Читать книгу Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte - Reinhard Warnke - Страница 11
8 Alte und neue Helden, die Königlichen und das Wirtschaftswunder
ОглавлениеDie Rückkehr des frisch gebackenen Weltmeisters nach Deutschland mit dem „Roten Blitz“, einem Sondertriebwagen, war eine einzige Triumph-Fahrt. Auf jedem Bahnhof, den der Express passierte, hatten sich tausende Menschen versammelt, um die Weltmeisterspieler zu feiern. Zu diesem Zeitpunkt ahnte niemand, dass die Endspielmannschaft in dieser Formation nie wieder zusammen auf dem Platz stehen würde. Ein Großteil der Spieler, die zum deutschen WM-Kader gehörten, auch Trainer Sepp Herberger, erkrankten anschließend an Gelbsucht. Es wurden daraufhin Dopingvorwürfe gegen die deutsche Weltmeister-Mannschaft erhoben, allen voran von Ferenc Puskas, dem Kapitän der Ungarn. Bis zu dessen Entschuldigung hinsichtlich dieser Vorwürfe im Jahr 1960 hatte der DFB verboten, Spiele gegen Mannschaften auszutragen, in denen Puskas mitwirkte. Durch das Fehlen vieler wichtiger Spieler gab es nach dem WM-Triumph bis 1956 fast nur Niederlagen für die deutsche Nationalmannschaft, so auch am 16. Oktober 1954 bei der 1:3 Niederlage gegen Frankreich in Hannover. Mit Fritz Walter, Hans Schäfer, Max Morlock, Horst Eckel und Helmut Rahn fehlten in dieser Begegnung fünf Spieler, die bei der Weltmeisterschaft eine entscheidende Rolle gespielt hatten. So kamen Spieler zum Einsatz, die bis dahin nur Reservisten waren oder erstmals im Kader standen, wie der Neunzehnjährige Klaus Stürmer vom Hamburger SV, der das einzige Tor für die deutsche Mannschaft schoss. Aber in diesem Spiel kam es auch zu einem Novum in der deutschen Länderspielgeschichte. Für den Essener Bernhard Termath wurde ein blutjunger Mittelstürmer eingewechselt, der damit zu seinem ersten Länderspieleinsatz kam, obwohl er mit seinen 17 Jahren nur aufgrund einer Sondergenehmigung des DFB für die Ligamannschaft des HSV in der Oberliga Nord spielberechtigt war. Der Junge war Bundestrainer Herberger in den Spielen der A-Junioren-Auswahl des DFB aufgefallen, in der er zehnmal zum Einsatz gekommen war und dabei fünfzehn Tore erzielen konnte. Es war kein Geringerer als Uwe Seeler, der spätere Kapitän und nach Fritz Walter der zweite Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft. „Uns Uwe“, wie man ihn schon bald liebevoll nennen sollte, bestritt noch drei weitere Länderspiele, bis er für einige Zeit in der Versenkung verschwand. Dies aber nur in Bezug auf die Nationalmannschaft. In der Oberliga Nord wurde er mit dem HSV von 1955 bis 1963 neunmal in Folge norddeutscher Meister, wurde dabei sechsmal Oberliga-Torschützenkönig und stand dreimal im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft.
