Читать книгу Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte - Reinhard Warnke - Страница 13
10 Skandale, Enttäuschungen, Affären und Katastrophen
ОглавлениеDie spannende Europapokal-Saison mit dem Hamburger SV gehörte der Vergangenheit an und auch das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft in Hannover, das der 1. FC Nürnberg 3:0 gegen Borussia Dortmund gewonnen hatte, lag schon einige Monate zurück, als ein Ereignis für reichlich Aufregung und Erschrecken sorgte, das die Öffentlichkeit in West und Ost in dieser Form nicht erwartet hatte und deren Tragweite von Vielen zunächst wohl auch unterschätzt wurde. Im Laufe des 13. August 1961 begannen Arbeiter und Soldaten der „Nationalen Volksarmee“ damit, mitten in Berlin eine Mauer zu errichten, um West- und Ostberlin definitiv voneinander zu trennen. Fassungslos schauten die Bürger Berlins auf das Treiben und bei den Westberlinern wuchs die Angst, dass bald sowjetische Panzer vor ihrer Haustür stehen würden. Wenn ich über den Beginn des Mauerbaus nachdenke, habe ich ein Bild vor Augen, das um die Welt ging, als ein junger NVA-Soldat mit übergeschultertem Gewehr über eine Sperre aus Stacheldraht sprang und in die Freiheit rannte. Was aber war überhaupt die Ursache für diese Aktion der „Ostzone“, wie dieser Staat von den meisten Bundesbürgern nach wie vor respektlos genannt wurde? Millionen Menschen hatten die DDR seit 1949 in Richtung Westen verlassen und der Staat drohte, auszubluten. Das größte Problem war dabei, dass es insbesondere Leistungsträger wie Fachärzte, Ingenieure, Wissenschaftler und Facharbeiter in den Westen zog, da sie für sich in dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ keine Perspektive mehr sahen. Hilflos sprach die Staatsführung der DDR von „verbrecherischen Abwerbeaktionen durch die BRD“. Der DDR-Ministerratsbeschluss zum Mauerbau hatte dann auch den Charakter einer Alibierklärung: „Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte der BRD und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der DDR eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist“. Joseph Goebbels hätte es nicht besser formulieren können. Letztlich zeigte dieser Beschluss die Verlogenheit eines hilflosen und wenig souveränen Staates, der keine Kritik tolerierte und auf seine Bürger schießen ließ, wenn sie das Land, aus welchen Gründen auch immer, verlassen wollten. Über den Begriff „Antifaschistischer Schutzwall“ könnte man eigentlich nur schmunzeln, wenn er nicht ernst gemeint gewesen wäre.
Außerhalb Berlins hielt sich das Interesse an dem Mauerbau in Berlin zunächst in Grenzen. Der junge US-Präsident John F. Kennedy sah keine Veranlassung, seine Segeltour zu unterbrechen, der britische Premierminister Herold Macmillan hatte seine Freude bei der Jagd und Bundeskanzler Konrad Adenauer war der Bundestagswahlkampf zu wichtig, um ihn zu unterbrechen, nur weil irgendwo eine Mauer gebaut wird. Angesichts dieses Desinteresses tobte unterdessen der Regierende Bürgermeister Berlins, Willy Brandt, vor Wut und konnte wenigstens erreichen, dass ein paar Jeeps der Alliierten an der Sektorengrenze vorfuhren, um die Westberliner Bevölkerung zu beruhigen. Schon einige Zeit vor dem 13. August hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass die DDR vorhatte, die Grenze zwischen Ost und West zu verstärken. Am 15. Juni 1961 irritierte der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht westliche Journalisten in einer Pressekonferenz in Ostberlin mit dem berühmt gewordenen Satz: “Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“. Was meinte er mit einer Mauer? Kein Journalist hatte auch nur andeutungsweise eine entsprechende Frage gestellt. Peinlich für die westlichen Geheimdienste war es zudem, dass niemand die umfangreichen Vorbereitungen bemerkt hatte, die für eine Realisierung des geplanten Mauerbaus zwangsläufig erforderlich gewesen sind. Zur Abriegelung Berlins waren Zehntausende Soldaten der NVA, Grenztruppen und Volkspolizisten in den Grenzbereich verlegt worden. Unbemerkt und ungestört liefen so die Vorbereitungen auf den Mauerbau unter Leitung eines jungen Parteimitglieds namens Erich Honecker. Für die Westalliierten stellte sich letztendlich nur eine Frage: Gibt sich die Sowjetunion mit der „Sicherung“ ihres Teils von Berlin zufrieden oder würden sie versuchen, den Westteil unberechtigter Weise ebenfalls einzunehmen? Als deutlich wurde, dass die sowjetischen Truppen an der Sektorengrenze Halt machten, sah der Westen sich – abgesehen von ein paar halbherzigen Protesten – nicht veranlasst, etwas zu unternehmen. Lapidar erklärte John F. Kennedy einen Tag nach Beginn des Mauerbaus: „Eine Mauer ist verdammt noch mal besser als ein Krieg“. Außer bei Willy Brandt dauerte es offensichtlich eine gewisse Zeit, bis die westlichen Politiker begriffen hatten, was sich in diesen Tagen in Berlin wirklich ereignet hatte. Fakt ist, dass die Berliner Mauer 28 Jahre lang das Symbol schlechthin für die deutsche Teilung und des Kalten Krieges sein sollte.
Am Rande des Kalten Krieges war zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten ein neuer Wettstreit entbrannt. Es ging um die Erforschung des Weltraums mit dem ehrgeizigen Ziel, irgendwann auf dem Mond zu landen. Lange Zeit hatte die sowjetische Weltraumforschung mit ihren Projekten die Nase vorn. Bereits im Oktober 1957 schickten die Russen einen Satelliten ins All, die Sputnik 1. Nur einen Monat später folgte die Sputnik 2 mit dem ersten Lebewesen ins All. Es handelte sich um die Hündin „Laika“, die sechs Tage überlebte, bis der Sauerstoff an Bord verbraucht war. Ich habe mich häufig gefragt, was „Laika“ wohl gedacht und empfunden hat, als sie alleine in der Raumkapsel auf dem Weg ins Universum war…? Aber auch der erste Mensch im Weltall war ein Russe. Es war im April 1961 Juri Gagarin. Einen Monat später folgte der erste bemannte Weltraumflug der Amerikaner mit Alan Shepard. Angesichts dieser Entwicklung am Himmel war es nicht verwunderlich, dass sich auch die Schlagersänger mit diesem Thema auseinandersetzten. Ein Lied von Gus Backus, der als Soldat bei der US-Armee in Wiesbaden stationiert gewesen ist, bevor er in der Bundesrepublik Schlagersänger wurde, liegt mir in Erinnerung und ich bekomme noch den Refrain zusammen, der sich so oder so ähnlich angehört hat:
„Der Mann im Mond, der hat es schwer,
denn man verschont ihn heut nicht mehr.
