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Zur integrativen Funktion des Verfassungsstaats
ОглавлениеDer Nationalstaat als Verfassungsstaat steht im Fokus des vierten Teils. Menschenwürdige Freiheit und Demokratie gründen im Verfassungsstaat. In historischer Sicht ist bemerkenswert, dass der Siegeszug der Freiheitsidee im Gefolge der Französischen Revolution durch die Nationalstaatenbildung ermöglicht, begleitet und gestärkt wurde. Es waren die neu entstandenen Staaten, welche einheitliche bürgerliche Rechts- und Wirtschaftsordnungen, liberale Strafrechtsideen sowie einen Parlamentsvorbehalt für «Freiheit und Eigentum» schrittweise, oft auch annäherungsweise eingeführt und teilweise durchgesetzt haben. Dieser Staat steht angesichts von Globalisierung und Internationalisierung grossen Herausforderungen wie Migration, Sicherheit und Klimawandel gegenüber. In neuster Zeit, nach den Erfahrungen in der Coronapandemie und angesichts zunehmender Naturkatastrophen, gewinnt der Nationalstaat wieder an Attraktivität, oft gepaart mit einem wieder erwachten Souveränitätsmythos. Doch vermögen Schwarz-Weiss-Bilder – auch hier – nichts zur Diskussion über die Funktion moderner Staaten beizutragen. Der moderne Staat stellt weder ein Auslaufmodell dar noch bedarf er einer Re-Nationalisierung. Die Grundwerte des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats bleiben auf den Staat angewiesen. Freilich ist dieser heute einem epochalen Strukturwandel unterworfen, indem seine autonome Handlungsfähigkeit verringert und der Lösungsbedarf für globale oder grenzüberschreitende Probleme gesteigert wird. Der einheitsgeprägte Nationalstaat muss deshalb das «Nationale» in den Hintergrund und seine Verfassung in den Vordergrund rücken, so meine These. Als Verfassungsstaat basiert er auf einer multiplen gesellschaftlichen und politischen Vielfalt; er hat die Integration «seiner» unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sowie deren Partizipation zu fördern sowie dem Bedürfnis der Menschen nach einer sich wandelnden Heimat positiv gegenüberzustehen. Das Ziel müssen entwicklungsfähige, binnendifferenzierte und integrative Verfassungsstaaten bilden, die auch zum Hort von Freiheit, Kultur und Frieden werden. Die Leistungen der Kultur für den Grundkonsens einer offenen, liberalen und vielfältigen Gesellschaft können kaum überschätzt werden. Gerade das Kreative und oft auch Anstössige in Kunst und Kultur bilden Brücken zu einem gemeinsinnigen Miteinander, zu Kohäsion und Kohärenz in der Gesellschaft.34 Dieses Bekenntnis zum Verfassungsstaat stellt keine Absage an Prozesse einer höherstufigen Integration dar, im Gegenteil. Ich meine aber, dass nur stabile Verfassungsstaaten das Fundament dauerhafter und erfolgreicher supranationaler Gemeinschaften zu bilden vermögen.