Читать книгу Die Erbin der Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 19

3.

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Als Wenzel von Langenfels durch das Tor trat und in den weiten Innenhof schritt, umfing ihn die Würde des Orts, wie sie es stets tat, und wie stets erfüllte sie ihn mit einer verwirrenden Mischung aus Frieden und Sehnsucht. Frieden, weil er hier seinen Platz gefunden hatte, und Sehnsucht, weil er das Gefühl hatte, dass es einen Platz auf der Welt gab, an den er noch besser passte. Er atmete tief ein und aus, dann marschierte er durch die lückenhafte Allee der Steinfiguren hindurch zum Hauptportal. Die Knechte am Tor hatten auf seine Weisung hin seine Rückkehr nicht angekündigt. Er liebte es, für eine Weile mit sich und den Gefühlen allein zu sein, die ihn stets überwältigten, wenn er hierherkam. Meistens gelang es ihm nicht; man war wachsam in Raigern, und man hatte allen Grund dazu.

Er verdrehte resigniert die Augen, als das Kirchenportal aufschwang, noch bevor er es hatte erreichen können, und einer der Mönche herauskam. Der Mönch verbeugte sich strahlend. „Willkommen zurück, ehrwürdiger Vater.“

Wenzel von Langenfels, seit vier Jahren Probst von Raigern, nickte. „Danke“, sagte er.

„Willst du dich erfrischen, ehrwürdiger Vater? Die beamteten Brüder stehen bereit, wenn du so weit bist, dass du ihnen berichten kannst.“

Natürlich standen die beamteten Brüder bereit. Sie standen immer bereit, wenn er zurückkehrte. Er war selbst schuld daran, dass sie so gut Bescheid wussten, wer sich im Umkreis von ein paar Meilen dem Kloster näherte; er hatte ihnen beigebracht, dass es unter den Vögeln, die Gott der Herr erschaffen hatte, auch Brieftauben gab, und wie man mit ihnen eine ganze Postenkette aufbauen konnte.

„Etwas heiße Brühe vielleicht? Ich bin ganz durchgefroren.“

„In deiner Zelle, ehrwürdiger Vater?“

„Ins Refektorium, bitte.“

Seine Antwort enthielt die ungesagte Botschaft, dass er Neuigkeiten hatte, die alle betrafen. Während er sich mit den beamteten Brüdern beriet, würden nach und nach mindestens drei Viertel der Mönche unter irgendeinem Vorwand im Refektorium auftauchen und in Hörweite dort herumlungern. Wenzel hatte nichts dagegen, weil auf diese Weise die Informationen, die er brachte, allen sofort zugänglich wurden und weil es gleichzeitig die Autorität der beamteten Brüder unterstrich, die als Einzige mit ihm am Tisch saßen. Außerdem sorgte es dafür, dass die Neugier der anderen Brüder gestillt war und die Versuchung geringer wurde, das Ohr an die Tür seiner Zelle zu pressen, wenn er den Klosterbeamten etwas mitteilte, das nicht für alle bestimmt war.

„Betet zum Herrn“, sagte er, als die dampfende Brühe vor ihm stand und die ersten Mönche betont harmlos ins Refektorium schlenderten, um sich am Lesepult zu schaffen zu machen, die Bodenplatten zu fegen oder sonst etwas zu tun. Das Refektorium pflegte stets der sauberste Raum im ganzen Kloster zu sein, das ohnehin nicht unbedingt ein Opfer der Vernachlässigung war.

„Der Frieden ist so nahe wie nie zuvor – ebenso wie Armageddon.“

Die meisten der am Tisch Sitzenden bekreuzigten sich. Aus einer Ecke, aus der imaginäre Spinnweben entfernt wurden, ertönte ein unterdrückter Schreckensschrei.