Er schaut uns zwei, von oben zu,
und denkt wie lang, hab´ ich noch Ruh´?“
Einen Riesenerfolg im Schlagergeschäft hatte in diesem Jahr auch die Griechin Nana Mouskouri mit ihrem Hit „Weiße Rosen aus Athen.“
Ein Skandal wurde 1961 aufgedeckt, der sich diesmal aber nicht auf politischer Ebene abspielte, sondern im medizinischen Bereich. Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre wurden in Deutschland immer wieder Babys ohne Arme oder Beine geboren. Häufig hatten diese als „Krüppel“ auf die Welt gekommenen Kinder wenige Finger an den verkürzten Armen. Die Experten standen vor einem Rätsel und niemand konnte sich so recht erklären, worin dieses plötzlich aufgetretene Phänomen seine Ursache hatte. Die einzig scheinbar schlüssige Erklärung war, dass die Mütter der betroffenen Babys während der Schwangerschaft stark geraucht oder Alkohol getrunken hatten. Doch es war ganz anders. Die Kinder waren Opfer des größten Medizin-Skandals der Bundesrepublik. Im Jahr 1961 wurde der „Fall Contergan“ aufgedeckt. Der Pharma-Hersteller Grünenthal hatte eine Pille gegen Schlaflosigkeit mit der Bezeichnung „Contergan“ auf den Markt gebracht und vier Jahre lang damit geworben, sie sei harmlos wie Zuckerplätzchen. Erst nach langen Recherchen stellte sich heraus, dass diese Pille für die Verstümmelung der neugeborenen Babys verantwortlich gewesen war. Erst auf Druck der Öffentlichkeit nahm der Hersteller die Pille vom Markt. Zu spät für die weltweit 10.000 „Contergan-Kinder“, 2.700 davon in Deutschland. Ich persönlich kenne zwei Contergan-Geschädigte und bewundere sie. Im Gegensatz zu vielen anderen Opfern sind sie nicht auf Hartz IV angewiesen, sondern haben erfolgreich einen Beruf ergriffen. Ich gebe aber zu, dass mich eine gewisse Beklommenheit überkommt, wenn ich ihnen die Hand gebe, um ihnen zum Beispiel zum Geburtstag zu gratulieren – Sorry!
Meine Mutter arbeitete Anfang der 60er Jahre in einer Konditorei in der Hamburger Innenstadt. Als sie am späten Abend des 16. Februar 1962 nach Hause gekommen war, konnte keiner ahnen, dass sie sehr viel Glück gehabt hatte. Auf ihrem Nachhauseweg hatte sie, ohne es zu wissen, den letzten Zug erreicht, der an diesem Abend und dann für längere Zeit die Elbe überqueren konnte, um Hamburg in Richtung Süden oder Westen zu verlassen. In dieser Nacht erlebte die Hansestadt die schwerste Sturmflut seit Menschengedenken und eine der schlimmsten Katastrophen, die je über die Stadt hereingebrochen ist. Die Menschen hatten sich tief in ihre Decken vergraben in dieser bitterkalten Nacht zum 17. Februar und schliefen, als in Hamburg an mehreren Stellen die Deiche vor der aufgewühlten Elbe brachen. Zunächst in Finkenwerder, Wilhelmsburg, Moorburg und Moorfleet, später in Neuenfelde und Altenwerder. Die Anwohner wurden durch die aufheulenden Sirenen geweckt oder durch Feuerwehrleute, die Fenster einschlugen, um die Menschen zu alarmieren und vor den Fluten zu retten. Der Orkan „Vincette“ raste mit 130 Stunden-kilometern über den Norden Deutschlands hinweg und drückte das Wasser der Elbe zurück stromaufwärts Richtung Hamburg. Kurz nach 3.00 Uhr nachts erreichte die Elbe den Höchststand von 5,70 Meter über Normalnull. Der Strom war ausgefallen und der Verkehr schon lange zusammengebrochen. Auch in den Marschlanden in Hamburgs Süden war das Wasser über die Deiche gespült. Unzählige Tiere, insbesondere die schutzlosen Rinder auf den überfluteten Wiesen, wurden getötet. Die Bilanz der Sturmflut war verheerend. Mehr als 150 Quadratkilometer wurden überflutet, 350 Menschen fanden den Tod in den Fluten oder erfroren, auf Hilfe wartend, auf dem Dach ihres Hauses, 15.000 Hamburger wurden obdachlos. Besonders schlimm traf es den Stadtteil Wilhelmsburg. Alleine dort kamen 200 Menschen ums Leben. Ich kann mich noch genau erinnern, wie es in Wilhelmsburg entlang der Eisenbahnstrecke vor der großen Flut ausgesehen hat. Immer, wenn ich in Begleitung meiner Eltern mit der Bahn nach Hamburg fuhr, sah ich die vielen kleinen Hütten, in denen etliche Hamburger Bürger nach den Bombennächten des 2. Weltkrieges Unterschlupf gefunden hatten und dort immer noch wohnten. Viele dieser Menschen hatten keine Chance zu entkommen, als sie im Schlaf von der Flut überrascht wurden.
