Читать книгу Die Erbin der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 21
5.
Оглавление„Bald ist das Christfest da“, murmelte Fabio Chigi und versuchte, den Drang zu urinieren noch ein wenig länger zu unterdrücken. Als Kind hatte er stets gedacht, er könnte seine Blase darin üben, das Wasser länger zu halten. Doch sie hatte sich jeglicher Ertüchtigung gegenüber als resistent erwiesen. Auf seinem Stuhl hin- und herwetzend, spähte er auf den Briefbogen, der vor ihm lag. Das Papier wellte sich in der Feuchtigkeit seiner Unterkunft und rollte sich an einem Ende auf. Er hatte sein Siegel daraufgelegt, um die Seite niederzuhalten – das Siegel eines päpstlichen Gesandten. Was immer das hier bedeutete: Ihm bedeutete es schon lange nichts mehr. Päpstlicher Nuntius – pah! Wie hatte er so hirnverbrannt sein können, den warmen, ortsgebundenen Stuhl des Großinquisitors von Malta gegen den wackligen Sitz im Innern einer zugigen Kutsche einzutauschen, selbst wenn es die eines päpstlichen Botschafters war? Sein Amtssitz war von Rechts wegen Köln, und das seit fast neun Jahren – doch wie viele Monate hatte er dort verbracht, abgesehen von der Tatsache, dass er Köln genauso hasste wie jeden anderen Ort nördlich der Alpen? Na also. Ein päpstlicher Nuntius war ständig auf Achse. Und was das für einen Mann bedeutete, dessen angeboren schwache Blase ihn alle Viertelstunde auf den Abritt pilgern ließ, konnte man sich denken. Aber das war alles noch nicht das Schlimmste, nicht wahr? Merda, nein (der Nuntius bekreuzigte sich für den Fluch), das war es nicht.
Der Papst hasste ihn, so viel stand fest. Wer vom Heiligen Vater damit beauftragt wurde, bei den Friedensverhandlungen zwischen den Katholiken und den Protestanten, zwischen Spanien, den Niederlanden, Frankreich, den deutschen Fürstentümern, Schweden, Böhmen und dem, was Kaiser Ferdinand noch vom Heiligen Römischen Reich in der Hand hielt, den Vermittler zu spielen, der musste ein gehasster Mann sein. Nun, er hasste Papst Innozenz X. auch, aber er hatte eigentlich gedacht, dass er es sich nicht hatte anmerken lassen. Scheinbar war er da falsch gelegen. Papst Innozenz X. war eine willfährige Marionette in den Händen seiner machtgierigen Schwägerin Olimpia Maidalchini, die von den meisten Angehörigen des Vatikans als die eigentliche Päpstin angesehen wurde. Daran war er, Fabio Chigi, wahrscheinlich gescheitert. Es war immer leichter, einen Mann im Unklaren über die wahren Gefühle zu lassen, die man hegte, als eine Frau. Einige andere hatten neidisch geschaut, als Fabio die Bürde des Mediators auferlegt worden waren – diese Narren. Ein paar hatten ihm aufrichtig gratuliert und gefunden, dass es keinen Besseren für diese Aufgabe geben könne als ihn – noch größere Narren! Jedenfalls war die Berufung als Vertreter des Papstes zu den Friedensverhandlungen das Schlimmste, was Fabio Chigi jemals zugestoßen war, und sein Leben war gewiss nicht arm an Misshelligkeiten.