Über den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft freuten sich auch Millionen Menschen im anderen Teil Deutschlands. Politische Beziehungen aber waren zwischen den beiden deutschen Staaten nicht vorhanden. In seiner Doppelfunktion als Bundeskanzler und Außenminister konzentrierte Konrad Adenauer seine Außenpolitik nach wie vor auf die Aussöhnung mit Großbritannien und Frankreich, sowie auf ein verständnisvolles Miteinander mit den Vereinigten Staaten. Im Mai 1955 haben die Westalliierten das Besatzungsregime aufgelöst. Die Bundesrepublik hatte damit, wenn auch mit ein paar Einschränkungen, den Status eines souveränen Staates erlangt. Gleichzeitig erfolgte der Beitritt zur NATO und in Folge dessen die Etablierung des Bundesverteidigungsministeriums, das Inkrafttreten der ersten Wehrgesetze in der Bundesrepublik und die Errichtung der Bundeswehr. 1956 wurde vom Bundestag die Wehrpflicht beschlossen. Versuche, Adenauer davon zu überzeugen, dass es im Hinblick auf eine Wiedervereinigung auch erforderlich sei, mit der DDR in Kontakt zu treten, liefen ins Leere. Auch das Bestreben der Kontaktaufnahme zu Nikita Chruschtschow, dem mächtigen ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU in der Sowjetunion, hielt sich beim Bundeskanzler in Grenzen. Es gab jedoch eine Angelegenheit, bei der Adenauer nicht umhin kam, mit der UdSSR in Verhandlungen zu treten. Zehn Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs warteten noch immer Kriegsgefangene in sibirischen Arbeitslagern auf ihre Heimkehr. Im September 1955 fuhr der Bundeskanzler nach Moskau, um mit der sowjetischen Regierung über die Freilassung der Gefangenen zu verhandeln. Nach zähem Ringen und etlichen Gläsern Wodka einigte man sich auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau. Im Gegenzug dazu sollten alle Gefangenen umgehend freigelassen werden. Tatsächlich kehrten bis Jahresende 7.326 Kriegsgefangene, 2.622 Internierte und 558 Zivilverschleppte zurück nach Deutschland. Täglich trafen überfüllte Güterzüge mit den letzten aus der Gefangenschaft entlassenen Soldaten und Zivilisten im Lager Friedland ein, dort wo in den Jahren zuvor bereits Hunderttausende Heimkehrer empfangen wurden und wo täglich Angehörige und Freunde von vermissten Soldaten versuchten zu erfahren, ob er diesmal dabei ist oder es wenigstens ein Lebenszeichen von ihm gibt.
Als Zeichen der Annäherung zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurden auch zwei Fußball-Länderspiele zwischen den beiden Nationen vereinbart. Das erste Spiel fand im August 1955 in Moskau statt und wurde von der UdSSR, nach einer zwischenzeitlichen 2:1-Führung der Deutschen, mit 3:2 gewonnen. Auch im Rückspiel, ein Jahr später in Hannover, siegte die sowjetische Mannschaft, diesmal mit 2:1. Bei beiden Begegnungen hatten alle Spieler einen großen Blumenstrauß in der Hand, als sie das Spielfeld betraten, den sie ihren Gegenspielern vor Beginn des Spiels überreichten. Es waren zwei Fußballspiele mit erheblicher politischer und emotionaler Brisanz, denn schließlich war es gerade einmal zehn Jahre her, dass sich die beiden Nationen als erbitterte Kriegsgegner gegenüber gestanden hatten. Fußball – die schönste Nebensache der Welt.
Ende 1955 kehrten die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurück. Die deutschen Städte waren halbwegs wieder aufgebaut worden und zwischenzeitlich hatte man begonnen, für die vielen Vertriebenen aus Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland, die lange Zeit in Baracken und Notunterkünften leben mussten, neue Siedlungen zu errichten. Auch in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist solch eine Siedlung entstanden. Ein Großteil der Bürger des Ortes waren Menschen, die im Krieg ihre Heimat verlassen mussten und hier ein neues Leben begonnen hatten. Derweil kämpften in den deutschen Kinos Kriegs- und Heimatfilme um die Vormachtstellung. „Der Förster vom Silberwald“ brachte das meiste Geld, „Des Teufels General“ den meisten Ruhm. Für den Schauspieler Curd Jürgens war dieser Film der Start zu einer Weltkarriere. Der amerikanische Schauspieler James Dean brachte es ebenfalls zu Weltruhm durch seine Hauptrollen in drei Filmen, die innerhalb von kürzester Zeit entstanden sind: „Jenseits von Eden“, „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und „Giganten“. Im Alter von nur 24 Jahren wurde James Dean am 30. September 1955 bei einem Autounfall getötet. So ist er bis heute ein unvergessenes Idol der Jugend geblieben und man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass er mittlerweile schon über 80 Jahre alt wäre, wenn er noch leben würde.
