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2.

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Alexandra Rytíř blieb an der Schwelle der Ägidius-Kirche stehen und holte Luft. Der Geruch, der aus dem weiten, nüchternen Kirchenschiff drang, war einladend – Kerzenwachs und Unschlitt, Reste von Weihrauch, Ölfarbe, Staub und Alter: der ewige Kirchenduft. Für sie würde er nie mehr etwas anderes bedeuten als Abschied, Schmerz und Leere. Ein schneeiger Windstoß ließ sie erschauern; wie passend, dachte sie unzusammenhängend, dass dieser nachdrückliche Beweis der angebrochenen Adventszeit ihr Gänsehaut verursachte. Advent war seit Jahren etwas, das durchlitten werden musste. Keine Kerzen, kein Gebäck mehr … keine warme, kleine Hand, die sich in die ihre schmiegte, um der Kälte zu entgehen. Sie straffte sich und trat ein.

Die Zeit nach dem Mittagsläuten war die beste Zeit, um die Kirche zu besuchen. Meistens war sie dort allein. Es war einfacher, die Fassung zu bewahren, wenn man sie nicht bewahren musste, um neugieriges Mitleid zu verhindern. Wenn man weinen und mit den Zähnen knirschen und Gott beschuldigen durfte, dass er einem das Beste weggenommen hatte, dann war es irgendwie einfacher, es nicht zu tun … dann konnte man sich still niederknien und eine Kerze anzünden, hoffen, dass die kleine Flamme die noch kleinere Seele wärmte, die für so kurze Zeit das Dasein mit einem geteilt hatte und die jetzt irgendwo war, erreichbar nur in Träumen.

Und man konnte hoffen, dass man irgendwann am Morgen aufstehen und den Schmerz nicht mehr so übermächtig empfinden würde, dass jede Stunde des Tages ein Kampf gegen die Verzweiflung war. Sie hoffte seit so vielen Jahren …

Sie holte die Kerze aus ihrem Mantel, hielt den Docht an die Flamme einer der anderen Kerzen, die in der Seitenkapelle brannten, und klebte sie auf dem Steinboden fest. Anfangs hatte sie große, wuchtige Kerzen genommen und nach ihren Besuchen stehen gelassen, doch dann hatte sie festgestellt, dass es Menschen gab, die solche teuren Kerzen stahlen, löschten und dann in einer anderen Seitenkapelle neu entzündeten, um ihre eigenen Bitten an das Emporzüngeln der Flamme zu heften. Im Gegensatz zu früher war sie nicht mehr sicher, ob Gott solche Gebete nicht genauso erhörte wie alle anderen, weil es ihm ohnehin egal war, was die Menschen taten, ob sie lebten – oder starben. Jedenfalls war sie dazu übergegangen, kleine Kerzen zu verwenden und so lange bei ihnen zu verharren, bis sie heruntergebrannt waren.

Sie blickte nach oben, in das nachgedunkelte bärtige Gesicht auf dem Gemälde.

„Behüte deinen Schützling, heiliger Mikuláš“, flüsterte sie. „Behüte ihn im Tod, wenn du ihn schon im Leben nicht schützen konntest.“

Der Heilige antwortete nicht. Die Kerzenflamme brannte stetig. Alexandra schluckte den Schmerz hinunter, der sich in ihre Kehle krallte.

„Hallo, Miku“, wisperte sie heiser. „Hier ist deine Mutter. Geht es dir gut?“

Sie konnte nicht weitersprechen. Während der Anblick der vielen Dutzend Kerzenflammen vor ihrem Gesicht verschwamm, sagte sie sich, dass sie nicht hätte kommen sollen. Immer am Namenstag ihres einzigen Kindes fand sie sich in der Kapelle vor dem Bild von Mikus Namenspatron ein und versuchte, so zu tun, als könne man mit Gott, den Heiligen und den Toten Verbindung aufnehmen. Mühsam kam sie auf die Beine und trat in das Kirchenschiff hinaus.

„Keine Mutter sollte jemals ihr Kind zu Grabe tragen müssen“, hörte sie eine Stimme sagen. Die Stimme war in ihrem Kopf, und sie gehörte Wenzel von Langenfels. Sie hatte die Bemerkung abgeschmackt empfunden und gleichzeitig gewusst, dass es ein ehrlicher Versuch von seiner Seite gewesen war, Mitgefühl auszudrücken.