Er überflog, was er geschrieben hatte. „... blablabla ... dicker Schmutz liegt meist an beiden Seiten der Straße. Ja, häufig sieht man sogar dampfende Haufen von Mist. Unter einem gemeinsamen Dach wohnen Bürger und trächtige Kühe. Und mit stinkenden Böcken auch noch die borstige Sau ...” Hmm, das war die Beschreibung von Münster, die er an den Kämmerer des Heiligen Kardinalskollegiums zu senden beabsichtigte. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass er fast denselben Text schon einmal geschrieben hatte. Ein Mann war am Ende, wenn er begann, sich in seiner Korrespondenz zu wiederholen. Er rutschte auf seinem Stuhl herum; die Blase zwickte ihn schon wieder. Jemand hatte ihm empfohlen, viel trockenes Brot zu essen, damit die Feuchtigkeit in seinem Inneren aufgesogen werde, aber was es hier in Münster (oder sonstwo im Deutschen Reich, verflucht seien seine Bäcker!) an Brot gab, konnte man eigentlich nur als Kriegserklärung auffassen. Er griff nach der Feder und diktierte sich selbst murmelnd: „Das Brot hier nennen sie Pumpernickel – ein scheußlicher Fraß, den man selbst Bettlern und Bauern nicht vorwerfen kann." Als die Worte geschrieben waren, schien es ihm, dass er auch sie schon einmal in einem Brief an den Kardinal erwähnt hatte. Er blickte zum Fenster hinaus. In der Nacht war Schnee gefallen, dann hatte ein morgendlicher Regen ihn aufgezehrt; vor dem Mittag hatte ein nasskalter Wind zu wehen begonnen, und jetzt, zur Non, drei Stunden nach dem Mittag, schien es, als setze der Frost ein. Darüber könnte er schreiben – aber wer würde ihm im sonnigen Italien schon glauben, dass er das Wetter nur eines einzigen Tages beschrieb? Münster, Heimatland der Regenwolken … er überlegte, ob er zu seiner Freundin in der Seelennot, der Poesie, flüchten sollte, aber dann fiel ihm ein, dass er sich noch Notizen für die morgigen Verhandlungen machen musste, und die Lust auf die Dichtkunst verging. Die dicken Scheiben des Fensters waren voller Tropfen, die langsam daran herunterliefen. Seine Blase fühlte sich von diesem Anblick durchaus angespornt.
Seit 1644 war er hier, teilte seine Zeit zwischen den Verhandlungsstätten Münster und Osnabrück und seinem Amtssitz in Köln auf und seine geistige Gesundheit zwischen Gestalten wie Johan Oxenstierna, dem Sohn des schwedischen Kanzlers und Hauptvertreter der Interessen der Schweden (ein blöder, arroganter Saufkopf, der sich für so wichtig hielt, dass er Tag für Tag sein Aufstehen und Zubettgehen durch Posaunenbläser und Trommler verkünden ließ), ferner Henri de Bourbon-Orléans, dem Verhandlungsführer der Franzosen (ein Popanz mit unbeschränktem Reichtum, der in seiner zweihundert Mann starken Entourage allein vierzig Küchenhelfer mitführte), sowie Maximilian Graf von Trauttmansdorff, dem Emissär des Kaisers (der, das musste man ihm lassen, ein geduldiger und erfahrener Mann war, aber dessen Verhandlungsführung daran litt, dass es ständig Entzifferungsschwierigkeiten mit den chiffrierten Eilmeldungen aus Wien gab). Und das waren nur drei von dem Haufen an Diplomaten, an denen Fabio Chigi sich aufrieb.
Stöhnend warf er die Feder neben das Papier. Er hatte keine Lust mehr, diesen Brief noch weiter zu vermurksen. Die meisten der Verhandlungsführer hielt er für Seelenkrüppel, aber das hieß nicht, dass sie dumm waren (außer Oxenstierna, aber der wurde von seinem Vater im fernen Stockholm gelenkt). Man musste höllisch aufpassen, damit die Belange der katholischen Kirche nicht in dem Klein-Klein aus Eifersüchteleien, minimalen Landgewinnen und schon seit Karl dem Großen schwelenden Animositäten untergingen, die das tägliche Taktieren bestimmten. So hatte Fabio überrascht aufgehorcht, als erst vor wenigen Wochen plötzlich der Vorschlag gekommen war, dass die katholische Kirche auf die den protestantischen Fürsten weggenommenen Güter verzichten sollte, deren Schenkung an den Vatikan seinerzeit noch Kaiser Ferdinand II. in seinem Restitutionsedikt festgelegt hatte. Natürlich waren die Protestanten darauf eingegangen, und Fabio war nichts anderes übrig geblieben, als reichlich undiplomatisch die katholischen Verhandlungsführer dazu zu überreden, alle schon gemachten Zusagen zurückzuziehen. Seitdem war er mit dem Makel des Blockierers behaftet, ausgerechnet er, dem das erfolgreiche Ende der Verhandlungen schon deshalb am Herzen lag, weil er damit endlich dem nasskalten deutschen Wetter und dieser täglichen Barbarei würde entkommen können. Graf Trauttmansdorff übrigens hatte dieser letzte in einer unrühmlichen Reihe von Eklats endgültig gereicht; er hatte die Verhandlungsführung abgegeben und war nach Hause gereist. Fabio bedauerte diesen Verlust aus menschlichen Gründen zutiefst, umso mehr, da Trauttmansdorff ihm, dem päpstlichen Unterhändler, die Alleinschuld daran in die Schuhe geschoben hatte und ein zartes Pflänzchen von gegenseitiger Sympathie damit zum Tod verurteilt worden war. Trauttmannsdorffs Nachfolge hatte der Rechtsgelehrte Isaak Volmar übernommen, der ein Choleriker war, zudem überzeugt davon, dass alle anderen Vollidioten waren und Fabio Chigi der größte von ihnen, und der sich von Anfang an allen Seiten gegenüber so unparteiisch bestechlich gezeigt hatte, dass kein Einziger einen Vorteil von den Geldern genossen hatte, die man Volmar in diskreten Umschlägen überreicht hatte.