„Bist du sicher, ehrwürdiger Vater?“

Wenzel seufzte. „Dieser Krieg war die schlimmste Katastrophe, die der Christenheit jemals zugestoßen ist“, sagte er. „Dreißig Jahre Tod und Verderben. Ein paar von euch waren noch nicht mal geboren, als er ausbrach.“ Zwei der Bodenplattenfeger räusperten sich. „Und ich … ich war ein junger Kerl, der über gar nichts Bescheid wusste, nur dass er Angst vor der Zukunft hatte. Doch selbst in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht vorgestellt, dass der Krieg ein halbes Menschenalter dauern würde.“

Er betrachtete nachdenklich seine Hand. Die Erinnerung war immer gegenwärtig, und mit ihr das Gefühl, Alexandra Khlesls Hand in der seinen zu halten. Der Himmel war blau gewesen über Prag, das Gras im verwilderten Garten unterhalb der Burg warm vom Sonnenschein, und Alexandra hatte seinen Händedruck erwidert. Sie hatte ihn um Zeit gebeten. Er hatte gewusst, dass Zeit das Einzige war, das sie nicht hatten. Dennoch war der Augenblick vollkommen gewesen – und ein Augenblick geblieben. Er war verweht wie alle Hoffnungen damals, der Krieg möge doch nicht ausbrechen, oder er möge kurz sein, oder er möge nicht so schlimm werden.

Nein, korrigierte er sich. Es hatte noch einen zweiten Augenblick gegeben. Er hatte eine Nacht gedauert. Er hatte in ihm die unauslöschliche Sehnsucht geweckt, dass die Nähe, die zwischen ihnen in dieser Nacht geherrscht hatte, für immer andauern möge.

„Fast alle, die damals den Krieg gewollt haben, sind mittlerweile tot“, sagte er. „Gott sei ihren Seelen gnädig, wenn sie aus dem Fegefeuer herausschauen und sehen, was sie angerichtet haben: Kaiser Ferdinand, der damals noch König von Böhmen war; Kurfürst Friedrich von der Pfalz, den die protestantischen Stände zum böhmischen Gegenkönig zu Ferdinand gewählt haben und der dann der Winterkönig genannt wurde, weil er nur einen Winter lang die Krone trug; Colonna von Fels, Matthias von Thurn, Albrecht Smiřický, der noch im Herbst 1618 an einer Lungenentzündung starb, Graf Andreas von Schlick, der nach der Schlacht am Weißen Berg hingerichtet wurde, und die allesamt am Fenstersturz der königlichen Statthalter beteiligt waren … ist es nicht eine Ironie, dass die Männer, die sie damals töten wollten, Graf Martinitz, Wilhelm Slavata und Philipp Fabricius, dagegen noch leben …?“

„Gott hat die Protestanten bestraft. Sie haben den Krieg begonnen!“, meldete sich jemand.

Wenzel schüttelte den Kopf. „Begonnen? Wer will sagen, wer diesen Krieg begonnen hat? Martin Luther, weil er seine Thesen an die Kirche in Wittenberg schlug? Oder Papst Leo X., weil er mit dem Ablasshandel eine Perversion aus dem heiligsten christlichen Sakrament gemacht hat, nämlich der Buße, und Luther dagegen aufbegehrte?“

„Das ist über hundert Jahre her, ehrwürdiger Vater!“

„Manchmal braucht ein Krieg hundert Jahre, um wirklich auszubrechen. So gesehen sollten wir froh sein, dass er nach dreißig Jahren schon zu Ende ist, oder nicht, Brüder?“

„Glaubst du denn wirklich, dass es vorbei ist?“

„Die Vertreter aller Krieg führenden Mächte haben seit dem Spätherbst 1644 in Münster und Osnabrück verhandelt. Nachdem die Franzosen, allen voran ihr Kardinal Richelieu, die Friedensbemühungen von 1636 hintertrieben haben, sind sie jetzt diejenigen gewesen, die sich für die neuen Verhandlungen eingesetzt haben.“

„Ist das wirklich wahr, ehrwürdiger Vater?“, fragte einer der jungen Mönche aus der vorgeblichen Putzkolonne. „Die Gräueltaten sind doch nicht weniger geworden in den letzten Jahren, nach dem, was man so gehört hat. Das kann doch nicht sein, dass die Herren am Verhandlungstisch sitzen, und ihre Heere verwüsten weiterhin das Land!“