Im europäischen Fußball begann Mitte der 50er Jahre eine neue Ära. In fast allen Mannschafts- und in einigen Individualsportarten, wie der Leichtathletik, finden heutzutage europäische Vereinswettbewerbe statt. Begonnen hat dies jedoch beim Fußball. In der Saison 1955/ 56 wurde erstmals der Europapokal der Landesmeister ausgetragen. In einem K.o.-System spielten die Landesmeister der europäischen Nationen, sofern sie Mitglied der UEFA waren, in Hin- und Rückspielen gegeneinander bis zwei Endspielteilnehmer feststanden, die dann das Finale in dem zuvor festgelegten Stadion austrugen. Das erste Endspiel um den Europapokal der Landesmeister fand am 13. Juni 1956 in Paris statt. Gegner waren der spanische Meister Real Madrid und der Meister aus Frankreich, Stade Reims. Die „Königlichen“, wie die Spieler aus der spanischen Hauptstadt noch heute genannt werden, gewannen das Spiel mit 4:3 und stellten damit den ersten Sieger in der Europapokal-Geschichte. Dies jedoch war erst der Anfang einer legendären Ära mit fünf Endspielsiegen in Folge bis 1960. Doch es waren nicht nur die Erfolge, sondern die Art und Weise, wie diese Mannschaft das Spiel gestaltete, ja zelebrierte, begeisterte die Massen. Für viele Fußballanhänger gilt die Mannschaft von Real Madrid dieser Epoche noch heute als die beste Vereinsmannschaft aller Zeiten. Angeführt von dem überragenden Argentinier Alfredo di Stefano, torgefährlicher Mittelstürmer und Stratege in einer Person, handelte es sich um eine Ansammlung von Weltklassespielern, wie dem besten spanischen Linksaußen aller Zeiten, Francisco Gento, dem Franzosen Kopa, sowie Santamaria, Zarraga, Rial und andere. Ab 1958 gehörte auch Ferenc Puskas zu den Königlichen, für die er aber erst ab der Saison 1959/ 60 international spielberechtigt war.
In Ungarn, dem Heimatland des Ferenc Puskas fand im Jahr 1956 ein Volksaufstand statt, bei dem sich breite gesellschaftliche Kräfte gegen die kommunistische Regierung und die sowjetische Besatzungsmacht erhoben und demokratische Strukturen für ihr Land forderten. Mit einer friedlichen Großdemonstration der Budapester Studenten begann der Aufstand am 23. Oktober 1956. Noch am gleichen Abend ließ die Regierung auf die stark anwachsende Menge schießen. Während des daraufhin ausgebrochenen bewaffneten Kampfes liefen große Teile der Armee zu den Rebellen über. Binnen weniger Tage wurde die Diktatur durch Pluralismus und eine Mehrparteienregierung unter der Leitung von Imre Nagy abgelöst. Ungarn trat aus dem Warschauer Pakt aus, erklärte seine Neutralität und rief die sowjetische Armee auf, das Land zu verlassen. Ab dem 4. November rückten die durch Einmarsch verstärkten sowjetischen Truppen in Budapest und andere Städte Ungarns ein. Die Kämpfe mit den Aufständischen dauerten in der ungarischen Hauptstadt eine Woche an, in manchen Orten sogar mehrere Wochen, bis die Revolution blutig niedergeschlagen war. Die aufständische ungarische Bevölkerung wurde während der Kämpfe vom Westen verbal unterstützt, doch die NATO hielt sich von einer militärischen Konfrontation zurück, da die Gefahr eines Krieges gedroht hätte. Nach der Niederschlagung der Revolution wurden hunderte Aufständische, darunter auch Imre Nagy, durch die kommunistischen Machthaber hingerichtet, zehntausende wurden inhaftiert. Über Zweihunderttausend Ungarn flüchteten vor der Diktatur in den Westen, darunter auch Ferenc Puskas, der in Madrid seine neue Heimat finden sollte, später sogar die spanische Staatsbürgerschaft erlangte und bei der Weltmeisterschaft 1962 vier Länderspiele für sein neues Heimatland bestritt. Bis 1959 war er jedoch wegen seiner Flucht vor dem Kommunismus und der Diktatur für internationale Begegnungen gesperrt worden. Fußball – die schönste Nebensache der Welt. Ungarn aber sollte 33 Jahre nach der Revolution eine wichtige Rolle bei der Überwindung des Kalten Krieges einnehmen.