Und draußen, in der Welt, plünderten Franzosen, Schweden und Kaiserliche ihnen verbündete und verfeindete Fürstentümer gleichermaßen, starben die Menschen unter den Händen der Soldaten, verhungerten, verendeten an der Pest und der Cholera oder brachten sich selbst um, weil das Elend zu groß war. Ein ganzes Reich versank im Grauen eines Krieges, der nicht enden konnte, und es war, als ob es niemals etwas anderes gegeben hätte als diesen Krieg und auch niemals so etwas wie die Hoffnung auf den Frieden.
Fabio stand auf, um sich auf den ungeliebten Weg in den Hinterhof seines Logis zu machen, wo ein klappriger Abort sich an die Pferdeställe lehnte und vergeblich versuchte, von der dumpfen Wärme der Pferdeleiber zu profitieren, als einer seiner Helfer sich zur Tür hereinschob.
„Monsignore, empfangen Sie heute noch?“
Fabio kniff die Beine zusammen und fragte: „Warum, wer hat sich angesagt?“
„Ein Mitglied der Societas Jesu aus Rom, Monsignore. Er heißt Pater Nobili.“
„Kennen wir den Mann?“
Der Assistent schüttelte den Kopf.
„Soll warten“, sagte Fabio. „Ich muss mal.“
„Entschuldigen Sie, Monsignore“, sagte eine heisere Stimme aus dem Flur vor seinem Arbeitsraum, „aber meine Botschaft hat Priorität.“
Priorität vor dem Entleeren meiner Blase?, dachte Fabio. Das wollen wir doch mal sehen ...
Doch bevor er es noch aussprechen konnte, drängte sich der ungebetene Besucher zur Tür herein. Der Helfer machte eine knappe Verbeugung und verschwand.
Entsprechend dem jesuitischen Brauch trug der Mann keinen Ordenshabit, sondern einen langen schwarzen Mantel, der in fein gelegten Falten um seinen Körper wallte und davon erzählte, dass sein Träger sich viele Längen Stoff leisten konnte. Außerdem hatte er einen halbhohen, ebenso schwarzen, dreispitzigen Hut ohne Krempe aufgesetzt – und da neunzig von hundert Angehörigen der Societas Jesu, die man traf, ebenso gekleidet waren, konnte man durchaus von einem Ordenshabit sprechen, wenn auch nicht offiziell.
Der Jesuit nahm den Hut ab, schüttelte die Nässe aus seinem Mantel und blickte Fabio finster ins Gesicht. Dann verzerrten sich seine Züge plötzlich, und eine gewaltige Niesattacke fügte dem theatralischen Auftritt reichlich Schaden zu.
„Was für ein scheußliches Wetter“, krächzte der Jesuit, nachdem er sich die Nase geputzt und sich ausgiebig geräuspert hatte.