„Na ja“, Wenzel räusperte sich, „die Herren sind die Herren, nicht wahr? Kennst du nicht die Geschichte von den Bauern, die Wurzeln und alte Knollen und die Eicheln vom Vorjahr aus der Erde gruben, um ihre Kinder vorm Verhungern zu bewahren, als eine Jagdgesellschaft ihres Herzogs vorbeikam und sich dort zum Essen niederließ, wo die Bauern mit den bloßen Händen das Feld umpflügten?“

Der junge Mönch schüttelte den Kopf.

„Die Herzogin und die Hofdamen baten die Lakaien, die Bauern zu verjagen, weil ihr Anblick die Gemüter beleidigte.“

„Mögen sie alle in der Hölle braten!“, sagte der junge Mönch.

„Nein, möge Gott ihnen verzeihen und ihnen die Sünde vor Augen führen, die sie begangen haben.“

Der junge Mann schlug die Augen nieder. Keinem von ihnen waren die Kriegshandlungen und deren Begleiterscheinungen fremd. Das Kloster von Raigern lag vor den Toren Brünns. 1643 und nochmals 1645 hatten schwedische Truppen die Stadt belagert, letztlich erfolglos; doch noch heute zeugten leere Bauernhöfe, verbrannte Dörfer und abgeholzte Wälder in der weiteren Umgebung Brünns ebenso davon wie die ruinierte Sankt-Peters-Kirche auf dem Petershügel in der Stadt, die ausgebrannt und deren Türme von den Kanonen der Schweden zum Einsturz gebracht worden waren. Nicht wenige Novizen des Klosters waren Waisen, deren Eltern während der Belagerungen ermordet worden waren. Wenzel hatte die barmherzige Aufnahmepolitik seines Vorgängers Georg von Hornstein fortgesetzt, mit dem Ergebnis, dass ein großer Teil seiner Mönche die Schrecken des Krieges am eigenen Leib erfahren hatte und entschlossen war, weitere Schandtaten nicht mehr zuzulassen. Für Wenzels Ziele war es von Vorteil, dass man in halb Mähren überzeugt war, die Mönche von Raigern seien Charaktere, die sich nichts gefallen ließen.

Wenzel hatte die Politik Georg von Hornsteins auch noch in einem anderen Zusammenhang fortgesetzt, so wie dieser wiederum von seinem Vorgänger, Daniel Kavka, eine Aufgabe geerbt hatte. Vor Daniel Kavka war das jahrhundertealte Benediktinerkloster aufgelassen gewesen und seine Güter verkauft – die protestantischen Stände hatten nach 1618 auch im bislang halbwegs neutralen Mähren die Macht übernommen und sich an den katholischen Einrichtungen gerächt. Die Niederlage am Weißen Berg hatte diese kurzlebige Vorherrschaft gebrochen, und auch Raigern war wiederauferstanden; aber mit einer Aufgabe, die es bisher noch nicht innegehabt hatte. Wenzel holte Luft. Gleich nach seiner nie erloschenen Liebe zu Alexandra und seiner Loyalität seiner Familie gegenüber besaß ein ganz besonderer Trakt des Klosters sein Herz.

„Ich habe gehört“, erklärte einer, „dass man in irgendeiner Stadt Reisende erschlug und kochte und dass man die Toten aus den Gräbern holte und verzehrte.“

„Das ist ein Gerücht“, erklärten mehrere Stimmen gleichzeitig.

„Es gibt einen Brief des Rats der Stadt Coburg an den schwedischen Oberst Wrangel“, sagte Wenzel, nachdem die Zwischenrufe verstummt waren. „In dem heißt es, dass die Zustände in der Gegend so schlimm seien, dass Hunde, Katzen, Mäuse, Ratten, jegliches Aas, Bucheckern, Eicheln, sogar Gras verzehrt würden – und dass Mütter ihre todgeweihten Neugeborenen schlachteten und ihren Familien zu essen gäben. Ich habe das von unseren Brüdern in benedicto in Münsterschwarzach gehört.“

Sie sahen ihn mit großen Augen an. Im Hintergrund würgte jemand.