Dass nicht noch mehr Menschen ums Leben gekommen sind, ist Helmut Schmidt zu verdanken, dem damaligen Innensenator der Hansestadt. Sofort nachdem er am Morgen des 17. Februar von der Katastrophe erfahren hatte, begab er sich in die Einsatzzentrale und gab den Befehlshabern der Bundeswehr unmissverständlich zu verstehen, dass er alleine den Katastropheneinsatz leiten würde. So koordinierte Schmidt, der im 2. Weltkrieg Offizier gewesen ist, den Großeinsatz von Rettungsdiensten, Katastrophenschutz, THW, sowie der Bundeswehrsoldaten und ignorierte jede bürokratische oder formelle Hürde, indem er sich telefonisch direkt mit den Verteidigungsministern der angrenzenden NATO-Staaten in Verbindung setzte und um Unterstützung durch deren Hubschrauber bat. Dieser Bitte wurde umgehend entsprochen. Schon am frühen Nachmittag des 17. Februar schauten wir Kinder staunend zum Himmel hinauf, wo eine nicht enden wollende Armada von Hubschraubern aus Westen kommend über unser Dorf hinweg in Richtung Hamburg flog. Unzählige Opfer konnten mit Schlauchbooten und den zu Hilfe gekommenen Hubschraubern von den Dächern, Fensterbänken oder gar aus Bäumen gerettet und vor dem Tod bewahrt werden. Helmut Schmidt bewies, dass in besonderen Situationen lange Diskussionen und Rücksichtnahme auf Zuständigkeiten fehl am Platze sind, sondern dass in diesem Falle alleine Courage und Pragmatismus gefragt sind. Nach der Flutkatastrophe von 1962 wurde der Deichschutz in Hamburg und im Umland stark verbessert, indem die Deiche und andere Hochwasserschutzanlagen erhöht und zentrale Deichverteidigungsorganisationen aufgebaut wurden. Auch der Warndienst, der Sturmfluten frühzeitig erkennt und die Bevölkerung rechtzeitig informiert, wurde eingerichtet, denn als das Drama der großen Flut vorbei war, gab es in der Öffentlichkeit heftige Vorwürfe gegen die Behörden, sie hätten die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt und die Bürger zu spät gewarnt.
Der Deutsche Fußballmeister von 1961, der 1. FC Nürnberg, konnte im Europapokal den Erfolg der deutschen Mannschaften aus den beiden Vorjahren, Eintracht Frankfurt und Hamburger SV, nicht ganz wiederholen. Das Viertelfinal-Hinspiel in Nürnberg gewann der Club zwar mit 3:1 gegen den amtierenden Europapokalsieger Benfica Lissabon, musste aber im Rückspiel eine 0:6-Schlappe über sich ergehen lassen. Immerhin konnte man sich in Nürnberg damit trösten, nicht nur gegen den amtierenden, sondern auch gegen den neuen Europapokalsieger ausgeschieden zu sein. Im Endspiel siegte Benfica gegen Real Madrid mit 5:3, trotz eines 2:3-Halbzeitrückstands, für den Puskas mit seinen drei Toren gesorgt hatte und fügte damit Real die erste Niederlage in einem Europapokalendspiel zu. Ein junger Spieler fiel in diesem Endspiel besonders auf. Es war Eusebio, der zwei Tore schoss und den Grundstein dafür legte, der beste portugiesische Fußballspieler aller Zeiten und einer der besten der Welt zu werden.
Bei der deutschen Nationalmannschaft hatte es nach der WM in Schweden einen Umbruch gegeben, nachdem alle Weltmeister von 1954 ihre Länderspielkarriere beendet hatten, zuletzt Helmut Rahn, der sich im April 1960 beim 2:1-Sieg gegen Portugal mit seinem letzten Länderspieltor verabschiedet hatte. Neben Uwe Seeler, Karl-Heinz Schnellinger, Willy Schulz und dem neuen Kapitän Herbert Erhardt von der SpVgg Fürth, waren jetzt auch Friedel Lutz von Eintracht Frankfurt, der Münchener Willy Giesemann, Helmut Haller vom BC Augsburg sowie der Mönchengladbacher Albert Brülls feste Größen im Nationalteam, das in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1962 in Chile gegen Nordirland und Griechenland antreten musste. Auch der Hamburger Charly Dörfel gehörte eigentlich dazu und wäre bei der WM sicherlich erste Wahl bei der Besetzung der Linksaußenposition gewesen. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass der torgefährliche Außenstürmer, der es verstand, aus vollem Lauf herrliche Flanken auf den Kopf von Uwe Seeler zu servieren, sehr große Flugangst hatte. Deshalb plante Herberger für Chile nicht mit dem Hamburger, sondern überredete Hans Schäfer, für die Weltmeisterschaft in die Nationalelf zurück zu kehren. Zum Stammtorwart hatte sich zwischenzeitlich Hans Tilkowski von Westfalia Herne etabliert, der von seinen Konkurrenten Fritz Ewert aus Köln und dem Stuttgarter Günter Sawitzki nur hin und wieder in Freundschaftsspielen vertreten wurde. Die neu formierte Mannschaft konnte sich souverän für die Weltmeisterschaft qualifizieren. Das erste Spiel gegen Nordirland im Oktober 1960 wurde mit 4:3 in Belfast gewonnen. Dabei erzielte Charly Dörfel zwei Tore. Die beiden anderen Treffer für Deutschland schossen Uwe Seeler und Albert Brülls.
Nach dem 3:0-Sieg in Athen gegen Griechenland bestaunte man einmal mehr den Einsatzwillen des Hamburger Mittelstürmers Uwe Seeler. „Der spielt auch noch halbtot“, hieß es nach dem Spiel. Was war geschehen? Mit einer stark blutenden Kopfplatzwunde musste Seeler am Spielfeldrand behandelt werden und kam anschließend mit einem dicken Kopfverband zurück aufs Spielfeld und kämpfte weiter, als sei nichts geschehen. In diesem Zusammenhang wird es Zeit, mit einem Irrtum aufzuräumen, dem noch heute Viele unterliegen: Dieter Hoeneß, der viele Jahre später in einem DFB-Pokalendspiel ebenfalls mit einem sogenannten „Turban“ weiterspielte, war nicht der erste Fußballspieler, der in einem wichtigen Spiel einen solchen „Kopfschmuck“ trug, sondern es gab vor ihm noch andere. Neben Uwe Seeler erlitt dieses Schicksal auch Dortmunds Kapitän Willy Burgsmüller beim Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 1963.