„Wem sagen Sie das?“, seufzte Fabio und machte Anstalten, um den Mann herumzugehen. „Sie entschuldigen mich, Pater Nobili.“
„Warten Sie, warten Sie!“
„Das kann doch wohl ein paar Augenblicke …“
„Nein, ich muss sofort weiter. Es ist dringend.“
„Das ist mein Anliegen auch, glauben Sie mir!“
„Ich bin in direktem Auftrag des Pater Generalis unterwegs!“
Fabio, der ahnte, dass er den Mann erst loswürde, wenn dieser seine Angelegenheit erledigt hatte, nickte resigniert. Während der erkältete Jesuit erneut ein riesiges Taschentuch bemühte (es war schwarz, bei allen Heiligen!), versuchte Fabio, sowohl den Schmerz in seinem Unterleib als auch das plötzliche Klopfen seines Herzens zu unterdrücken. Er hatte Mitglieder des Ordens der Gesellschaft Jesu noch nie anders als würdevoll, gemessen und vor allem als vorgebliche Herren jeglicher Situation erlebt. Pater Nobili jedoch war, was das betraf, ein ungewöhnlicher Vertreter der Societas Jesu. Bei näherem Hinsehen war sein Mantel schmutzig, der Hut wirkte, als hätten ihn nervöse Hände mehr als einmal zerknautscht, die Wangen des Mannes waren unrasiert, das kurz geschnittene Haar ungewaschen und struppig.
„Lange unterwegs gewesen?“, fragte Fabio beinahe mitleidig.
„Durchgeritten“, sagte Pater Nobili nach einem letzten Fanfarenstoß in sein Taschentuch.
„Geritten!? Aus Rom?“
„Ein Wagen wäre zu langsam gewesen. Monsignore, was ich Ihnen nun sage …“ Pater Nobili sah sich um, als wolle er die Schatten mit den Augen durchdringen.
„Wir sind allein“, sagte Fabio und fragte sich zum ersten Mal, ob es wirklich stimmte. Immerhin war er das ranghöchste Mitglied der vatikanischen Delegation, und vielleicht bespitzelte man ihn ja schon seit Jahren …? Er bemühte sich, den Gedanken abzuschütteln. Pater Nobilis Nervosität schien ansteckend zu sein – so wie es sein verdammter Schnupfen wahrscheinlich auch war. Fabio glaubte beim Missklang der erkälteten Stimme seines Besuchers schon das erste Kratzen im Hals zu spüren.
Pater Nobili schüttelte den Kopf und wrang den Hut. „Das darf wirklich niemand …“, begann er erneut. Sein Blick fiel auf die leicht dampfende Weinkaraffe auf Fabios Tisch. „Ist das heißer Würzwein? Oh, mein Hals! Darf ich, Monsignore?“
„Bitte …“ Fabios Gesicht zuckte, als er das Geräusch hörte, mit dem der Wein in den Becher gluckerte und dann in die Kehle des Jesuiten. Sein Besucher fischte einen Ring aus seinem Mantel und legte ihn auf den Tisch.
„Das ist der Siegelring von Pater Generalis Vincenzo Carafa. Dass ich ihn dabeihabe, soll die Wahrhaftigkeit und Dringlichkeit meiner Botschaft bezeugen.“
„Na gut“, sagte Fabio heroisch.
„Es geht um … einen Abtrünnigen“, sagte Pater Nobili.
„Einen Abtrünnigen aus der Societas Jesu?“
„Ja.“ Der Pater räusperte sich ausgiebig. „Wir wissen nicht, ob er nicht etwa … eine Gefolgschaft hat.“
„Es gibt eine ganze Bewegung innerhalb des Ordens!?“, fragte Fabio ungläubig. Ihm war, als hätte Pater Nobili behauptet, dass sich inmitten eines Ameisenhaufens einige der Insekten plötzlich entschieden hatten, eigene Ziele zu verfolgen. „Sie nehmen mich auf den Arm.“
„Daran ist nichts lustig“, sagte Pater Nobili steif. „Und es ist nicht eine Bewegung, sondern eine einzelne irregeleitete Seele. Ich sagte, wir wissen nicht, ob …“
„Eine einzelne Seele, die so ‚unwichtig’ ist, dass der Pater Generalis seinen Botschafter mit seinem persönlichen Siegel legitimiert.“
Pater Nobili räusperte sich erneut.
