzt Ernesto Guevara kennen, der sich entschied, sich der Revolutionsbewegung anzuschließen. Guevara sollte der beste Freund und wichtigste Weggefährte Fidel Castros werden, der ihn fortan nur noch „Che“ nannte, was nichts mehr und nichts weniger bedeutet als „Freund“. Im Dezember 1956 landete die Revolutionstruppe mit 82 Männern auf Kuba, wo es zu schweren Kämpfen mit den Regierungstruppen kam, bei denen 70 Guerilleros ihr Leben ließen. Castro und die anderen elf Überlebenden, unter andern sein Bruder Raúl und Che Guevara konnten in die Sierra Maestra fliehen, von wo aus sie den Kampf gegen den Diktator Batista fortsetzten und in der Folgezeit eine immer breiter werdende Unterstützung in der Bevölkerung fanden. Im Dezember 1958 marschierte die Revolutionstruppe in Havanna ein und im Januar 1959 konnte das Regime Batista endlich gestürzt werden. Fidel Castro wurde Ministerpräsident der neuen kubanischen Regierung, konnte seine Macht in Kuba relativ schnell stabilisieren und bekannte sich eindeutig zum Marxismus-Leninismus. Er etablierte ein sozialistisches System nach sowjetischem Vorbild, begann sofort nach der Machtübernahme mit politischen, sozialen, sowie wirtschaftlichen Reformen und leitete die Bekämpfung des Analphabetentums in Kuba ein. Sein Freund Che Guevara wurde aufgrund seiner zahlreichen Verdienste um die Befreiung des Landes zu einem „gebürtigen Kubaner“ erklärt und als Chef der kubanischen Staatsbank eingesetzt. Im Februar 1961 wurde er zum Industrieminister ernannt und war weiterhin an der Gründung der kommunistischen Partei Kubas beteiligt, deren Generalsekretär Fidel Castro 1962 werden sollte. Am 11. Dezember 1964 hielt Che Guevara eine vielbeachtete Rede vor der UNO. Dabei kritisierte er, dass Amerika und die Sowjetunion die Welt untereinander aufteilen würden, gab zu verstehen, dass die Unterschiede zwischen den Menschen nicht durch ihre Hautfarbe bestimmt seien und sprach sich für die vollständige Zerstörung aller atomarer Waffen aus. Nach dieser eindrucksvollen Rede trat er von allen politischen Ämtern zurück und verzichtete auf die kubanische Staatsbürgerschaft. Er wollte keine Reden mehr halten, sondern mit der Waffe in der Hand der Menschheit dienen. Die von ihm 1965 eingeleitete Revolution im Kongo scheiterte, weil das Volk nicht den Ideen Guevaras gefolgt war. In Bolivien führte er, obwohl in der Zwischenzeit schwer an Asthma erkrankt, ebenfalls die Revolution an. Nach stundenlangen Kämpfen mit den Regierungstruppen wurde er gefangen genommen und am 9. Oktober 1967 ermordet. Für die Jugend der Welt aber wurde Che Guevara ein Idol und galt nicht nur für die jungen Menschen der „68er Generation“ als Sinnbild des Freiheitskämpfers, sondern er ist es noch heute für große Teile der Jugend.