Andere Ereignisse des Jahres 1956 waren weniger dramatisch als der Aufstand in dem osteuropäischen Staat, teilweise aber durchaus spektakulär. Die Olympischen Sommerspiele 1956 sollten als die „Geteilten Spiele“ in die Olympia-Geschichte eingehen. Die olympischen Wettbewerbe, an denen Deutschland mit einer „gesamtdeutschen Mannschaft“ teilnahm, fanden im australischen Melbourne statt. Aufgrund der strengen Quarantänebestimmungen für Pferde in Australien wurden die Reiterwettbewerbe jedoch im schwedischen Stockholm ausgetragen. Und dort ereignete sich Unfassbares. Der deutsche Reiter Hans-Günter Winkler hatte sich bei den Springreiter-Wettbewerben einen Leistenbruch zugezogen. Unter großen Schmerzen musste er den letzten Parcours reiten, unfähig, Einfluss auf sein Pferd zu nehmen. Seine Stute „Halla“ spürte offenbar die Hilflosigkeit und die Leiden ihres Reiters und trug ihn ohne seine Hilfe zur Goldmedaille. Gleichzeitig wurde die deutsche Springreiter-mannschaft mit Winkler, Thidemann und Lütke-Westhues durch diesen Wunderritt Olympiasieger. „Halla“ aber blieb bis heute das berühmteste Pferd der Olympia-Geschichte.
Im gleichen Jahr hatten zwei deutsche Filmklassiker Premiere in den deutschen Kinos. In dem Film „Sissi“, bei dem es um das Schicksal der österreichischen Kaiserin geht, spielte die erst 18jährige Romy Schneider die Hauptrolle und erhielt anschließend schon als Teenager einen Traumvertrag. Bei dem anderen Filmklassiker gab es im Vorfeld zu den Dreharbeiten heftige Auseinandersetzungen um die Besetzung der Hauptrolle. Curd Jürgens wollte den „Hauptmann von Köpenick“ spielen, Regisseur Helmut Käutner setzte jedoch seinen Willen durch und die Rolle wurde mit Heinz Rühmann besetzt. Und dann waren da noch zwei „Traumhochzeiten“: Das aus Busen und Hüften bestehende Sexsymbol Marilyn Monroe heiratete den Schriftsteller Arthur Miller und in Monaco konnte sich Fürst Rainer über die Hochzeit mit der Schauspielerin Grace Kelly freuen, die als Gracia Patricia Fürstin von Monaco wurde.
Als erste deutsche Mannschaft nahm Rot Weiß Essen an einem Europapokal-Wettbewerb teil. Die Essener wurden 1955 mit Rechtsaußen Helmut Rahn durch einen 4:3-Erfolg gegen den 1.FC Kaiserslautern Deutscher Meister. Doch das Europapokal-Debüt ging für sie total daneben. Gegen den schottischen Meister Hebernian Edinburgh musste sich Rot Weiß, ohne den verletzten Helmut Rahn, bereits in der ersten Runde nach einer 0:4 Niederlage und einem 1:1-Unentschieden aus dem Wettbewerb verabschieden. Nicht besser erging es ein Jahr später der Borussia aus Dortmund, die den Karlsruher SC im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 4:2 geschlagen hatte, im Europapokal dann aber im Achtelfinale scheiterte. Es ging aber knapp zu gegen Manchester United. Einer 2:3-Niederlage im Hinspiel folgte ein 1:1 in der Dortmunder „Kampfbahn Rote Erde“ und damit das Aus.