„Weshalb kommen Sie damit zu mir, Pater Nobili?“
„Wir möchten, dass Sie uns helfen, den Abweichler zu fangen und nach Rom zu bringen.“
„Wie stellen Sie sich das vor? Wer sagt Ihnen überhaupt, dass er in der Nähe ist?“
„Er ist nicht in der Nähe. Nach allem, was wir wissen, dürfte er noch in Würzburg sein.“
„Dann reiten Sie doch nach Würzburg und …“ Fabios Stimme erstarb.
Pater Nobili nickte. „Genau.“
Fabio schnippte mit den Fingern und vergaß für einen Augenblick den Druck in seinem Unterleib. „Die Kommission zur Untersuchung der Hexenverbrennungen vor zwanzig Jahren!“, murmelte er.
„Es ist die bisher größte Anstrengung unseres Ordens, die Verfehlungen der Vergangenheit wiedergutzumachen“, sagte Pater Nobili. „Der damalige Fürstbischof von Würzburg, Adolf von Ehrenberg, hatte in seinem Wahn Hilfe auch aus unserem Orden. Neunhundert Menschen sind verbrannt worden, Monsignore, darunter Dutzende von Kindern. Wir wissen jetzt, dass das falsch war. Und wir hoffen, uns von dieser Sünde zu befreien, indem wir die Verbrechen untersuchen, alles ans Licht bringen und diejenigen bestrafen, die vielleicht noch am Leben sind.“
„Weswegen der Kommission auch nur die brillantesten Mitglieder der Societas Jesu angehören“, ergänzte Fabio. „Und weswegen es einen Heidenskandal hervorrufen würde, wenn Sie einen von Ihren Unfehlbaren mit einer derartigen Beschuldigung abzögen.“
„Verstehen Sie, Monsignore – wir wünschen, dass die Verfehlungen von vor zwanzig Jahren bestraft werden, und wir wollen dafür sorgen, dass die Societas Jesu daraus lernt und so etwas kein zweites Mal geschieht. Aber wir wollen diese ganze Geschichte auch nicht an die große Glocke hängen. Selbstreinigung hat nichts mit öffentlicher Selbstverbrennung zu tun! Das ist nicht unser Weg.“
„Und außerdem ist die Societas Jesu schon genügend schlecht angesehen, auch ohne einen Skandal um die Prozesse in Würzburg.“
„Außerdem“, sagte Pater Nobili, dem es schwerzufallen schien, dies zuzugeben.
„Und was soll ich jetzt tun?“
„Sie sind die oberste Autorität des Heiligen Stuhls in den deutschen Fürstentümern. Sie könnten den Mann festsetzen. Wir würden ein wenig dagegen protestieren, der Heilige Stuhl könnte es nach ein paar Tagen als Irrtum eingestehen, und wir alle tun dann so, als wäre danach die Ordnung wiederhergestellt. Kein Abtrünniger … kein Skandal … keine langfristige Störung der Prozesse …“
„Aber euren … Abtrünnigen … gibt es doch nach wie vor!“
Pater Nobili schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war eine Maske.
Fabio atmete langsam ein. „Da ist mehr dahinter“, flüsterte er. „Nur weil jemand die Ordensregeln nicht zu hundert Prozent befolgt, lässt der Pater Generalis ihn nicht in den Kellern der Chiesa del Gesù verschwinden.“
„Die Kirche des Heiligen Namens Christi hat keine Keller!“
„Was hat der Mann angestellt?“, fragte Fabio beinahe gegen seinen Willen. Der Drang zu urinieren war nun so stark, dass seine Zähne wehtaten, doch die Faszination des Schreckens hielt ihn gefangen. Sein Herz hatte erneut angefangen, heftig zu pochen. Ein abtrünniger Jesuit, über den der Ordensgeneral das Todesurteil gesprochen hatte? Es schien, als wären die Schatten im Zimmer auf einmal dunkler geworden. Die Jesuiten waren nicht beliebt; sie waren päpstlich loyal, intelligent, eine Bewegung, die weniger ihrer Frömmigkeit als ihrer geballten Intelligenz wegen mächtig geworden war. Wenn die Dominikaner als die Bluthunde des Papstes galten und als solche verhasst waren, dann wurden die Jesuiten als Schlangen angesehen: elegant, schlau, tödlich. Eine Erinnerung streifte Fabios Gedanken. In Rom hatte er einmal ein Rätsel erzählen gehört: Ein Schiff mit einem Franziskaner, einem Benediktiner und einem Jesuiten an Bord ging unter, und während die drei Ordensmänner um ihr Leben schwammen, kamen Haie und fraßen den Franziskaner und den Benediktiner auf. Der Jesuit aber wurde von den Haien verschont. Warum? Der Rätselerzähler hatte dröhnend gelacht. Respekt unter Kollegen!, hatte er dann gebrüllt.