Ende 1959 waren in der Bundesrepublik gut drei Millionen Fernsehgeräte angemeldet, meine Eltern konnten sich diesen Luxus nach wie vor nicht leisten. Aber wir hatten ja ein Radio und lauschten den tollen Hörspielen oder waren begeistert bei den Sketchen von Heinz Erhardt oder Peter Frankenfeld. Freddy Quinns „Die Gitarre und das Meer“ war der Hit des Jahres und der Film mit gleichem Namen wurde auch der größte Kinoerfolg. Im gleichen Jahr wurde der Film „Die Brücke“ gedreht, der für Fritz Wepper, Volker Lechtenbink, Michael Hinz und andere talentierte Nachwuchsschauspieler der Anfang ihrer erfolgreichen Karriere war. Ich habe diesen Film erst viele Jahre später sehen können und dies war wahrscheinlich auch gut so, denn inzwischen hatte ich mir einiges Wissen angeeignet über die Zeit des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges. So war ich in der Lage, die brutale Ausnutzung von jungen Soldaten durch machthungrige Kriegsherren beurteilen zu können, wie sie auch in diesem Film deutlich wurde. Der Missbrauch der Jugendlichen in den letzten Kriegstagen, die den Auftrag hatten, eine unbedeutende Brücke zu verteidigen, zeigt den Wahnsinn der damaligen Zeit auf und bietet gleichzeitig Parallelen zur heutigen Realität in vielen Teilen dieser Welt, in der Jugendliche dazu verführt werden, als Friedenskämpfer oder Selbstmord-attentäter „Heldentaten“ zu vollbringen, um nach dem Tode Ruhm zu erlangen. Diese jungen Menschen werden nicht im Entferntesten ahnen, dass sie nur ausgenutzt werden, von machthungrigen Verbrechern oder Psychopathen.
Der Roman “Die Blechtrommel“ von Günter Grass erhielt international viel Lob und das neue Segelschulschiff der Bundesmarine, die „Gorch Fock“, machte ihre erste Auslandsfahrt. In jener Zeit musste auch ein Nachfolger für den bisherigen Bundespräsidenten Theodor Heuss gefunden wurden. Zunächst wollte Konrad Adenauer den erfolgreichen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard hierfür vorschlagen, kandidierte dann aber selber und verzichtete schließlich doch darauf, mit der Begründung: „Ich muss Kanzler bleiben, der Erhard kann keine Außenpolitik“. So überredete er seinen Parteikollegen Heinrich Lübke zur Kandidatur, der die Wahl gegen Carlo Schmidt von der SPD, einer der „Väter des Grundgesetzes“, gewann. Wie Theodor Heuss blieb auch Lübke zehn Jahre im Amt, besuchte auf 15 Auslandsreisen insgesamt 35 Staaten, insbesondere in der „Dritten Welt“ und erwarb sich große Verdienste bei der Förderung der Entwicklungshilfe. Allerdings erreichte er nicht annähernd den Beliebtheitsgrad seines Vorgängers. Im Gegenteil, nicht nur aufgrund seines „Nuschelns“ und einer gewissen Unbeholfenheit bei seinen öffentlichen Reden, wurde über den neuen Bundespräsidenten in der Bevölkerung häufig gespottet. Ob es wirklich so war oder nur in der Öffentlichkeit entsprechend vermittelt wurde, weiß ich nicht wirklich. Aber Lübke wurde nachgesagt, dass er ziemlich vergesslich sei. So gab es zahlreiche Witze über das Staatsoberhaupt, insbesondere in Bezug auf seine angebliche Vergesslichkeit. Zum Beispiel diesen:
Im Bundespräsidialamt herrschte große Aufregung, denn der Bundespräsident war nach Rom zu einer Audienz beim Papst eingeladen worden. Einer seiner Berater erklärte: “Herr Bundespräsident, es ist üblich, dass der Papst jeden Gast zu Beginn der Audienz fragt, wer die ersten beiden Menschen auf der Welt waren. Wir lassen rechts auf der Innenseite Ihres Jacketts einen kleinen Zettel einnähen auf dem die Namen von Adam und Eva stehen, nur für den Fall, dass Sie die Namen vergessen sollten“. Es kam so wie vermutet. Gleich nachdem der Papst Lübke begrüßt hatte fragte er, wer die beiden ersten Menschen auf Erden gewesen seien. Oh, grübelte der Bundespräsident, „wie hießen die noch gleich?“ Er schaute in der Innenseite seines Jacketts nach, aber versehentlich nicht rechts, sondern links und antwortete: “Peek und Cloppenburg!“
Im Sport gab es beachtliche Erfolge in diesem Jahr 1959, dem Jahr meiner Einschulung. Das Traumpaar im Eiskunstlaufen, Marika Killius und Hans-Jürgen Bäumler gewann den Europameistertitel, in der Leichtathletik lief Martin Lauer, der sich später nicht ohne Erfolg als Schlagersänger hervortat, in 13,2 Sekunden neuen Weltrekord über 110 m Hürden und Rudi Altig wurde auf dem Nürburgring Radweltmeister. Aus den USA kam ein neuer Sport-Spaß auf die Bundesbürger zu, mit dem sie sich fit trimmen konnten. Auch meine Schwestern hatten ihn schon, den Hula-Hoop-Reifen.