„In der Pfalz“, fuhr Wenzel unbarmherzig fort, „holen sie die verurteilten Verbrecher vom Galgen oder vom Rad, um sie zu verspeisen. Bei Worms wurde eine riesige Bande von Wegelagerern aufgestöbert; in ihren Kesseln fand man die Überreste von gekochten menschlichen Gliedmaßen.“

„O Herr, schenke ihnen allen den Frieden und deine Barmherzigkeit ...!“

„Amen“, sagte Wenzel. „Ich habe das nur erzählt, um euch allen bewusst zu machen, dass in diesem Krieg Gott auf keiner Seite steht. Wenn die Friedensverhandlungen erneut scheitern, ist dies das Ende von allem, was wir kennen. Seit die Verhandlungen begonnen haben, sind die Franzosen in Württemberg und Schwaben eingefallen und haben die Schweden hier bei uns und in Bayern gewütet wie Teufel in Menschengestalt, dass sogar Kurfürst Maximilian von Bayern die Seite von Kaiser Ferdinand verließ und mit den Schweden separate Friedensverhandlungen führte. Er hat den Waffenstillstand zwar sofort wieder gebrochen, als die Schweden sich zurückzogen, und sein Bündnis mit dem Kaiser erneuert, aber ihr seht, dass die Herren mittlerweile so weit sind, dass alle Loyalität und alle Konfession ihnen nichts mehr bedeuten.“

„Aber das ist doch gut, ehrwürdiger Vater, oder nicht? Wenn sie mit ihren Kräften am Ende sind …“

„Das habe ich nicht gesagt. Es steht eher zu befürchten, dass zuletzt alle gegeneinander kämpfen und dass alles, was jetzt noch verschont geblieben ist, in Flammen aufgeht. Sogar Kaiser Ferdinand, von allen Seiten bedrängt, hat noch versucht zu taktieren und sich zu winden und hat die Verhandlungen mit sinnlosen Forderungen verzögert ...“

„Herr, gib ihm Erleuchtung!“

„Wie ich gesagt habe – der Frieden ist zum Greifen nahe. Aber ihr seht, dass es gar nichts bedeutet, wenn die Herren miteinander verhandeln; das Sterben geht weiter. Kaiser Ferdinand will das Reich unbedingt erhalten und die Stellung seiner Dynastie sichern. Fast alles ist jetzt so weit, dass die Friedensverträge unterzeichnet werden können. Doch wenn etwas geschieht, das den Kaiser und seine Verbündeten fürchten lässt, dass man ihre Schwäche ausnutzen will, dass man vielleicht im letzten Moment noch versucht, dem Reich Ländereien abzujagen oder dass einer der Feldherren sich entschließt, noch Beute zu machen, bevor der Krieg vorüber ist und er seinen Schnitt noch nicht gemacht hat – dann flammen die Kämpfe erneut auf; und das wird dann der letzte Krieg sein, den die Menschen hier in Europa gegeneinander führen, weil danach niemand mehr übrig sein wird, der die Hand gegen seinen Nachbarn erheben kann.“

Sie starrten ihn erneut an. Wenzel stand auf und schob die halbgegessene Suppe beiseite.

„So sieht es aus“, sagte er abschließend. Er hob beide Hände und drehte sie mit den Handflächen nach oben. „Hier – Erlösung und Frieden. Hier – totale Vernichtung. Beten wir zum Herrn, dass nichts Unvorhergesehenes geschieht.“

Auf dem Weg nach draußen nahm Wenzel den Torhüter und den Kellermeister beiseite. „Wie lange habt ihr schon vor meiner Ankunft gewusst, dass ich zurückkomme?“

Der Torhüter lächelte verlegen. „Einen ganzen Tag, ehrwürdiger Vater.“

„Soso“, sagte Wenzel.