Niemand hielt die Gefolgsmänner des Ignatius von Loyola für Heilige; doch zu hören, dass sich einer von ihnen auf Abwegen befand, war nicht anders, als zu erfahren, dass erneut ein Engel gegen Gott den Herrn aufgestanden war.
„Wissen Sie, was der Teufel Adam und Eva anbot, um sie zu verführen?“, fragte Pater Nobili.
„Die Frucht vom Baum der Erkenntnis.“
„Wissen“, sagte der Jesuit. „Nichts anderes als das: Wissen um die Zusammenhänge, die Gott nicht für uns Menschen vorgesehen hat. Man könnte auch sagen: das Wissen des Teufels.“
„Und Ihr Abtrünniger …?“
„Ist hinter diesem Wissen her.“
„Er sucht den Baum der Erkenntnis? Und der soll ausgerechnet in Würzburg stehen?“
„Der Baum der Erkenntnis“, erklärte Pater Nobili kühl, „ist ein Symbol. Wo wird Wissen in der Regel festgehalten, Monsignore?“
„In Büchern …“
„Der Abtrünnige sucht das gefährlichste Buch der Welt. Das Buch, in dem Luzifer all das festgehalten hat, was Gott uns Menschen niemals zumuten wollte. Es ist das Testament des Bösen, sein Vermächtnis …“
„Die Bibel des Teufels“, sagte Fabio und glaubte aus dem Augenwinkel zu sehen, dass die Schatten zuckten.
„Sie wissen davon?“
„Ich weiß wovon?“ Die Schatten schienen immer noch zu zucken, als atmeten sie und blähten sich dem Klang der Wörter entgegen: die Bibel des Teufels …
„Von der Teufelsbibel!“
„Es gibt dieses Buch wirklich?“
Pater Nobili schien diese Frage keiner Antwort für würdig zu befinden.
„Was will ein abtrünniger Jesuit damit anfangen?“
„Sehen Sie sich um, Monsignore. Sie sind seit vier Jahren hier.“
„Vernichtung? Tod? Ein Krieg, der niemals aufhört? Mir scheint, die Menschen brauchen den Teufel nicht, um das fertigzubringen.“
„Monsignore, Sie verkennen die Lage, fürchte ich. Der Krieg steht vor seinem endgültigen Ende. Die Verhandlungen hier sind eine Chance für den Frieden. Sie, Monsignore, sind ein Teil der Hoffnung, dass es diesen Frieden geben möge.“
„Du meine Güte“, sagte Fabio. „Das kann nur jemand sagen, der nicht Tag für Tag in diesem Irrsinn gefangen ist.“
„Das ist vollkommen egal. Die Hoffnung besteht. Und wenn es eines gibt, was der Teufel noch mehr fürchtet als den festen Glauben an Gott, dann ist es die Hoffnung. Wissen Sie, was die Hölle ist, Monsignore? Es sind nicht Teufel, die die armen Seelen in heißem Öl kochen oder sie bei lebendigem Leib auffressen. Es ist die absolute Dunkelheit, wenn alle Hoffnung vergebens ist.“
„Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!“, sagte Fabio und starrte direkt in die Schatten hinein. Er hatte das Gefühl, dass sie nach ihm griffen, wenn er ihnen den Rücken zuwandte.
Pater Nobili nickte.
„Vielleicht will Ihr Ordensbruder ja versuchen, mithilfe der Teufelsbibel den Krieg endgültig zu beenden? Wissen kann man in zwei Richtungen einsetzen.“
„Die Teufelsbibel dient nur dazu, das Böse in die Welt zu holen.“
„Wie heißt der Mann?“
Pater Nobili holte lang und tief Atem und kniff dann die Lippen zusammen.