Zwei Jahre nach dem Qualifikationsspiel in Athen, mit der Kopfverletzung Seelers, riefen mir Schulfreunde zu, die mich besuchten, weil ich nicht am Schulunterricht teilnehmen konnte: “Du siehst ja aus wie der Uwe“. Mir wurde nämlich genau so ein Kopfverband verpasst, wie dem Mittelstürmer des HSV. Ursache für meinen Kopfverband war diesmal allerdings nicht der Fußball, sondern er war Folge von Hochsprungübungen im Rahmen des Schulsports. Unser Lehrer beschäftigte sich mit einer anderen Gruppe von Schülern, während ein Mitschüler das Hochspringen „beaufsichtigte“. Nun muss man wissen, dass sich auf dem Sportplatz unserer Dorfschule keine richtige Hochsprunganlage befand. Es wurden deshalb zwei schwere Pfosten aus massivem Holz aufgestellt, zwei Haken konnten auf die gewünschte Hochsprunghöhe gestellt werden, ein Band wurde darüber gelegt und jetzt kam es darauf an, dass man über die Hürde hinweg kommt, ohne das Band herunter zu reißen. Nun konnte ich zwar schnell und ausdauernd laufen, aber beim Kugelstoßen musste ich aufpassen, dass ich mir das Gerät nicht auf den Fuß werfe und auch der Hochsprung war nicht meine Paradedisziplin. Dazu muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass man damals noch versuchen musste, mit einer Mischung aus Hechtsprung und Rolle vorwärts, das Hindernis zu überwinden.
Bei meinem Hochsprungversuch hatte sich ein Problem eingestellt, dass in dieser Form nicht vorhersehbar gewesen war. Unsere „Aufsichtsperson“ hatte die Leine, die über die beiden Haken gelegt werden sollte, nicht nur mit einer, sondern mit beiden Seiten an die Pfosten festgebunden. Nach meinem Sprungversuch, bei dem ich erwartungsgemäß die Leine berührt habe, fiel zunächst ich zu Boden und dann einer der schweren Holzpfähle hinter mir her, um schließlich mit voller Wucht auf meinem Kopf zu landen. Etwas benommen, aber lachend, saß ich auf dem Boden, bis ich merkte, dass mir das Blut am Kopf herunter lief. Jetzt allarmierte mein Schreien den Lehrer und dies war der Moment, in dem zur heutigen Zeit alle Hebel des Rettungssystems in Gang gesetzt werden würden, indem man Rettungswagen, Notarzt, Feuerwehr und Hubschrauber angefordert hätte. Ganz so dramatisch ist man seinerzeit in einer solchen Situation nicht vorgegangen. Mein Lehrer war zwar sichtlich aufgeregt, aber jederzeit Herr der Lage. Er legte eine Decke auf den Rücksitz seines Opel-Kadett, dann mich darauf und fuhr mit mir zu dem einzigen niedergelassenen Arzt in der Gegend, der seine Praxis etwa drei Kilometer von der Schule entfernt hatte. Dieser nähte die Wunde mit mehreren Stichen und stellte mir ein paar Fragen, um mit der diagnostischen Sicherheit eines erfahrenen Landarztes festzustellen, dass sich meine Gehirnerschütterung in Grenzen hielt. So konnte mein Lehrer mich wieder in seinen Kadett laden und nach Hause bringen. Mein Bedauern, dass ich nicht am Schulunterricht teilnehmen konnte, solange ich den Turban tragen musste, hielt sich dann allerdings in Grenzen.
Die beiden noch ausstehenden Qualifikationsspiele der Nationalmannschaft wurden im Mai und Oktober 1961 ohne nennenswerte Kopfverletzungen jeweils mit 2:1 gewonnen. Gegen Nordirland in Berlin erzielten Richard Kreß und Albert Brülls die Tore, in der Begegnung gegen Griechenland in Augsburg schoss Uwe Seeler die beiden Treffer. Ohne Punktverlust hatte sich Deutschland also für die Weltmeisterschaft im südamerikanischen Chile qualifiziert.
Im Jahr 1962 gab es in Deutschland immer noch nicht sehr viele Haushalte mit einem Fernsehgerät, sehr zur Freude der Gastwirte, sofern sie einen Fernseher in ihrer Gaststube hatten. Denn immer wenn ein Fußballspiel live übertragen wurde, war ihre Wirtschaft proppenvoll. So kam auch ich dann im April 1962 erstmals in den Genuss, ein Fußballspiel am Fernsehschirm verfolgen zu können, als mein Vater mich mit in die Bahnhofswirtschaft nahm, die sich direkt unter unserer Wohnung befunden hat. Anlass war das einzige Vorbereitungsspiel Deutschlands auf die Fußball-Weltmeisterschaft in Chile. Im Hamburger Volksparkstadion war der zweimalige Weltmeister Uruguay zu Gast. Das deutsche Team zeigte beim 3:0-Sieg eine hervorragende Leistung. Hans Schäfer, der sein erstes Länderspiel seit Ende 1959 bestritt, erzielte ein Tor, auch der Schalker Willy Koslowski war in seinem ersten Länderspiel mit einem Tor erfolgreich und ein Treffer ging auf das Konto von Helmut Haller. Das Bemerkenswerteste an diesem Spiel war neben der guten Leistung der deutschen Mannschaft aber die Berufung des 20-jährigen Wolfgang Fahrian von Ulm 46 als Torwart anstelle von Hans Tilkowski. Fahrian machte seine Sache außerordentlich gut und wurde daraufhin mit der Nummer 22 zum Stammtorhüter bei den Spielen der Weltmeisterschaft. Tilkowski aber war über diese Entscheidung so erbost, dass er erst 1964 in die Nationalmannschaft zurück kehrte.
Auch das Endspiel um die deutsche Meisterschaft 1962 zwischen dem 1. FC Nürnberg, mit Weltmeister Max Morlock und dem 1. FC Köln, mit Weltmeister Hans Schäfer, das vor 82.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion ausgetragen wurde, konnte ich im Fernsehen verfolgen, weil ein Freund meiner Eltern ein tragbares Fernsehgerät besaß und dies an diesem Tag bei uns installierte. Dass der „Hausfreund“ weniger Interesse am Fußball hatte, als an meine Mutter, habe ich damals nicht registriert, mein Vater aber wohl auch nicht. Unabhängig davon boten die Kölner in diesem Endspiel eine überragende Leistung. Hans Schäfer sorgte für die 1:0-Führung, zwei Tore erzielte Ernst-Günter Habig und mit seinem Treffer zum 4:0 sorgte Fritz Pott für den Endstand bei diesem glanzvollen Sieg. Der 1. FC Köln, der erst im Februar 1948 gegründet worden war, konnte damit erstmals Deutscher Meister werden.