„Es wären eineinhalb Tage gewesen, ehrwürdiger Vater, wenn du nicht die halbe Nacht durchmarschiert wärst“, sagte der Torhüter, bevor ihn ein Rippenstoß des Kellermeisters zum Schweigen bringen konnte.

„Soso“, sagte Wenzel erneut. „Dann wisst ihr ja, was ihr zu tun habt.“

„Was, ehrwürdiger Vater?“

„Dass die Vorwarnung demnächst zwei Tage beträgt.“

Sie sahen Wenzel mit einem Schafslächeln an, das eine ganze Portion Stolz enthielt. Wenzel grinste zurück. Unwillkürlich dachte er an den alten Kardinal Melchior Khlesl, seinen Mentor. Der Kardinal war vor fast zwanzig Jahren gestorben. Wenzel war sicher, er hätte an diesen Halunken seine Freude gehabt.

„Übrigens“, sagte der Torhüter, „nähert sich noch jemand unserem Kloster. Ein einzelner Reiter. Er ist dir gefolgt, seit wir von ihm gehört haben.“

„Seinem Tempo nach müsste er in den nächsten Minuten hier eintreffen, wenn er nicht noch vorher angehalten hat, was wir aber nicht glauben, weil er es eilig zu haben scheint“, setzte der Kellermeister hinzu.

„Soso“, sagte Wenzel zum dritten Mal, ehrlich beeindruckt. „Freund oder Feind?“

„Das ließ sich leider nicht feststellen, ehrwürdiger Vater.“

„Und was wäre gewesen, wenn er mich eingeholt und über den Haufen geritten hätte?“

„Dann hätten wir mit eineinhalb Tagen Vorsprung darüber Bescheid gewusst, ehrwürdiger Vater.“

Ein Mönch kam mit schlappenden Sandalen in das Refektorium gerannt. „Ein Ankömmling, ehrwürdiger Vater!“, meldete er schnaufend.

Die beiden beamteten Brüder sahen sich an und strahlten vor Stolz.

„Wer?“, fragte Wenzel.

„Keine Ahnung“, sagte der Mönch. „Es ist ein Pferd ohne Reiter.“

„WAAS?“, bellte der Torhüter.

Wenzel zupfte seine Kutte zurecht. „Gehen wir nachsehen“, sagte er.

Wenzel trat beiseite, als die Brüder die Flügel des Eingangsportals aufdrückten und ins Freie hinausliefen, in Richtung auf die Klosterpforte. Sie merkten nicht, dass er zurückblieb. Als sich nach ein paar Augenblicken der eine Flügel des Portals langsam wieder nach vorn bewegte, hob er einen Fuß, an dem sich immer noch der Stiefel befand, mit dem zu marschieren es leichter fiel als mit den Sandalen, und trat mit voller Wucht zu. Der Türflügel schnappte auf und kollidierte mit etwas, das sich mit einem überraschten „Autsch!“ auf den Hosenboden setzte. Wenzel war um den Türflügel herum, bevor dieser Zeit hatte, ihm erneut entgegenzukommen.

„Du hast beinahe das Talent deines Vaters geerbt“, sagte er zu dem Mann, der vor ihm auf dem Boden saß und sich eine beginnende Beule an der Stirn rieb. Sein breitkrempiger Hut lag eindellt neben ihm auf dem Boden.

Melchior Khlesl, der jüngste Sohn von Cyprian und Agnes Khlesl, blickte auf und spähte dann über die Schulter zu den beiden Brüdern, die gemerkt hatten, dass etwas nicht stimmte, und sich beim Zurückrennen gegenseitig zu überholen versuchten.

„Ich dachte, eine kleine Überraschung würde euch und eurem friedlichen Klostertrott nur gut tun“, sagte er.

„Hier gibt es keinen friedlichen Klostertrott“, entgegnete Wenzel und streckte Melchior die Hand hin, der sich daran in die Höhe zog. Wenzel ging um ihn herum und hob seinen Hut auf. „Es ist alles in Ordnung“, sagte er zu den anderen. „Eine Prüfung für eure Wachsamkeit.“

„Wie haben wir abgeschnitten?“, fragte der Torhüter eifrig.