Ich war mittlerweile vier Jahre alt, als meine Eltern im Februar 1957 nach Düsseldorf fuhren. Dort lebte ein Kriegskamerad meines Vaters mit seiner Familie und schon lange hatten sie geplant, einmal gemeinsam Karneval zu feiern. Während des Kampfes gegen die Partisanen in Jugoslawien waren die beiden echte Freunde geworden und hatten es auch gemeinsam geschafft, vor der Roten Armee zu fliehen, um sich in amerikanische Kriegsgefangenschaft durchzuschlagen, die dann bereits nach wenigen Wochen vorbei war. So konnte mein Vater, der bereits zu Zeiten der Reichsbahn Fahrdienstleiter gewesen war, schon kurz nach Kriegsende seine neue berufliche Laufbahn bei der Bahn beginnen, die nach den Kriegseinwirkungen langsam wieder auf die Gleise gestellt werden konnte. Für mich begann mit dieser Fahrt meiner Eltern zum Karneval jedoch eine neue Epoche, denn dies ist das erste Ereignis, an das ich mich wirklich bewusst erinnern kann. Dies liegt nicht nur an der großen Plastiktüte voller Karamelle, die meine Eltern vom Karnevalsumzug mitbrachten, sondern auch an einem besonderen Erlebnis während ihrer Abwesenheit. Unsere Familie wohnte in jener Zeit in einer besseren Baracke in der Nähe des Bahnhofs in unserem kleinen Dorf, an der Hauptstrecke Hamburg – Bremen, in der auch mein kleines Bettchen gestanden hatte, als Helmut Rahn das 3:2 gegen Ungarn schoss. In der anderen Haushälfte wohnte ein Ehepaar mit vier Kindern, wobei drei von ihnen schon fast erwachsen waren. Die Familie stammte aus Schlesien und musste während des Krieges vor der Roten Armee flüchten. Zwischenzeitlich hatten sie sich mit meinen Eltern angefreundet und so war es für unsere Nachbarin, „Tante Mielchen“, selbstverständlich, dass sie auf mich und meine beiden Schwestern aufpassen würde, während meine Eltern beim Karneval feierten. Und „Tante Mielchen“ meinte es gut mit uns, insbesondere mit mir. Sie wusste, dass ich für mein Leben gerne Grünkohl esse, allerdings so, wie meine Mutter ihn zubereitete. In Schlesien schien diese Speise nicht so wirklich bekannt gewesen zu sein und beim besten Willen, ich bekam keinen Bissen runter. Da half selbst die Drohung nicht, dass ich auch keinen Pudding bekommen werde, wenn ich meinen Teller nicht leer essen würde. Wahrscheinlich war der Geschmack oder besser „Nichtgeschmack“ dieses Grünkohls so markant, dass ich sogar auf den Pudding verzichtete und er offenbar mein Erinnerungsvermögen in Gang gesetzt hat.
Im gleichen Jahr fanden die dritten Bundestagswahlen statt und ich durfte an diesem Sonntag mit meinen Eltern in das Wahllokal gehen. Wählen durfte ich zwar noch nicht und ich wusste eigentlich auch nicht so richtig, um was es da überhaupt ging. Unter Wahllokal konnte ich mir von diesem Tag an aber sehr wohl etwas vorstellen. Die einzige Kneipe in unserem Dorf, außer dem Bahnhofslokal, in dem sich sonst die trinkfreudigen Männer des Dorfes trafen, wurde von einer uralten Wirtin und ihrer auch nicht mehr so neuen Tochter betrieben und es verirrten sich nur selten Gäste dorthin. Aber das Lokal hatte einen großen Saal und der war an diesem Wahlsonntag, genauso wie die Gastwirtschaft, bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine Blaskapelle spielte zum Tanz auf und ich hatte das Gefühl, dass sämtliche Bürger des Dorfes anwesend waren, an diesem Wahlsonntag im Jahr 1957. Den Begriff „Wahllokal“ hat man damals noch wörtlich genommen, wohl auch, weil man wieder frei wählen durfte und gleichzeitig das eine oder andere Bier trinken konnte. Die CDU/ CSU hatte offenbar mit ihrem Wahlslogan „Keine Experimente“ Erfolg und erreichte bei dieser Bundestagswahl zum ersten Mal die absolute Mehrheit, zu der meine Eltern mit Sicherheit nicht beigetragen hatten. Konrad Adenauer wurde in seiner Politik bestätigt und ging in seine dritte Legislaturperiode als Bundeskanzler.