Der erste Auftritt des FC im Europapokal war dann weniger erfolgreich. In Runde eins war der schottische Meister FC Dundee der Kontrahent und das Hinspiel in Schottland stand unter einem besonders ungünstigen Stern für die Kölner. Torwart Fritz Ewert verletzte sich schon kurz nach Spielbeginn am Kopf und es war auch am Bildschirm unschwer zu erkennen, dass er reichlich desorientiert durch seinen Strafraum irrte. Die schottischen Stürmer schossen ihre Tore nach Belieben und ohne große Gegenwehr, bis die Verantwortlichen den bedauernswerten Ewert vom Platz nahmen und Stopper Leo Wilden zwischen die Pfosten stellten. Auch er musste noch ein paar Bälle aus dem Netz holen und so stand es am Ende 8:1 für Dundee. Im Rückspiel in Köln begann von der ersten Minute an die Aufholjagd, doch es reichte nur zu einem 4:0. Drei Tore fehlten dem FC also, um das Torwartbedingte Debakel von Dundee zu egalisieren. Die Schotten aber wurden erst im Halbfinale vom AC Mailand gestoppt, der im Endspiel auf Titelverteidiger Benfica Lissabon traf und mit 2:1 gewann. Zwei Spieler des neuen Europapokalsiegers werden auch der heutigen Jugend bekannt sein, zumindest in ihrer Funktion als Trainer: Cesare Maldini und Giovanni „Ich habe fertig“ Trapattoni. Aber auch Gianni Rivera, einer der besten Mittelfeld-spieler Italiens aller Zeiten, gehörte dieser Mannschaft des AC Mailand an, genauso wie Giuseppe Altafini, der unter dem Namen Mazzola sieben Länderspiele für Brasilien bestritten hat, nach Erlangung der italienischen Staatsbürgerschaft noch sechs für Italien und der beide Tore in dem Finale schoss.
Ob man ein Fernsehgerät besaß oder nicht, die Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Chile konnten die Menschen in Europa nur am Radiogerät verfolgen, da weltweite Live-Übertragungen im Fernsehen zu dieser Zeit noch nicht möglich waren. Doch schon bald sollten Satelliten am Himmel dies möglich machen. Dem 0:0-Unentschieden der deutschen Mannschaft im Auftaktspiel gegen Italien, am 31. Mai, dem Tag des 21. Geburtstags von Torwart Wolfgang Fahrian, folgten ein 2:1-Sieg gegen die Schweiz, durch Tore von Albert Brülls und Uwe Seeler, sowie ein 2:0 gegen Gastgeber Chile, bei dem Horst Szymaniak und erneut Uwe Seeler die Treffer erzielten. Deutschland wurde damit Gruppensieger und zog in das Viertelfinale ein. Eine Begegnung in dieser Gruppe geriet jedoch zu einem handfesten Skandal: Chile gegen Italien. Journalisten, die dieses Spiel beobachtet hatten, berichteten später, dass wohl alle 22 Spieler gedopt gewesen sein müssen, so wild und unbeherrscht verhielten sie sich auf dem Platz. Da wurde auf alles getreten, was sich bewegte, nur der Ball war selten in der Nähe des Geschehens. Chile wurde durch diese Schlacht, aus der sie als 2:0-Sieger hervorgingen, Gruppen-Zweiter und am Ende sogar WM-Dritter. Wie bei den beiden Weltmeisterschaften zuvor, war Deutschlands Gegner im Viertelfinale erneut Jugoslawien. Doch während Deutschland 1954 und 1958, teilweise auch etwas glücklich, die Oberhand behalten hatte, gab es diesmal durch ein unhaltbares Tor von Radakovic sieben Minuten vor Spielende eine 0:1-Niederlage. Der erneute Einzug in das Halbfinale wurde also verpasst. Trainer Sepp Herberger wurde später von der Presse vorgeworfen, er habe die Mannschaft bei dieser Weltmeisterschaft zu defensiv aufgestellt. Dies war aber sicherlich nicht der wahre Grund für das frühzeitige Ausscheiden. Der Angriff mit
Brülls – Haller – Seeler – Koslowski – Schäfer
war alles andere als defensiv, sondern bestand ausnahmslos aus erstklassigen, torgefährli-chen Stürmern. Aber es fehlte ein Spielmacher, wie es zuvor Fritz Walter gewesen war. Für die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1962 konnte Herberger ihn jedoch nicht noch einmal überreden. Der „Schwatte“, wie Willy Koslowski aufgrund seiner dunklen Haare genannt wurde, war überfordert und konnte die Rolle des „Halblinken“ nicht erfüllen, da er als Außenstürmer – und das zumeist über rechts – bei seinem Verein Schalke 04 für das Flanken und Tore schießen zuständig war und nicht für die Spielgestaltung. Im Übrigen muss festgestellt werden, dass Deutschland mit nur zwei Gegentoren aus dem Turnier ausgeschieden ist. Diesen Rekord mit einer deutschen WM-Mannschaft hält Torwart Fahrian noch heute.
Im Endspiel um die Weltmeisterschaft 1962 in Santiago de Chile stand, wie vier Jahre zuvor, erneut Brasilien. Dass die Tschechoslowakei der Endspielgegner war, kam nicht von ungefähr, denn die Mannschaft der Tschechen gehörte in dieser Zeit zur absoluten Spitze in Europa und das nicht zuletzt wegen der überragenden Spieler Novak, Pluskal, Pospichal und allen voran Masopust, sowie dem hervorragenden Torwart Schroif. Doch Brasilien konnte seinen Titel durch einen 3:1-Sieg verteidigen, bei dem Amarildo, der den verletzten Pele vertrat, Zito und Vava die Tore schossen, nachdem Masopust die Tschechoslowakei zuvor mit 1:0 in Führung gebracht hatte. Wenn über den großen Pele geschrieben oder gesprochen wird, dann wird er häufig auch mit dem WM-Titel 1962 in Verbindung gebracht. Dies ist aber nur zum Teil richtig, denn bei dieser Weltmeisterschaft war Pele nur eine Randfigur. Bereits im zweiten Vorrundenspiel erlitt er einen Muskelfaserriss und konnte in den folgenden Spielen nicht mehr mitwirken. Doch er fuhr nicht nach Hause, sondern munterte seinen Vertreter Amarildo mit den Worten auf: „Gott hat gewollt, dass ich nicht spiele. 1958 bin ich auf diese Weise in die Mannschaft gekommen. Es ist Deine Stunde. Nutze sie.“ Und wie Amarildo sie nutzte. Gleich im ersten Spiel schoss er beide Tore beim 2:1-Sieg gegen Spanien und spielte auch in den nächsten Begegnungen ausgesprochen gut. Star dieser Weltmeisterschaft aber war der überragende Rechtsaußen der Brasilianer, Garrincha. Der spielte seine Gegner schwindelig und schoss sowohl im Viertelfinale gegen England wie auch im Halbfinale gegen Gastgeber Chile jeweils zwei Tore. Noch heute gilt Garrincha als weltbester Rechtsaußen aller Zeiten. Doch nach der erfolgreichen WM in Chile stand er sich selbst im Weg. An jedem Gegner kam er vorbei, aber nicht am Alkohol. Bei der Weltmeisterschaft 1966 in England war er nur noch ein Schatten seiner selbst und im Jahr 1983 verstarb er verarmt und vereinsamt im Alter von nur 49 Jahren.