„Hervorragend“, brummte Melchior und rieb sich die Stirn. Wenzel betrachtete ihn aus dem Augenwinkel und lächelte. Melchior mit dem schlanken Wuchs, den langen Gliedern, dem hübschen Gesicht und dem kecken Kinnbart sah seinem Vater Cyprian in nichts ähnlich, und dennoch musste Wenzel manchmal blinzeln, wenn er ihn ansah, weil sich ständig Cyprians Anblick vor Melchiors schob. Er besaß die anscheinend ruhige Nachdenklichkeit seines Vaters, von der man sich täuschen lassen konnte, wenn man nicht in seine Augen sah und das lebhafte Blitzen darin erkannte. Vor allem aber war Cyprians Loyalität gegenüber seinem Onkel Kardinal Khlesl in Melchior wiedergeboren – als hätte die Namensgebung gar nichts anderes zugelassen. Nur dass das Gespann, in dem einer sich auf den anderen verließ, diesmal aus Probst Wenzel von Langenfels und Melchior Khlesl dem Jüngeren bestand.

„Du hättest mich ruhig einholen können, zu zweit marschiert es sich besser“, sagte Wenzel.

„Du hast mich abgehängt, als du beschlossen hattest, durch die halbe Nacht weiterzulaufen.“

„Gibt es Neuigkeiten?“

„Es gibt ein Gerücht, dass schwarze Mönche das Land unsicher machen … finstere Männer, völlig rücksichtslos, die jedem den Garaus machen, der sich ihnen in den Weg stellt, und die einen Menschen mit einem Blick und einem Fingerstupser töten können. Angeblich versteckt sich der Teufel selbst unter der Kutte des Anführers.“

„Davon habe ich noch nichts gehört“, erklärte Wenzel.

„Na, jetzt weißt du’s“, sagte Melchior mit unbewegtem Gesicht.

„Ich werde den Burschen aus dem Weg gehen. Was gibt es aus Prag zu berichten?“

„Nichts Gutes“, sagte Melchior.

Wenzel und Melchior wechselten Blicke. „Gehen wir in die Bibliothek“, sagte Wenzel und entließ seine Mönche mit einem freundlichen Kopfnicken.

Der Raum war riesig, eine Kathedrale der Bücher, ein Dom des Wissens, ein Tempel des geschriebenen Wortes. Säulenreihen stemmten eine Decke in die Höhe, die in einem weit ausgreifenden Bogengewölbe mindestens fünf Mannslängen hoch über dem Boden hing. Es gab die üblichen Tonröhren, die eingerollte Pergamentdokumente schützten, Stöße gelochten und mit Schnüren zusammengebundenen Papiers, die oben und unten von Holzdeckeln gehalten wurden, dicke, unförmige Lederbündel, in die zerfallende Codices eingehüllt waren. Es waren Tausende. Sie lehnten zu Stapeln geschichtet an den Wänden und bildeten kleine Gebirgslandschaften aus Gelehrigkeit, die sich vom Steinboden der Bibliothek erhoben.

„Weit seid ihr noch nicht gekommen“, sagte Melchior.

„Wir katalogisieren noch. Anfangs dachte ich, dass meine Vorgänger nicht genug Energie in die Bibliothek gesteckt hätten, weil sie immer noch so unordentlich aussah wie nach der Schlacht am Weißen Berg, als der König das Kloster an den Benediktinerorden zurückgab. Heute habe ich das Gefühl, dass sie sogar noch unordentlicher ist als damals vor fast dreißig Jahren.“

„Dein Gefühl täuscht dich nicht“, sagte Melchior.

