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Liberalismus in der Krise?
ОглавлениеSteckt der Liberalismus in der Krise? Über den Stand und die Zukunft des Liberalismus wird gegenwärtig weltweit gestritten.15 Je nach Standort der oder des Beobachtenden kann man diese Frage wohl bejahen oder verneinen. Wenn die Entwicklung liberaler Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg im Blickfeld steht, so fällt es schwer – trotz Rückschlägen in den letzten zehn Jahren – von einer Krise zu sprechen.16 Doch der Begriff des Liberalismus besitzt nicht mehr die Integrationskraft, die ihm zuweilen politisch zugeschrieben wird – eine Erkenntnis, die auch für die Schweiz ihre Geltung beanspruchen dürfte.
Schon früh haben prominente liberale Denker wie John Dewey oder John Stuart Mill moniert, dass Liberale in Gefahr stehen, einmal erkämpfte und erreichte Positionen nicht mehr daraufhin zu untersuchen, ob sich die Bedingungen der Freiheitsausübung gewandelt haben. Sie stünden in Gefahr, zu Apologeten des Status quo zu werden.17
Die liberale Demokratie sieht sich heute angesichts nationalistischer, fremdenfeindlicher und identitärer Strömungen, gespaltener Gesellschaften, bröckelnden Vertrauens in politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Eliten sowie religiösen Fanatismus schwerwiegenden Herausforderungen gegenüber, die aber das Fundament des Liberalismus nicht infrage stellen. Allerdings wird das Erstarken des Populismus und des Nationalismus der Desintegration des liberal-demokratischen Grundkonsenses zugeschrieben.18 Wenn man hingegen von einem restriktiven Verständnis der Freiheit ausgeht, so kann man in der beträchtlichen Zunahme von Staatsverantwortlichkeiten, die auch schon als Semisozialismus abqualifiziert worden ist, eine Krise erblicken.19 Ist der Zeitgeist der beginnenden 2020er-Jahre im Namen von Schutz und Sicherheit freiheitsfeindlich? Einiges spricht dafür, dass die vorherrschende Stimmung der Offenheit, dem Wettbewerb und dem Risiko misstraut und dass vor allem Schutz und Sicherheit angestrebt werden. Sicherheit ist aber heute angesichts des Klimawandels, der Mobilität und der Migration generell infrage gestellt und nicht durch einen Rückgriff auf bisherige Zustände zu gewinnen. Oder sind wir freiheitsverwöhnt und haben vergessen, als wie leidvoll sich der Kampf um die Freiheit erwiesen hat? Eigentlich müsste uns der tägliche Blick auf die schrecklichen Zustände in den kriegsversehrten oder von Not, Armut und Terror gepeinigten Gebieten der Welt den Wert unserer Freiheit vor Augen führen und auf das Nichtselbstverständliche der Freiheit hinweisen. In der Coronapandemie wuchs das Bedürfnis nach Fürsorge und Kontrolle durch das Gemeinwesen, was nach einer einseitigen liberalen Vorstellung der Freiheitsidee widersprechen soll. Doch wird bei dieser Sichtweise ausgeblendet, dass es bei der staatlichen «Fürsorge» auch um Freiheit geht, nämlich um Gesundheit und Leben der zu Schützenden. Ein weiterer Aspekt der Freiheit besteht offenbar im Paradox, dass die digitale Welt zwar den Individuen gleichermassen Zugänge ins Öffentliche verschafft, der Unmut und die Frustration über die fehlende Verwirklichung erhoffter Anliegen aber trotzdem wachsen.
Es kommt offensichtlich darauf an, wie Liberalismus und Freiheit verstanden werden. Von linker Seite wird oft das Feindbild eines Neoliberalismus an die Wand gemalt, während in letzter Zeit die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft eher von rechtsnationalen Bewegungen angefochten werden. Der Begriff der Freiheit wird auch von Agitatoren verwendet, deren Zugehörigkeit zu einer rechtsstaatlich-demokratischen Gesinnung (zumindest) fraglich erscheint. Freiheit wird reklamiert, um gegen legale Anordnungen aufzubegehren oder gegen Fremde Stimmung zu erzeugen, wie das etwa bei identitären Bewegungen oder sogenannten Querdenkerinnen und Querdenkern zu beobachten ist.