Wenn du wüsstest, hatte sie damals gedacht und dachte es auch heute. Wenn du wüsstest …

Die kleine Kerze in der Kapelle brannte zügig herunter. Alexandra starrte sie an. Ihr beim Verlöschen zuzusehen war fast genauso, wie Zeuge von Mikuláš’ Verlöschen zu werden, zu beobachten, wie sein schmaler Körper immer schmaler und sein Gesicht immer blasser wurde und seine Augen begannen, an ihr vorbei und durch sie hindurch an einen Ort zu schauen, zu dem sie ihm nicht folgen konnte. Panik befiel sie, sodass sie glaubte, nicht mehr atmen zu können. Sie bückte sich nach der Kerze, doch dann zuckte sie zurück. Wenn sie sie auslöschte, wäre das nicht, als ob sie Mikus Leben …? Aber das Kind war tot, es konnte nicht mehr schlimmer werden, und einfach zu gehen und dann später darüber nachzudenken, ob jemand anderes die kleine Kerze ausblasen und für seine eigenen Zwecke stehlen würde, war fast genauso unerträglich, wie zuzusehen, wie ihr Licht erlosch. Sie löste die Kerze vom Boden, hielt sie dicht vor ihr Gesicht und blies sie aus mit einem Hauch, der wie ein Kuss war. Der Rauch des erloschenen Flämmchens stieg in die Höhe und verging mit einem letzten Flackern, und auf einmal dachte sie, dass sie dieses Flackern auch als das Winken der kleinen Seele ihre Sohns nehmen konnte, die sich bei ihr meldete.

Absurd, dachte sie. Gedanken wie diese waren der letzte Strohhalm, bevor einen der Wasserfall des Schicksals in die Tiefe riss.

Dennoch fühlte sie sich auf eine seltsame Art und Weise getröstet, als sie die Kirche verließ.

Das Licht draußen war trüb. Die Schönheit der Stadt schimmerte durch die Dämmerung und berührte das Herz, auch wenn der Winter sie in ein Mosaik aus grauen und schwarzen Flächen verwandelte, über denen die Rauchsäulen aus den Kaminen hingen und der beißende Hausbrandgeruch in die Gassen sank. Alexandra tastete nach der Kerze in ihrer Tasche. Sie bedauerte es auf einmal so sehr, sie nicht bis zu Ende brennen gelassen zu haben, dass sie fast wieder umgekehrt wäre. Dann erkannte sie die Gestalt, die allein vor der Kirche auf dem Pflaster stand.

„Mama?“

Von Weitem sah Agnes Khlesl immer noch wie eine Frau in mittleren Jahren aus. Ihr langes Haar, das sich zu einem schimmernden Grau gefärbt hatte, trug sie hochgesteckt unter einem Kopftuch; ihre schlanke, hochgewachsene Statur tat ein Übriges, um den Eindruck zu verstärken, dass sie nicht Alexandras Mutter, sondern höchstens ihre ältere Schwester war.

Bestürzt erkannte Alexandra, dass Agnes geweint hatte, und die harsche Frage, ob ihre Mutter ihr gefolgt sei, weil sie ihr noch immer nicht zutraute, allein mit ihrer Trauer fertig zu werden, starb auf ihrer Zunge, zusammen mit dem leisen Gefühl des Trostes, das ihr der Kirchenbesuch geschenkt hatte.

„Was ist passiert?“

Agnes räusperte sich. „Es geht um Lýdie“, sagte sie schließlich.

„Was ist mit der Kleinen? Andreas und seine Familie sind doch auf der Rückreise aus Münster … um Gottes Willen, ist ihnen etwas zugestoßen? Der Krieg ist doch vorbei …“

„Nein, sie sind wohlauf. Außer Lýdie.“

Alexandra starrte ihrer Mutter ins Gesicht. „Schlimm?“

„Schlimm.“ Agnes’ Augen begannen zu schwimmen.

„Wie schlimm?“

Agnes kämpfte damit, es ihr zu sagen. Eine Ahnung stieg in Alexandra hoch, und sie schnürte ihr beinahe die Stimme ab. „Nervenfieber?“

Agnes nickte und senkte den Blick.

„Sie ist die Einzige, die sich damals nicht angesteckt hat“, murmelte Alexandra. In Gedanken forderte sie ihre Mutter heraus, es zu sagen, aber Agnes schwieg, und so sprach Alexandra es aus: „So wie Miku der Einzige war, der damals daran gestorben ist.“

„Kryštof ist auch gestorben“, sagte Agnes.