„Na, kommen Sie schon. Wie soll ich denn …?“
„Silvicola. Giuffrido Silvicola.“
Fabio schüttelte den Kopf. Er tat einen Schritt auf seinen Arbeitstisch zu. Der Schmerz fuhr ihm wie eine Messerklinge in den Leib – er hatte tatsächlich ein paar Augenblicke vergessen, dass seine Blase zu platzen drohte. Ächzend fischte nach einem Bogen Papier. „Ich schreibe Ihnen eine Empfehlung für Bischof Johann Philipp von Schönborn aus“, sagte er und begann hastig zu kritzeln. „Er ist der Bischof von Würzburg und hat eine ständige Delegation hier in Münster, die sich in die Verhandlungen einmischt. Wärmen Sie schon mal das Siegellack auf, Pater … Hmmm … der Bischof und ich sind nicht die besten Freunde, weil er meines Erachtens zu schnell zu Kompromissen gegenüber den Schweden bereit ist, aber gerade das macht ihn für diese Situation zu einem idealen Verbündeten …“ Ein erneuter Stich schoss durch Fabios Leib, und er wusste, dass er nur noch wenige Augenblicke hatte, um entweder den Abtritt zu erreichen oder hier in seine Soutane zu pissen. „Die Sicherung des Friedens geht ihm über alles. Er wird nicht zulassen, dass er gefährdet wird, noch nicht einmal durch den Teufel persönlich.“
Fabio presste sein Siegel mit zitternder Hand in den Klecks Siegellack, den Pater Nobili auf das Papier hatte tropfen lassen. Seine Augen tränten.
„Warten Sie unter allen Umständen hier auf mich!“, stöhnte er und humpelte hinaus, jeder Schritt eine Folter. „Sie brauchen Geleit. Ich muss das noch organisieren …und ich muss Ihnen noch eine persönliche Nachricht für Bischof Johann …“
Er rannte die Treppe hinunter. Jede Stufe quetschte einen Tropfen Urin aus ihm heraus. Er ächzte. Auf den letzten Schritten zum Abtritt brach ihm der Schweiß aus. Wenn die Tür klemmte … oder wenn jemand auf dem Abort saß … die Tür ging auf, dem Herrn war Dank! Er fegte den Deckel auf dem Loch beiseite, zerrte die Soutane hoch, hörte ein paar Knöpfe abspringen … dann konnte er sich endlich gehen lassen. Er hätte beinahe geschrien, so heiß brannte sich der Strahl aus ihm hinaus. Die Kälte hatte die Gerüche unterdrückt. Sein warmer Urin löste sie wieder und ließ sie aufsteigen, aber Fabio hatte das Gefühl, noch nie an einem schöneren Ort gewesen zu sein. Seine Blase schien mehr Inhalt zu haben als ein ganzes Fass. Er hörte über das Plätschern, wie die Eingangstür seines Hauses zuschlug, dann das Wiehern eines Pferdes, dessen Besitzer sich schnell in den Sattel schwingt.
„Warten Sie, Pater Nobili!“, brüllte er und verschluckte sich. Der beißende Geruch ließ ihn husten. „Warten Sie doch, Herrgott noch mal!“
Das Plätschern wollte nicht aufhören. Fabio versuchte, den Strahl abzudrücken, aber der Schmerz war so brennend, dass er es sein ließ. Draußen entfernte sich rasches Hufgetrappel über das Pflaster.
„Idiot“, murmelte er. Er hörte förmlich, wie der Delegationsleiter des Würzburger Bischofs fragen würde, ob es noch eine zusätzliche Note von Monsignore Chigi gäbe, und wie Pater Nobili sagen würde: „Nein, ich bin so schnell ich konnte aufgebrochen, Monsignore waren indisponiert“; und wie der Delegationsleiter grinsen und mit besonderer Betonung fragen würde, ob Monsignore sich wieder einmal mitten im Gespräch verpisst hätte … Der Gedanke löste statt Scham ein hysterisches Kichern in Fabio aus, und über das Kichern war ihm, als höre er ein langsames Pochen wie das eines schwarzen, bösen Herzens, und die Schatten in der kleinen, stinkigen Kammer des Abtritts zuckten und atmeten.