Großen Anteil an dem Wahlerfolg hatte aber sicherlich das von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard geprägte Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik. Eingeleitet wurde der Wirtschaftsaufschwung zwar schon durch die Währungsreform im Jahre 1948 und eine wichtige Basis für den Aufschwung war durch den sogenannten „Marshallplan“ geschaffen worden. Nach den Vorschlägen des damaligen US-Außenministers George C. Marshall wurde 1948 ein Projekt gestartet, in dessen Rahmen den europäischen Ländern, die sich zu einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit verpflichteten, Sachleistungen und langfristige Milliardenkredite für den Wiederaufbau, zur wirtschaftlichen Entwicklung und damit zum Schutz gegen eine Aggression aus dem Osten gewährt wurden. Doch das eigentliche Wirtschaftswunder hatten die Deutschen selber bewirkt und dabei war Wirtschaftsminister Erhard, ein eindeutiger Verfechter der sozialen Marktwirtschaft, die Antriebfeder. Er prägte das Motto „Maß halten“ und die Arbeitnehmer waren bereit, höhere Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, als in anderen europäischen Ländern. Geringere Lohnkosten und Sozialleistungen wirkten sich positiv auf die Wirtschaft aus, die steigenden Umsätze ermöglichten den Ausbau der Betriebe und es entstanden mehr Arbeitsplätze. Dadurch sank die Arbeitslosigkeit auf unter ein Prozent und es entstand die sogenannte Aufbaumentalität. Man sah, dass sich harte Arbeit lohnte und auszahlte. Dies wiederum förderte Eifer und Ehrgeiz, sowie den Arbeitswillen der Arbeitnehmer. Das Wirtschaftswunder war eine Spirale nach oben, mit einem durch die richtigen Impulse ausgelösten Automatismus. Als 1955 in Wolfsburg der millionste VW-Käfer vom Band lief, war dies nur ein äußeres Zeichen für den Aufschwung in der Bundesrepublik und dafür, dass „Made in Germany“ wieder ein Begriff für Qualität war. Mitte der 50er Jahre stiegen dann die Löhne und man konnte sich plötzlich elektrische Haushaltsgeräte leisten. 1957 gab es bereits eine Million Haushalte mit einem Fernsehgerät und auch Urlaubsfahrten wurden erschwinglich. So waren das Wirtschaftswunder und die kurz zuvor gelungene Rückholaktion der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion sicherlich Hauptfaktoren für den Erfolg der CDU/ CSU bei der Bundestagswahl 1957, an der auch ich erstmals teilnehmen durfte, wenngleich auch nur als kleiner Gast.
In dem Jahr der Karnevals-Karamelle, des missglückten Grünkohls und eines vollbesetzten Wahllokals gab es noch zwei Ereignisse, die man erwähnen muss. Im März gründeten die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, kurz EWG genannt. Diese Abkürzung sollte später auch für die legendäre Quizsendung „Einer wird gewinnen“ im Fernsehen stehen, in der Hans-Joachim Kulenkampff ab 1964 in 43 Sendungen sechs Studenten aus eben diesen Ländern mit Fragen quälte. Am 3. Oktober 1957 schaffte Willy Brandt den Sprung in die große Politik, als er vom Berliner Abgeordnetenhaus, sogar mit den Stimmen der CDU, zum Regierenden Bürgermeister von Westberlin gewählt wurde.
Und was lief im Fußball in diesem Jahr? Zum ersten Mal nach dem Kriege stand der Hamburger SV im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Doch auch Uwe Seeler konnte die deutliche 1:4-Niederlage gegen Borussia Dortmund vor 76.000 Zuschauern im Niedersachsen-Stadion von Hannover nicht verhindern. Die Borussia hatte also ihren Titel aus dem Vorjahr verteidigt und kam im Europapokal eine Runde weiter als zuvor. Doch im Viertelfinale kam das Aus nach einem 1:1 und einem 1:4 gegen den AC Mailand. Der HSV erreichte im folgenden Jahr erneut das Meisterschaftsfinale. Gegner waren diesmal die „besten Freunde“ der Dortmunder Borussen, also die Spieler von Schalke 04. Und Schalke gewann mit 3:0 genauso deutlich gegen die Hamburger. Im Europapokal kam Schalke 04 bis in das Viertelfinale, in dem es gegen Atletico, dem Stadtrivalen von Real Madrid, im Hinspiel in der „Glückauf-Kampfbahn“ ein 1:1-Unentschieden gab. Das Rückspiel verlor Schalke 04 dann aber deutlich mit 0:3 in der spanischen Hauptstadt und war damit aus dem Wettbewerb ausgeschieden.