Die Hessen hatten derweil eine Begegnung der besonderen Art. Die beiden Städte Frankfurt und Offenbach liegen knapp 20 Kilometer voneinander entfernt. Wenn also die Frankfurter Eintracht gegen Kickers Offenbach spielt, handelt es sich um ein klassisches Lokalderby, bei dem man das Spiel als Fan der Auswärtsmannschaft durchaus mit dem Fahrrad besuchen kann. Am 28. Juni 1959 aber war alles anders. Da mussten die beiden Mannschaften und 75.000 Zuschauer extra nach Berlin fahren, um bei diesem Lokalderby dabei zu sein, denn die Mannschaften aus den beiden Nachbarstädten waren gemeinsam in das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft eingezogen und der Endspielort war schon lange vorher bestimmt worden. 2:2 hieß es schon nach 23 Minuten in diesem Finale und so stand es auch am Ende der regulären Spielzeit. In der Verlängerung setzten sich die Frankfurter dann durch, gewannen am Ende mit 5:3 und wurden zum ersten Mal in ihrer Vereinsgeschichte Deutscher Meister.
Die Eintracht vertrat also Deutschland in der darauffolgenden Europapokal-Saison und dies ausgesprochen erfolgreich. Nachdem man Young Boys Bern und den Wiener Sport-Klub ausgeschaltet hatte gab es im Halbfinale einen 6:1- und einen 6:3-Sieg gegen den schottischen Meister Glasgow Rangers. Eintracht Frankfurt war damit die erste deutsche Mannschaft, die ein Europapokal-Endspiel erreicht hatte und dies sollte ausgerechnet in Glasgow ausgetragen werden, in der Stadt des unterlegenen Halbfinalgegners. 127.000 Zuschauer füllten den Hampden-Park, als Eintracht Frankfurt am 16. Mai 1960 gegen die Königlichen von Real Madrid zum Endspiel antrat, bei denen inzwischen auch Ferenc Puskas international mitwirken durfte. Überraschend gingen die Frankfurter gegen den haushohen Favoriten durch Richard Kress mit 1:0 in Führung und waren bis zur Halbzeit trotz eines zwischenzeitlichen 1:3-Rückstands ein ebenbürtiger Gegner. Doch dann gab es kein Halten mehr bei Real. Vier Tore schoss Puskas in diesem Spiel, der sich inzwischen für seine Dopinganschuldigung gegen die deutsche Weltmeistermannschaft entschuldigt hatte, drei Treffer erzielte di Stefano und Erwin Stein traf in der zweiten Halbzeit noch zweimal für die Eintracht. Am Ende gewann Real Madrid mit 7:3 und wurde zum fünften Mal in Folge Europapokal-Sieger. Damit endete jedoch diese legendäre Ära und andere Mannschaften versuchten, die Königlichen zu beerben, was letztendlich jedoch nur bedingt gelang.