Alexandra schluckte. Sie antwortete nicht. Auch heute hatte sie wieder vergessen, eine Kerze für ihren verstorbenen Ehemann zu entzünden. Sie fragte sich im Stillen, ob es wohl daran lag, dass sie ihm nicht verzeihen konnte, die Krankheit von einer Reise mit nach Hause gebracht zu haben. Es war nicht seine Schuld gewesen. Wenn einer Schuld trug, dann Gott, und selbst von ihm konnte man nicht erwarten, dass er über jedes einzelne Leben wachte. Nein, es war zu viel verlangt von Gott. Er hatte in den letzten dreißig Jahren genug damit zu tun gehabt, die Seelen derer zu wiegen, die von den Soldaten aller Lager erschossen, erstochen, erschlagen, ertränkt, erdrosselt, zu Tode gefoltert und geschändet worden waren. Wie aber sollte man Gott die Schuld geben und danach einem neuen Tag ins Auge sehen können? Es gab Situationen, da mussten Menschen die Bürde auf sich nehmen, die der Herr der Schöpfung eigentlich zu tragen hätte.

„Er hat es nicht verdient, weißt du“, sagte Agnes leise.

Natürlich hatte er es nicht verdient. Tatsächlich war Alexandra nicht nur Miku genommen worden, sondern auch Kryštof, der Mann, dessen Namen sie trug, der Mann, den sie geheiratet hatte. Kryštof Rytíř war zwei Tage vor Miku gestorben, verzweifelt darüber, dass die Krankheit, mit der er sich angesteckt hatte, nun auch seinen Sohn dahinraffen sollte, und hoffnungslos, weil er seiner Frau ansah, dass sie ihm deswegen nicht verzeihen konnte. Wahrlich, Kryštof hatte das alles nicht verdient gehabt; nicht verdient zu sterben, nicht verdient, sich selbst dafür zu verfluchen, nicht verdient, von seiner Frau verflucht und bei den Kirchenbesuchen ein ums andere Mal vergessen zu werden. Schon gar nicht hatte er verdient gehabt, mit der Lüge zu leben und mit ihr zu sterben, dass Miku sein Kind gewesen war.

„Ich kann das nicht“, sagte Alexandra.

„Ich habe nichts von dir verlangt“, sagte Agnes.

„Du wärest nicht hierhergekommen, wenn du mich nicht darum bitten wolltest, Lýdie zu retten.“

Agnes hob den Blick und sah ihrer Tochter in die Augen. Alexandra hatte das Gefühl, durch die Jahre rückwärtszustürzen, bis sie wieder die junge Frau war, die in ihr eigenes Verderben gerannt und nur mit dem Leben davongekommen war, weil es Menschen gegeben hatte, die sich dem größten Schrecken ihres Lebens gestellt hatten in dem festen Glauben, sie, Alexandra, dadurch retten zu können. Ihre Mutter Agnes war einer dieser Menschen gewesen.

„Ich …“, begann Alexandra.

„Du kannst deinem Bruder Andreas nicht verzeihen, dass er und seine Familie mit dem Leben davongekommen sind, während deine Familie zerstört wurde. Du kannst ihm so wenig verzeihen wie Kryštof.“

Es hatte nicht wie ein Vorwurf geklungen. Agnes’ Augen waren sanft. Der Kloß in Alexandras Kehle schmerzte dennoch unerträglich.

„Das stimmt doch gar nicht …“

„Aber das ist nicht der springende Punkt. Das Hauptproblem ist, dass du dir selbst nicht verzeihen kannst, Miku nicht gerettet zu haben.“

„Wie hätte ich denn …? Ich habe doch erst danach …“

„Mir brauchst du das nicht zu erklären. Erklär es dir selbst.“

Ein Schluchzen stieg in Alexandras Kehle auf, aber sie unterdrückte es.

„Alexandra, es hat keinen Sinn, dass du dir selbst Vorwürfe machst, dich nicht eher für die Heilkunde interessiert zu haben. Manche finden ihren Weg im Leben früher, manche später. Es ist nicht dein Fehler, dass du ihn erst erkannt hast, als Miku nicht mehr bei uns war. Und selbst wenn – woher nimmst du die Gewissheit, dass du ihn hättest heilen können?“

„Du glaubst doch fest daran, dass ich Lýdie helfen kann!“

„Weil du die Beste bist. Weil es die Aufgabe einer Heilerin ist, zu heilen. Sich selbst zu heilen, ganz nebenbei, aber das sage ich dir ebenso wie alles, was ich vorhin gesagt habe, seit zehn Jahren.“

„Vielleicht musst du es mir noch mal zehn Jahre lang sagen, dumm, wie ich bin.“

Agnes lächelte mit neuen Tränen in den Augen. „Du bist nicht dumm, Liebes. Nur so tief verletzt ... so tief ...“