Für die Fußball-Weltmeisterschaft 1958 in Schweden musste sich die deutsche Mannschaft nicht qualifizieren, sondern war als Titelverteidiger automatisch Teilnehmer. Seit seinem 4. Länderspiel gegen die Niederlande im März 1956 hatte Uwe Seeler kein Spiel mehr in der Nationalmannschaft bestritten. In der Oberliga Nord und in den Endrundenspielen zur Deutschen Meisterschaft mit dem HSV bewies er jedoch nachhaltig, dass er sich zu einem enorm kopfballstarken und torgefährlichen Mittelstürmer entwickelt hatte. Dies blieb auch Bundestrainer Herberger nicht verborgen, der ihn folgerichtig in das WM-Aufgebot berief. Diese Weltmeisterschaft sollte der internationale Durchbruch des mittlerweile 21jährigen Stürmers werden. Gleich im Auftaktspiel gegen Argentinien in Malmö gelang ihm auf unnachahmlicher Weise der Führungstreffer zum 2:1 und damit sein erstes Länderspieltor. Die beiden anderen Treffer für Deutschland beim 3:1-Sieg gegen die Südamerikaner erzielte wieder einmal Helmut Rahn. Für Fritz Walter, der Ende 1956 seine Länderspielkarriere beendet hatte, war inzwischen Hans Schäfer zum Kapitän der Nationalmannschaft ernannt worden und mit Horst Eckel gehörte noch ein weiterer Weltmeister von 1954 zur Mannschaft. Doch Sepp Herberger konnte sich eine Weltmeisterschaft ohne Fritz Walter nicht vorstellen. Er redete solange auf seinen Spielmacher ein, bis dieser sich umstimmen ließ und beim Freundschaftsspiel gegen Spanien im März, das mit 2:0 gewonnen wurde, kehrte er in die Nationalmannschaft zurück. Er hatte seine Rückkehr in die Nationalelf aber davon abhängig gemacht, dass nicht er, sondern weiterhin Hans Schäfer Kapitän der Mannschaft bleiben solle. So war er, der Fritz.
Im zweiten Gruppenspiel gegen die Tschechoslowakei lag die deutsche Mannschaft bereits mit 0:2 im Rückstand, ehe die beiden Weltmeister Schäfer und Rahn noch für den Ausgleich sorgen konnten. Im letzten Spiel der Gruppe 1 gegen Nordirland war erneut Helmut Rahn zum zwischenzeitlichen 1:1 erfolgreich, aber die deutsche Mannschaft musste nach dem 1:2 abermals einem Rückstand hinterher laufen. Und die deutschen Stürmer wurden von Torwart Harry Gregg zur Verzweiflung gebracht. Immer wieder hielt er Bälle in Weltklassemanier, die ein Torhüter eigentlich gar nicht halten kann. In der 79. Spielminute war es dann Uwe Seeler, der den „Wundertorwart“, wie man Gregg anschließend betitelte, mit einem Bombenschuss aus 20 Metern endlich bezwingen konnte. Das erneute Unentschieden reichte Deutschland schließlich zum Gruppensieg. Wie vier Jahre zuvor in der Schweiz, war erneut Jugoslawien der Gegner im Viertelfinale und Deutschland gewann äußerst glücklich mit 1:0. Und wer war der Torschütze? Klar, Helmut Rahn! Wieder stand Deutschland im Halbfinale. Gegner in dieser denkwürdigen Begegnung war Gastgeber Schweden. Die „Heja, Heja“- Anfeuerungs-rufe und antideutsche Parolen der fanatischen schwedischen Zuschauer zermürbten die deutsche Mannschaft im Laufe des Spiels. Der Düsseldorfer Verteidiger Juskowiak wurde wegen eines angeblichen Foulspiels gegen Hamrin des Feldes verwiesen. Wenig später musste Fritz Walter nach einem brutalen Foul eines schwedischen Abwehrspielers schwer verletzt vom Platz getragen werden. Damit war die Nationalmannschaftskarriere des Weltklassespielers Fritz Walter jetzt endgültig vorbei und dies auf äußerst tragische Weise. Sein Widersacher wurde übrigens nicht vom Platz gestellt. Da seinerzeit in Pflichtspielen noch keine Spieler ausgewechselt werden durften, musste die deutsche Mannschaft mit neun Spielern die Begegnung fortsetzen und stand damit letztendlich auf verlorenem Posten.