Im Jahr 1960 fanden die olympischen Sommerspiele in Rom statt. Dabei lief der Deutsche Carl Kaufmann im 400-m-Endlauf mit 44,9 Sekunden Weltrekord und gewann doch nur die Silbermedaille. Gemeinsam mit dem Amerikaner Otis Davis lief er die Weltrekordzeit, doch sein Kontrahent lag um Millimeter vor ihm. Im 100-Meter-Sprint wurde der favorisierte Weltrekordler Armin Harry Olympiasieger, der auch mit der deutschen 4 x Hundertmeter- Staffel Gold gewann. Goldmedaillen-Gewinner wurde ebenfalls der legendäre „Ratzeburger Achter“ von „Ruder-Professor“ Adam. Drei Frauen waren in diesem Jahr die Stars der deutschen Schlager-Szene. Als Mädchen aus Piräus hoffte Lale Andersen „Ein Schiff wird kommen“, Lolita erinnerte die Matrosen daran, dass ihre Heimat das Meer sei und empfahl „Seemann, lass das Träumen“ und Heidi Brühls Schlager „Wir wollen niemals auseinander geh´n“ war das Lieblingslied meiner Mutter. Tief betroffen war die Nation, als bekannt wurde, dass am 24. Juli der beliebte Schauspieler und Sänger von Seemannsliedern, Hans Albers, im Alter von 68 Jahren verstorben war. Noch heut kennt jeder sein Lied „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“.
Ein junger Politiker machte im Jahr 1960 auf sich aufmerksam, von dem bis dahin kaum jemand Notiz genommen hatte. Es war Hans-Jochen Vogel, der in München zum neuen Oberbürgermeister gewählt wurde. In den Vereinigten Staaten hatte John F. Kennedy im Alter von 43 Jahren die Wahl zum Präsidenten gewonnen. Auch bei den Deutschen galt er als großer Hoffnungsträger für mehr Gerechtigkeit und für ein Ende der Unterdrückung auf der Welt. Und ein „alter Bekannter“ tauchte wieder auf, bei dem man eigentlich vermutet hatte, dass er längst nicht mehr leben würde, Adolf Eichmann. Der ehemalige SS-Führer war maßgeblich an der „Endlösung“ beteiligt und verantwortlicher Organisator für die Deportation und Vernichtung aller im deutschen Machtbereich lebenden Juden. In Argentinien, wo er nach dem 2. Weltkrieg unter falschem Namen untergetaucht war, wurde er von einem Überlebenden des Holocaust wiedererkannt. Aufgrund dessen Angaben und der seiner Tochter konnte der israelische Geheimdienst Eichmann aufspüren und nach Israel entführen. In Tel Aviv wurde ihm der Prozess gemacht. Als einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von Millionen von Juden wurde er zum Tode verurteilt und am 31. Mai 1962 hingerichtet.
Bevor Eichmann aus Argentinien entführt wurde, gab er dem Journalisten Willem Sassen, einem ehemaligen SS-Kriegsberichterstatter, ein ausführliches Interview, das mehrere Tage andauerte und in der es in erster Linie um seine Rolle im Zusammenhang mit der Vernichtung der Juden ging. Dieses Interview wurde auf Tonband aufgenommen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich im Fernsehen eine Verfilmung gesehen habe, die das Aufspüren Eichmanns in Argentinien, seine Entführung und das entsprechende Interview zeigten, wobei dabei genau die Worte wiedergegeben wurden, die Eichmann tatsächlich gesagt hatte. Es war erschütternd, diesem Mann zuzuhören, der nicht im Ansatz Reue für seine Taten zeigte, sondern stattdessen immer noch voller Stolz und in abstoßender Selbstbewunderung, die durchaus krankhaft narzisstische Züge erkennen ließ, über sich und seine organisatorischen Fähigkeiten schwärmte, als ob die Ermordung der Juden ausschließlich ein logistisches Problem gewesen wäre. Ich musste bei dieser erbärmlichen Selbstdarstellung daran denken, dass Deutschland in den Jahren zwischen 1933 und 1945 einer Ansammlung von kranken Menschen ausgeliefert war, die allesamt in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik gehört hätten und nicht in die Führungspositionen eines Staates.