„Hör auf damit, Mutter!“

„Warum stellst du deinen Schmerz über den der anderen? Du kannst heilen! Talente wie dieses sind ein Geschenk für die Menschheit. Du darfst es nicht für dich behalten.“

„Sag das all den Frauen, die in den ersten Kriegsjahren verbrannt worden sind, weil sie heilen wollten und die anderen sie als Hexen verleumdet haben.“

„Wir befinden uns nicht mehr in diesen Zeiten.“

„Neunhundert waren es in Würzburg“, sagte Alexandra. „Neunhundert. Welch ein Wahnsinn! Es waren kleine Kinder darunter! Sie haben sie gefoltert und bei lebendigem Leib verbrannt, während ihre Mütter und Väter vor den Scheiterhaufen stehen und zuschauen mussten!“

„Alexandra ...“

„Neunhundert, Mutter! Und wie viele Tausend mögen es im ganzen Reich gewesen sein? Was soll das für ein Geschenk an die Menschheit sein, wenn diese hergeht und die Überbringer des Geschenks ermordet?“

„Darum geht es doch gar nicht, Alexandra.“

„Nicht, Mutter?“ Alexandra atmete schwer. Sie hatte ihre eigene Stimme gellen gehört. Was rede ich da?, fragte sie sich selbst, aber etwas in ihrem Inneren hatte die Kontrolle übernommen, etwas, das sich brüllend vor Wut und Verzweiflung bei der Zumutung wand, dass sie etwas zur Rettung ihrer kleinen Nichte unternehmen sollte, während jede Hoffnung, die Alexandra geblieben war, nur noch in Gebeten an einen tauben Gott bestand.

„Nein. Es geht darum, dass Andreas’ und Karinas Tochter sterben wird, wenn du ihr nicht hilfst.“

„Was, wenn ich doch schon früher damit angefangen hätte, mich für die Heilkunde zu interessieren, und auch verbrannt worden wäre? Dann wäre ich heute nicht da, um der Kleinen zu helfen. Ich kann mich nicht erinnern, dass Andreas damals nach Würzburg gegangen wäre und versucht hätte, das Morden zu beenden. Und wir hatten sogar einen Handelsagenten in Würzburg und gute Beziehungen!“

„Das ist doch lächerlich, Alexandra. Du weißt genau, dass dein Vater, Andrej und Andreas unseren Partner dort samt seiner Familie gerettet haben und dass uns das so viel Bestechungsgelder kostete, wie das gesamte Geschäft im Bistum uns die Jahre zuvor eingebracht hatte.“

„Und wenn ich ihr nicht helfen kann?“

Alexandra erinnerte sich an ihre eigene Verzweiflung, mit der sie den behäbigen Arzt bestürmt hatte, damals, vor zehn Jahren: Die Medizin wird doch helfen, nicht wahr? Er wird doch wieder gesund werden, oder nicht? Gott kann ihn doch nicht sterben lassen, er ist doch ein unschuldiges Kind? Sie war sicher, dass sie es nicht durchstehen würde, auf dieselbe Art von ihrem Bruder und ihrer Schwägerin bestürmt zu werden und die Verantwortung zu tragen für das Leben, das so unvermittelt in ihrer Hand lag. Einen Augenblick lang war sie überzeugt, dass ihre eigene Tragödie sich an der Familie ihres Bruders wiederholen würde. Wer sollte sich schon im Namen der kleinen Lýdie zwischen das Leben und den Tod stellen? Ein gütiger Gott? Ha!

„Du hast selbst einmal gesagt, dass es die Aufgabe einer Heilerin ist, zwischen dem Tod und der Hoffnung zu stehen. Gott stellt sich nicht dazwischen. Er hat stattdessen Menschen wie dir die Fähigkeit verliehen, es zu tun.“

Ich habe keine Hoffnung, wollte Alexandra entgegnen. Schon gar nicht an einem Tag wie diesem. Heilen zu wollen bedeutet, die Hoffnung niemals aufzugeben. Ich habe nicht die Kraft zu hoffen.

„Alexandra, sosehr ich deinen Schmerz respektiere – du musst helfen. Wenn du dich heraushältst, und Lýdie wird durch ein Wunder gesund, dann wird das noch schlimmer sein, als wenn du Andreas und Karina sagen musst, dass du die Kleine nicht retten kannst.“

Alexandra schnaubte. Sie erinnerte sich daran, was ihre Lehrerin gesagt hatte, die alte Hebamme Barbora, die nun längst selbst jenseits allen Hoffen und Bangens und – wollte man den Ansichten glauben, die böse alte Männer vom Schlag des Fürstbischofs von Würzburgs vertraten – im tiefsten Kreis der Hölle war: Das Schlimmste ist nicht, dass du sie sterben siehst, sondern den Dank in ihren Augen, wenn du ihnen sagst, dass sie es schaffen werden – obwohl du ahnst, dass es nicht der Fall sein wird. Alexandra hatte auch Miku ständig versichert, dass er wieder gesund würde. Sie hatte in seinen Augen lesen können, dass er es besser gewusst hatte, aber er hatte stets dazu genickt und gelächelt. Das todkranke Kind hatte versucht, seiner untröstlichen Mutter Hoffnung zu geben.