Wenige Wochen nach der Weltmeisterschaft in Chile startete unsere Familie zu ihrer ersten Urlausreise. Mit der Bundesbahn ging es zunächst in Richtung Ruhrgebiet, nach Castrop-Rauxel. Spötter behaupten, Castrop-Rauxel sei die lateinische Bezeichnung für Wanne-Eickel und der geneigte Mallorca-Urlauber wird sich fragen: „Wie, um Gottes Willen, kommt man auf die Idee, seinen Urlaub in Castrop-Rauxel verbringen zu wollen?“ Nun ja, die Antwort ist ziemlich simpel. Wirtschaftswunder hin, Wirtschaftswunder her. Das Einkommen eines Bundesbahn-Obersekretärs begrenzte Anfang der 60er Jahre die Möglichkeiten einer Urlaubsreise mit zwei Erwachsenen und drei Kindern doch erheblich. Nun hatte mein Vater nicht nur in Düsseldorf einen befreundeten Kriegskameraden, bei dem meine Eltern fünf Jahre zuvor Karneval gefeiert hatten, während ich schlesischen Grünkohl kennen lernte, sondern er war seit den Auseinandersetzungen mit jugoslawischen Partisanen auch mit einem früheren Bergmann aus Castrop-Rauxel befreundet. Und so wurde die Einladung aus der Stadt am Rhein-Herne-Kanal, dass wir dort für ein paar Tage in dem typischen Reihenhaus einer Bergarbeiter-Siedlung Gäste sein durften, mit Freude angenommen. Da ein Bundesbahn-Beamter im mittleren Dienst anno 1962 zwar nicht viel verdiente, dafür aber für sich und seine Familienangehörigen wenigstens einige Freifahrten pro Jahr mit der Bahn hatte, konnte man die erste Hälfte unseres Urlaubs, mit kostenfreier Fahrt, sowie freier Kost und Logis durchaus in die Rubrik „kostenbewusstes Verhalten“ einordnen. Ich fühlte mich auch sofort ausgesprochen wohl dort, denn die beiden Söhne der Familie waren ebenfalls leidenschaftliche Fußballanhänger. Der jüngere der Beiden, der in meinem Alter war, hatte ein tolles Sammelalbum mit Bildern der gerade zu Ende gegangenen Weltmeisterschaft und die Bilder, die er doppelt hatte, schenkte er mir. Gleich am Tag unserer Ankunft wurde ich eingeladen, mit zur Kirmes zu kommen. Kirmes? Was ist das? Als wir auf dem „großen Festplatz“ ankamen, konnte ich feststellen, dass es bei uns in Norddeutschland offensichtlich auch „Kirmes“ gibt, nur dass wir dies „Jahrmarkt“ nennen. Ansonsten bestand die Kirmes auch nur aus ein paar Buden und einem Kinderkarussell. Was ich allerdings noch in Erinnerung habe ist die Tatsache, dass während der ganzen Zeit – und wir waren mehrfach bei der Kirmes – immer nur eine Schallplatte gespielt wurde. Es war der neue Hit von Pat Boone, „Speedy Gonzales“.
Es fiel mir schwer, mich von meinen neu gewonnen Freunden zu verabschieden, als wir die freundliche Bergarbeiterfamilie nach einigen Tagen verließen, um uns auf den Weg zu unserer zweiten Urlaubsetappe, Donaueschingen, zu machen. Auf der Reise habe ich den Abschied schnell vergessen, denn meine Schwestern und ich kamen aus dem Staunen nicht heraus. Aus den Fenstern des fahrenden Zuges blickend sahen wir zum ersten Mal in unserem Leben richtige Berge, auch wenn es sich dabei zunächst nur um die Weinberge entlang des Rheins gehandelt hat. Diese Bahnstrecke am Rhein gehört aber in der Tat zu den schönsten in Deutschland und jedes Mal, wenn ich diese Strecke erneut entlang gefahren bin, musste ich an meine erste Urlaubsreise in Richtung Süddeutschland denken. In Donaueschingen, wo wir in einer Pension gewohnt haben, habe ich mich über zwei Dinge gewundert. Zum einen war da eine ältere Frau, die von meinem Vater nach dem Weg zur Quelle der Donau gefragt worden war, nach der wir suchten, die wir aber bis dahin nicht gefunden hatten. Sie antwortete in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte und ich habe kein Wort verstanden. Man versicherte mir aber, dass wir uns noch in Deutschland befinden. Und dann war ich sehr erstaunt darüber, dass ein so großer Strom, wie die Donau, zunächst als ein solch unscheinbares Rinnsal seinen Anfang nimmt.