Der Hamburger SV erreichte 1960 zum dritten Mal innerhalb von vier Jahren das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft und wieder kam der Gegner aus der Oberliga West. Diesmal mussten sich die Hamburger mit dem 1. FC Köln auseinandersetzen, der in den Jahren zuvor immer stärker geworden war. Karl-Heinz Schnellinger war zu einem linken Verteidiger der internationalen Klasse gereift und auch Torwart Fritz Ewert, sowie Leo Wilden und Hans Sturm waren zwischenzeitlich von Sepp Herberger ins Nationalteam berufen worden. Neben Hans Schäfer spielte mittlerweile ein weiterer Weltmeister beim FC, nämlich Helmut Rahn. Der HSV setzte auf eine gesunde Mischung zwischen erfahrenen Spielern wie Kapitän Jochen Meinke und Dieter Seeler sowie den „jungen Wilden“ Uwe Seeler, Klaus Stürmer, Jürgen Werner, Gert „Charly“ Dörfel und Gerhard Krug. Es entwickelte sich ein rassiges und spannendes Endspiel im Frankfurter Waldstadion, das in der 2. Halbzeit an Dramatik kaum zu überbieten war. Die 1:0-Führung der Kölner in der 53. Minute glich Uwe Seeler noch in der gleichen Minute aus. Zehn Minuten vor Spielende brachte Linksaußen Charly Dörfel den HSV in Führung, die aber vier Minuten später durch Christian Müller egalisiert wurde. Fast im Gegenzug schlug erneut Uwe Seeler zu, der den 3:2 Endstand herstellte. Zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg wurde der HSV damit Deutscher Meister.
Auch im Europapokal der Landesmeister schlug sich der HSV bravourös. Im Viertelfinale verloren die Hamburger beim englischen Meister FC Burnley zwar mit 1:3, gewannen dann aber das Rückspiel in Hamburg sensationell mit 4:1 und hatten den Einzug in das Halbfinale geschafft. Gegner in diesem Semifinale war kein Geringerer als der FC Barcelona, der in der spanischen Liga längst ein ernsthafter Konkurrent der Königlichen von Real Madrid geworden war. Das Hinspiel in Barcelona verlor der HSV nur mit 0:1 gegen den haushohen Favoriten. Im Rückspiel war eine handfeste Sensation dem Greifen nahe. Das mit 72.000 Zuschauern vollbesetzte Hamburger Volksparkstadion schien zu explodieren. Sekunden vor Schluss führten die Hamburger durch Tore von Peter Wulf und Uwe Seeler mit 2:0. Doch dann ein unnötiger Ballverlust an der Außenlinie, ein schneller Vorstoß der Spanier über Außen, Flanke, der Ungar Kocsis – bekannt aus dem WM-Endspiel 1954 und wie Puskas nach dem Aufstand in Ungarn aus dem Heimatland geflohen – stieg hoch, Kopfball, Tooor! Lähmendes Entsetzen bei den Hamburger Spielern, Totenstille im Stadion. Das sicher geglaubte Endspiel war in weite Ferne gerückt. Eine Verlängerung war damals bei Punkt- und Torgleichheit nicht vorgesehen, sondern es musste ein Entscheidungsspiel auf neutralem Boden ausgetragen werden. Aber das Tor zum 1:2 in Hamburg hatte an den Nerven genagt – nicht nur bei den HSV-Spielern, sondern sogar beim Zeug-Wart. Der vergaß vor lauter Aufregung den Koffer mit den Schienbeinschonern im Hotel. So mussten die Spieler ihre Beine mit Zeitungspapier gegen die Tritte der harten Profis aus Spanien schützen. Der HSV verlor dieses Entscheidungsspiel in Brüssel mit 0:1, allerdings konnte der FC Barcelona nicht dafür sorgen, dass der Landesmeister-Pokal in Spanien blieb, denn sie verloren das Endspiel in Bern mit 2:3 gegen Benfica Lissabon. Doch wenn immer die Spieler des HSV, die 1960 die deutsche Meisterschaft errungen hatten, später zusammen saßen, wurde über das denkwürdige Halbfinale gegen Barcelona gesprochen und getuschelt: „War es nicht gar der Uwe, der damals an der Außenlinie den Ball vertändelte und so den entscheidenden Anschlusstreffer ermöglichte?“ Fußball – die schönste Nebensache der Welt.