Mit einer 1:3-Niederlage wurde das Endspiel verpasst und es blieb nur das Spiel um den 3. Platz. Mit einer Mannschaft, in der etliche Spieler eingesetzt wurden, die bis dahin nicht oder nicht regelmäßig zum Einsatz gekommen waren, wie zum Beispiel der junge Karl-Heinz Schnellinger vom 1. FC Köln, wurde diese dem Grunde nach unbedeutende Begegnung mit 3:6 gegen Frankreich verloren. Vierfacher Torschütze für die Franzosen war der gebürtige Marokkaner Just Fontaine, der mit 13 Treffern Torschützenkönig der Weltmeisterschaft 1958 wurde. Dies war wohl ein Rekord für die Ewigkeit. Einen traurigen Rekord stellte gleichzeitig Heinz Kwiatkowski von Borussia Dortmund auf, der in diesem Spiel das Tor der deutschen Mannschaft hütete. Er hatte bereits im Tor gestanden, als Deutschland 1954 im Gruppenspiel gegen Ungarn mit 3:8 unterlag. Heinz Kwiatkowski musste somit 14 Gegentore
in zwei WM-Spielen hinnehmen. Man kann davon ausgehen, dass diese Quote nie wieder von einem deutschen Nationaltorwart erreicht wird.
Bei dieser Weltmeisterschaft 1958 ging jedoch ein Stern am Fußballhimmel auf, der alles überstrahlen sollte. Ein 17jähriger Junge aus Santos in Brasilien dribbelte und schoss Tore, als wäre er schon jahrelang im Konzert der Großen dabei. Er hatte großen Anteil daran, dass Brasilien mit einem 5:2 gegen Schweden erstmals Weltmeister wurde. Sein Name: Edson Arantes do Nascimento, genannt „Pele“. Über zehn Jahre lang sollte dieser Pele der absolut beste Spieler der Welt sein und trotz Beckenbauer, Cruyff und Maradona – ich habe nie wieder solch einen Fußballer spielen sehen, der seinen Sport so perfekt beherrscht hat wie er. Als der junge Pele nach dem WM-Triumph in den Armen des erfahrenen Didi und Torwart Gylmar hemmungslos weinte, konnte man nur ahnen, welches Genie gerade die Bühne der großen Fußballwelt betreten hatte. Fußball – die schönste Nebensache der Welt.
Derweil brachten zwei Rock-Stars aus den Vereinigten Staaten auch die deutsche Jugend um den Verstand. Während Bill Haley „Rock Around The Clock“ sang, flogen im Saal Stühle und Fäuste durch die Luft. Tausende jugendliche Fans pilgerten nach Bremerhaven, um ihr Idol Elvis Presley in Empfang zu nehmen, der dort mit einem Marineschiff kommend an Land ging, weil er in Hessen seinen Wehrdienst ableisten musste. Nur wenige wussten, dass Elvis deutsche Vorfahren hatte, denn sein Ur-Ur-Ur-Großvater war im 18. Jahrhundert Winzer in der Pfalz und ist von dort aus nach Amerika ausgewandert. Und auch im Bundestag ging es Anfang des Jahres hoch her. Dort sollte beschlossen werden, dass die Bundeswehr mit Atomwaffen ausgerüstet werden sollte. Bei der Debatte fiel ein junger SPD-Abgeordneter aus Hamburg durch eine leidenschaftliche Anti-Atom-Rede auf. Es war Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler. Ostern 1958 gab es Märsche der Atomgegner, also die ersten, aber längst nicht die letzten Ostermärsche.