Während unsere Familie viel Spaß im Sommerurlaub hatte, erregte ein dramatisches und sehr trauriges Ereignis die Öffentlichkeit in der gesamten westlichen Welt. Am 17. August 1962, also fast auf den Tag genau ein Jahr nach Beginn des Mauerbaus in Berlin, wurde der junge Ostberliner Peter Fechter von Volkspolizisten erschossen, als er über die Mauer in den Westen flüchten wollte. Er war das erste von 78 Opfern des Schießbefehls. Walter Ulbricht rechtfertigte den Mauerbau ein Jahr zuvor mit der „Begründung“, dass eine Kontrolle an den Grenzen der DDR eingeführt werde, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich sei. Dabei muss man allerdings bedenken, dass es bei einem wirklich souveränen Staat eher nicht üblich ist, dass er auf seine Bürger schießen lässt, weil sie ihr Land verlassen wollen. Doch die Welt schaute in diesen Tagen nicht nur nach Berlin, sondern im Oktober starrte die Öffentlichkeit voller Entsetzen und Angst auf Kuba, wo amerikanische Aufklärungsflugzeuge Abschussrampen für sowjetische Raketen entdeckt hatten, die Nuklearsprengköpfe tragen können. US-Präsident John F. Kennedy ordnete umgehend eine Seeblockade gegen die Insel an und demonstrierte seine Entschlossenheit, notfalls einen Atomkrieg in Kauf zu nehmen. Die Welt hielt den Atem an, bis sich der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow am 28. Oktober bereit erklärte, die Atomraketen aus Kuba abzuziehen. Mit dem Bau der Mauer in Berlin und der Kuba-Krise hatte der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht, gleichzeitig aber auch einen Wendepunkt. Die direkte Konfrontation bei diesen extremen Krisensituationen ließ bei den Supermächten die Erkenntnis wachsen, dass unter allen Umständen ein Nuklearkrieg vermieden werden müsse und deshalb Abrüstungsmaßnahmen erforderlich seien. Im Interesse einer verbesserten Kommunikation zwischen den beiden Weltmächten, um gerade in Krisensituationen zeitnah die richtigen und angemessenen Maßnahmen ergreifen zu können, wurde im Juni 1963 zwischen dem Weißen Haus in Washington und dem Kreml in Moskau der „heiße Draht“ installiert. Es handelte sich dabei um eine direkte Fernschreibverbindung, ein zu jener Zeit gängiges Kommunikationsmittel, das der jüngeren Generation, die mit Internet und Handys aufgewachsen ist, kaum noch ein Begriff sein dürfte. Mit dem Fernschreiber wurden Nachrichten in Schriftform mittels elektrischer Signale übermittelt, wobei für die Übermittlung in der Regel Lochstreifenleser und Stanzer angewendet wurden, um vorbereitete Texte mittels eines Lochstreifens mit maximaler Geschwindigkeit übertragen zu können.
Zeitgleich mit der Kuba-Krise hat sich eine politische Affäre ereignet, bei der sich die Pressefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand befand und an deren Ende die Bundesregierung umgebildet werden musste. Aufgrund einer Anzeige durch den Würzburger Staatsrechtler und Oberst der Reserve Friedrich August Freiherr von der Heydte und einem Gutachten des Bundesverteidigungsministeriums erließ die Bundesanwaltschaft unter Leitung des damaligen Ermittlungsrichters Siegfried Buback am 23. Oktober 1962 gegen mehrere Redakteure des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, darunter der spätere Regierungssprecher Conrad Ahlers, sowie Herausgeber und Chefredakteur Rudolf Augstein, Haftbefehle wegen angeblichen Landesverrats. Sie wurden daraufhin festgenommen und kamen in Untersuchungshaft. Drei Tage nach Erlass der Haftbefehle begann die Polizei mit der von der Bundesanwaltschaft angeordneten Besetzung und Durchsuchung der „Spiegel-Räume“ im Hamburger Pressehaus, später auch in den Bonner Redaktionsbüros. Auslöser für diese spektakuläre Maßnahme war ein von Conrad Ahlers verfasster Artikel in der „Spiegel-Ausgabe“ vom 10. Oktober 1962, in dem er unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ das Verteidigungskonzept der Bundeswehr unter Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß in Frage gestellt hatte. Unter anderem gestützt auf Resultate des NATO-Manövers „Fallex 62“ war er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Bundeswehr aufgrund ihrer Ausstattung zu einer konventionellen Verteidigung der Bundesrepublik gegen einen potentiellen Angriff des Warschauer Pakts nicht in der Lage wäre, sondern dass ein Angriff nur mit Hilfe des Einsatzes westlicher Atomraketen abgewehrt werden könne. Die „Spiegel-Affäre“ war das erste Ereignis der Nachkriegsgeschichte, zu dem die westdeutsche Öffentlichkeit spontan und engagiert politisch Stellung bezog, weil sie darin den Versuch sah, dass ein kritisches Magazin in seiner Meinungsäußerung eingeschränkt werden sollte. Die Öffentlichkeit reagierte in einer Vielzahl von Resolutionen, Eingaben, Demonstrationen und Leitartikeln, weil in der vom Bundesverteidigungsministerium forcierten Aktion ein Angriff auf die Pressefreiheit gesehen wurde und dass wegen der Verstrickung von Exekutive und Judikative in diesem Fall das Ansehen der Demokratie erheblich geschädigt wurde.
Ich kann mich noch gut erinnern, dass sich auch mein Vater angesichts dieser Affäre sehr ereiferte, insbesondere nachdem sich heraus gestellt hatte, dass Franz-Josef Strauß, der zunächst behauptet hatte, von dem Vorgehen nichts gewusst zu haben, maßgeblich an der Aktion beteiligt gewesen war. Als dann auch noch bekannt wurde, dass Strauß es persönlich zu verantworten hatte, dass Justizminister Stammberger von der FDP im Vorfeld nicht über die anstehende Aktion informiert worden war, weitete sich die „Spiegel-Affäre“ zu einer Regierungskrise des aus CDU/CSU und FDP zusammengesetzten Kabinetts aus, denn aus Protest gegen Strauß erklärten alle fünf Minister der FDP ihren Rücktritt aus der Regierung. Am 30. November schließlich trat Franz-Josef Strauß vom Amt des Verteidigungsministers zurück und Mitte Dezember kam es zur Bildung des fünften und letzten Bundeskabinetts unter Kanzler Adenauer. Weil der Vorwurf des Landesverrats nicht aufrecht erhalten werden konnte, wurden die Spiegel-Redakteure nach und nach aus der Untersuchungshaft entlassen, als Letzter Rudolf Augstein, 103 Tage nach seiner Verhaftung. Zurückblickend aber kann festgestellt werden, dass die „Spiegel-Affäre“ wesentlich zur Stärkung der Pressefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen hat.