„Wein nicht“, sagte Agnes und begann selbst zu weinen. „Ich weiß, woran du denkst.“

Ich habe meinen Weg nach dem Abschied von meinem Kind eingeschlagen, weil ich diesem einen Tod so viele Leben wie möglich entgegensetzen wollte; weil ich dem Sensenmann ein erbittertes Gefecht um jede weitere Seele liefern wollte, dachte Alexandra. Nicht, damit jemand die Narben auf meiner Seele aufkratzt und den Wunden, die darunterliegen und niemals verheilt sind, neue hinzufügt!

„Wo sind Andreas und seine Familie überhaupt?“, fragte sie.

Agnes senkte den Blick erneut. „In Würzburg“, sagte sie. „Es liegt auf dem Weg von Münster nach …“

„O mein Gott“, stieß Alexandra hervor. „Wie kannst du das von mir verlangen? O mein Gott!“

„Ich hatte unrecht“, sagte Agnes; ihre Stimme klang entmutigt. „Verzeih mir. Ich hätte es wirklich nicht von dir verlangen dürfen.“ Sie zog ihren Mantel fest um ihre Schultern zusammen und wandte sich ab. Ein letztes Mal drehte sie sich zu Alexandra um. „Ich liebe dich so sehr“, sagte sie. „Ich habe damals zu Gott gebetet, dass er Cyprian und mich nehmen soll, wenn er Miku und Kryštof dafür verschont. Aber wie wir alle wissen: Handeln kann man nur mit dem Teufel.“

Alexandra nickte unter Tränen. Auch mit ihm nicht, schrie es in ihr. Ich habe ihm meine Seele versprochen, wenn er Miku rettet, aber er hat mir ebenso wenig geantwortet wie Gott dir.

Agnes schritt über den Schnee in die Düsternis der nächstgelegenen Gasse davon. Von irgendwoher kam ein Duft von Bratäpfeln und süßem Gebäck und verwehte sofort. Eine Faust krallte sich um Alexandras Herz und presste es gnadenlos zusammen. Der beständig durch die Gassen wehende Schneewind ließ sie zittern. Wie noch nie in den vergangenen Jahren wünschte sie sich, jemanden um Rat fragen zu können, jemanden, der nicht eine Freundin oder einer ihrer Brüder oder ihre Mutter war, sondern jemand, mit dem man seinen Körper und seine Seele geteilt hatte und der einen kannte wie sonst kein anderer Mensch.

Langsam, als trüge sie eine tonnenschwere Last, stapfte sie zurück in die Kirche und zündete eine weitere Kerze an, diesmal für Kryštof.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Es tut mir leid, dass dies die erste Kerze seit vielen Jahren ist, die ich für dich entzündet habe. Es tut mir leid, dass ich nicht die Kraft hatte, dir die Liebe zu schenken, die du mir gegeben hast.“ Sie sah sich um. Sie war allein in der Kirche, und doch konnte sie es nicht aussprechen. Es tut mir leid, dass ich dir zehn Jahre lang vorgelogen habe, Miku wäre dein Sohn, fügte sie dann in Gedanken an. Ihr war so kalt, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Beinahe schmerzhaft sehnte sie sich danach, mit dem Vater ihres einzigen Kindes sprechen zu können.

Agnes hatte ihr einmal erzählt, was ihre Magd ihr für einen Rat gegeben hatte, als es für Agnes darum gegangen war, sich ihrer Liebe zu Cyprian zu stellen oder für immer vor ihr fortzulaufen.

Vielleicht habt ihr nur eine einzige Stunde miteinander. Manchmal kann man sich an einer einzigen Stunde ein Leben lang festhalten.

Statt für ihre Mutter war diese Weisheit für Alexandra zur Wirklichkeit geworden. Ihr war klar, dass sie sich immer noch an dieser Stunde festhielt.

Sie sehnte sich danach, mit Wenzel von Langenfels zu sprechen und ihm die Wahrheit über ihr gemeinsames Kind zu verraten, und wusste gleichzeitig, dass sie es nie würde tun dürfen.

Die Erbin der Teufelsbibel

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