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Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung

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Selbstbestimmung in Freiheit ist das Kernanliegen des Liberalismus. Sie kann als Ausprägung eines Individualismus verstanden werden, der als Legitimationsgrundlage der eigenen, unabhängigen und verantwortungsgeprägten Lebensführung dient. Freilich wird Freiheit oft eher durch Negation als durch innere Überzeugung und sinnerfülltes, identitätserfüllendes Handeln begründet, etwa durch die Abwehr von unerwünschten oder lästigen Eingriffen in die eigene Lebenswelt sowie durch Konfrontation und Ablehnung, die sich vor allem gegen das Gemeinwesen und dessen Organe richtet. Wie zu zeigen sein wird, blendet das vorherrschende individualistische Anspruchsdenken aus, dass wir alle in einem Kontext leben und Freiheit nur im Plural und verantwortungsbezogen denkbar erscheint. Sie bedarf der Zuwendung zu Anderen, zu Mitmenschen und deren Anerkennung. Wie bereits mit Carsten Brosda zitiert, bilden gerade das Kreative und oft Anstössige in Kunst und Kultur Brücken zu einem gemeinsinnigen Miteinander, zu Kohäsion und Kohärenz in der Gesellschaft.42

In jüngerer Zeit wird oft im gleichen Atemzug mit der Selbstbestimmung auch die Selbstverwirklichung genannt: Der freie Mensch, so der Anspruch, soll sich nach seinen Wünschen «verwirklichen» können. Gegenüber dieser Vorstellung sind Fragezeichen zu setzen, denn unter Selbstverwirklichung wird Unterschiedliches verstanden.43 Selbstverwirklichung kann sich letztlich als unerfüllbare Verheissung erweisen. In der Multioptionsgesellschaft (Peter Gross) wächst die «Tyrannei der Möglichkeiten» (Hannah Arendt), sodass der Anteil an realisierbaren Optionen abnimmt und Frustrationen entstehen können. Immanuel Kant versteht Autonomie als die Möglichkeit und Aufgabe des Menschen, sich selbst als freiheits- und vernunftfähiges Wesen zu bestimmen und entsprechend aus Freiheit dem kategorischen Imperativ nach moralisch zu handeln. Davon unterscheidet sich eine Vorstellung von Freiheit, die im Sinn einer unbeschränkten Machbarkeit zur Erfüllung aller Lebenswünsche verstanden wird.44 Eine menschenwürdige und nachhaltige Idee der Freiheit ist in einer sich wandelnden Welt immer wieder neuen Herausforderungen und damit Veränderungen ausgesetzt.

Die Basler Philosophin Annemarie Pieper weist darauf hin, dass die Vorstellung eines unbeschränkten Rechts auf Selbstverwirklichung nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass Menschen einander diskriminieren und die Natur ausbeuten.45 Möglicherweise lässt sich die Wut von frustrierten, und (echt oder vermeintlich) vernachlässigten Menschen in dieser unerfüllten Erwartung auf schrankenlose Selbstverwirklichung verorten. Diese Erwartung richtet sich oft gegen Eliten und eine konstruierte politische Klasse, aufgeputscht von Populisten.46 Hat der «Pursuit of happiness» unermessliche Tore zu liberalistischen Extravaganzen und deren Torheiten geöffnet?47

Die Autonomie der oder des Einzelnen stellt ein unverzichtbares Ideal dar, das freilich oft nur unvollständig eingelöst werden kann. Selbstbestimmung ist auch von Faktoren abhängig, die individuell nicht beeinflussbar sind. Das Streben nach Autonomie trifft auch unzählige Hindernisse faktischer und rechtlicher Art. Doch das Ideal der Autonomie ist unverzichtbar und essenzieller Bestandteil der Selbstverantwortung. Fähigkeit und Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns müssen gelebt und erkämpft werden. Dem demokratischen Gemeinwesen obliegt es, die Chancen autonomer Lebensführung aller zu fördern und zu garantieren.

Schliesslich: Menschen verwirklichen sich nicht alleine, sondern in einem bestimmten Umfeld und in unterschiedlichen Beziehungen. Dem «Sich-umeinander-Kümmern» kommt ein grosser Stellenwert zu. Empathie und Mitgefühl stehen einer isolierten Selbsterfüllung entgegen, was näher darzulegen sein wird. Es kommt im Leben, im Zusammenleben und bei der Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt auch auf Vertrauen an, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung sowie auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein.48

Freiheit in der Demokratie

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