Im Jahr 1961 begann einer der spektakulärsten Indizienprozesse den es in der deutschen Justizgeschichte jemals gegeben hat, der „Fall Vera Brühne“. Die Anklage beschuldigte Vera Brühne, gemeinsam mit ihrem Bekannten Johann Ferbach im April 1960 den Arzt Otto Praun und dessen Haushälterin in seiner Villa am Starnberger See ermordet zu haben. Selten hat die Boulevardpresse so intensiv über ein laufendes Gerichtsverfahren berichtet, wie in diesem Fall und von Prozessbeginn an wurde die attraktive Vera Brühne als Schuldige hingestellt. Sie wurde als „geldgieriges Luder“ dargestellt und es wurde über skandalöse erotische Ausschweifungen, zumindest aus Sicht der damaligen Zeit, spekuliert, so dass für die Öffentlichkeit bereits vor der Urteilsverkündung die Schuldfrage geklärt war und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich auch die Richter ein wenig von dieser öffentlichen Meinung beeinflussen ließen. Zwar hatte sich Vera Brühne im Laufe des Prozesses in massive Widersprüche verwickelt, aber insgesamt war die Indizienlage äußerst schwach. Dennoch wurden die beiden Angeklagten am 04. Juni 1962 wegen gemeinschaftlichen Doppelmordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt.
Der anschließende Revisionsantrag wurde vom Bundesgerichtshof im Dezember abgelehnt, aber trotzdem sorgte der „Fall Vera Brühne“ noch über Jahrzehnte für reichlich Gesprächsstoff, denn im Laufe der Jahre gab es immer größere Zweifel an der Richtigkeit des Urteilsspruches. Im Jahr 2000 wurde von Experten mitgeteilt, dass nach den neuesten Erkenntnissen der Gerichtsmedizin feststehe, dass der Tod der Opfer nicht zu dem Zeitpunkt eingetreten sein konnte, der vom Gericht seinerzeit unterstellt worden war. Der Zeitpunkt der Tat aber war ein wichtiger Bestandteil der Urteilsbegründung. Heute besteht Konsens darüber, dass Vera Brühne, ob sie die Tat begangen hat oder nicht, auf der Basis solch einseitiger und unsauberer Ermittlungen niemals hätte verurteilt werden dürfen. Umso dubioser ist es, dass trotz mehrfacher Anträge niemals ein Wiederaufnahmeverfahren zugelassen wurde. Es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass hierbei politische Einflussnahme im Spiel war. Aus heutiger Sicht sind einige Ungereimtheiten im Rahmen der Urteilsfindung festzustellen, denn es ist mittlerweile erwiesen, dass es einige Todesfälle, darunter nachgewiesene oder mögliche Morde, im Kreis der Zeugen und Mitwisser gab, die eventuell für einen anderen Ausgang des Verfahrens hätten sorgen können. Auch die überraschende Begnadigung Vera Brühnes nach achtzehnjähriger Haft durch Franz-Josef Strauß, der mittlerweile Ministerpräsident Bayerns geworden war, kann dahingehend gedeutet werden, dass ein Wiederaufnahmeverfahren verhindert werden sollte. Inzwischen hatten sich nämlich Hinweise verdichtet, wonach Praun vor seiner Ermordung Verbindungen zum illegalen Waffenhandel hatte. Dabei wurde er insbesondere mit einer großen Korruptionsaffäre in Verbindung gebracht, bei der es um die Beschaffung des Schützenpanzers HS-30 ging. Eine Hauptperson dieser Affäre war Werner Repenning, der persönliche Referent des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz-Josef Strauß. Es gibt nicht Wenige, die einen Zusammenhang zwischen Prauns Ermordung mit diesen Verbindungen vermuten und dass deshalb unter allen Umständen die Wiederaufnahme des Verfahrens verhindert werden musste. Vera Brühne selbst beteuerte bis zu ihrem Tode am 17. April 2001 ihre Unschuld. 50 Jahre nach dem Urteilsspruch gibt es im „Fall Vera Brühne“ mehr objektive Indizien, die für einen Zusammenhang der Korruptionsaffäre mit der Ermordung Prauns sprechen, als solche, die damals für die Verurteilung der Angeklagten gesorgt hatten.
Seit 1960 machten vier junge Musiker mit gewöhnungsbedürftigen „Pilzkopffrisuren“ im Hamburger „Star-Club“ in St. Pauli auf sich aufmerksam. Doch im Jahr 1962 waren die Lehrjahre für John, Paul, George und Ringo vorbei und sie gingen zurück in ihre englische Heimat Liverpool. Dort nahmen die „Beatles“ im Oktober ihre erste offizielle Single „Love Me Do“ auf, die es auf Platz 17 der UK Top 40 schaffte. Schon im Januar des nächsten Jahres folgte die zweite Single „Please Please Me“ mit der die Beatles bereits Platz zwei der Hitliste erreichten. Die Weltkarriere dieser außergewöhnlichen Band begann im gleichen Jahr. Die „Beatles“ waren in kürzester Zeit für die Jugendlichen auf der ganzen Welt Nonplusultra in der Musik-Szene geworden. Aber eine andere Band sollte ihnen bald Konkurrenz machen, die „Rolling Stones“ um Mick Jagger. Nicht nur die Art der Musik unterschied die beiden Gruppen, sondern auch das äußere Erscheinungsbild. Während die „Beatles“ als angepasst galten und in einheitlichen Anzügen oder Uniformen auftraten, ging es bei den Konzerten der „Stones“ eher unkonventionell zu und nicht immer blieb das Mobiliar heil. Mitte der 60er Jahre gab es für die Jugendlichen nur ein Prinzip: Entweder „Beatles“ oder „Rolling Stones“, beides ging nicht. Ich gehörte damals zu der „Fraktion der Beatles-Fans“. Heute mag ich die Musik beider Bands und es ist müßig, darüber nachzudenken, welche Musik besser ist. Beide Beat-Gruppen haben Musikgeschichte geschrieben und waren Vorreiter einer Musik-Epoche. Insbesondere ab Mitte des Jahrzehnts aber gab es immer mehr Bands, die für die wunderbare Pop-Musik der 60er Jahre sorgten, wie unter anderem „The Who“, „The Hollies“, „The Tremeloes“, „Manfred Mann“, „The Kinks“, „Procol Harum“, „Dave Dee, Dozy, Beaky. Mick & Tich“, „The Moody Blues“, „The Small Faces“, „The Monkees“ und „The Bee Gees“. Auch zwei deutsche Bands hatten einen hohen Stellenwert bei den jugendlichen Fans: „The Rattles“ aus Hamburg und „The Lords“ aus Berlin. Ich höre noch heute liebend gerne die „Oldies“ aus dieser Zeit.