„Na, vielen Dank.“

Es war dieser Klostertrakt, der Wenzels Herz erobert hatte; er und die Aufgabe, welche die Pröbste von Raigern übernommen hatten, seit Daniel Kavka das von protestantischen Eiferern verwüstete Kloster unter seine Obhut genommen hatte. Probst Daniel hatte damit angefangen, die Abtei zu einem Hort der Bücher zu machen, zu einer gewaltigen Bibliothek, für die das Benediktinerkloster nur die Hülle war. Ora et labora – für die Mönche von Raigern galt eher: Lies und arbeite! Daniel Kavka hatte seine Gemeinschaft durch Böhmen und Mähren gesandt und hatte sie Bestände aus Burgen retten lassen, die belagert wurden, aus Klöstern, die brannten, sogar aus kleinen Gutshöfen und Weilern, wo es nur ein einziges Buch gab, aus dem die Soldaten die meisten Seiten herausgerissen hatten, um sich die Hintern zu putzen, und wo dieses Buch zwischen den Erschlagenen lag, denen es einst gehört hatte – den Bewohnern der Höfe und Weiler. Kardinal Melchior Khlesl war notgedrungen auf diese Aktivitäten aufmerksam geworden. Er hatte damals mehr oder weniger schon im Sterben gelegen, aber er hatte Wenzel dazu überredet, in den Benediktinerorden einzutreten. Es war an dem Tag gewesen, an dem die Familien Khlesl und Langenfels die Hochzeit von Alexandra Khlesl mit Kryštof Rytíř gefeiert hatten. Wenzel hatte sich in die stille Kapelle des Hauses verkrochen, noch immer betäubt davon, dass er Alexandra nun endgültig verloren hatte, sein Herz entzweigerissen von der Tatsache, dass sie nicht einmal mit ihm gesprochen, sondern ihn einfach vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, seine Seele blutend, weil er nach jener einen Nacht gedacht hatte, sie hätten nun endlich zusammengefunden, und nun, keine zwei Monate später, stand sie mit dem Oberbuchhalter der Firma vor dem Altar, Kryštof Rytíř, der kein schlechter Kerl war, aber Alexandra gehörte doch ihm, Wenzel …

Kardinal Khlesl war auf einmal in der kleinen Kapelle gestanden, gestützt auf zwei Stöcke, sein Körper so fragil wie ein Gebilde aus Spinnweben, aber seine Augen so lebendig wie eh und je.

Willst du immer noch auf sie warten?, hatte der Kardinal gefragt.

Ich werde mein ganzes Leben auf sie warten, hatte Wenzel geantwortet.

Na gut, hatte der Kardinal gesagt. Dann habe ich in der Zwischenzeit etwas für dich zu tun.

Wenzel blinzelte. Melchior war an eines der Bücher herangetreten, hob es hoch, blies den Staub weg und ließ es wieder auf den Stapel fallen. Es gab ein dumpfes Geräusch.

„Es werden immer mehr“, sagte Wenzel. „Je mehr Häuser, Klöster und Schlösser verwüstet werden, desto mehr haben wir zu retten. Raigern ist eine Insel in der Barbarei geworden, Melchior, aber zu mehr als zum Sammeln und vor allem zum Beten, dass wir hier nicht auch noch Opfer des Krieges werden, reicht die Zeit nicht.“

„Du weißt natürlich, warum der alte Kardinal wollte, dass du hier irgendwann das Ruder in der Hand hältst.“

Meine zweite Aufgabe, dachte Wenzel. Die, von der kaum jemand hier weiß. In den letzten Jahren war die Bürde leicht zu tragen. Wird sie nun plötzlich ein Gewicht bekommen, das mich zerquetscht? Die Freude, Melchior zu sehen, verkümmerte endgültig angesichts der Beklemmung, die sich in Wenzel ausbreitete.

„Es ging ihm stets darum, dass sie sicher sei – und die Menschheit vor ihr.“

Melchior schenkte ihm einen Seitenblick. „Und? Ist sie sicher?“

„Nichts ist sicher in diesen Zeiten. Warum bist du hier?“

„Wolltest du den Advent hier in Raigern verbringen?“

„Soll das eine Einladung nach Prag sein?“

„Mama und Alexandra haben Prag vor drei Tagen verlassen.“

„Ich glaube, die beiden sind alt genug, um zu wissen, was sie tun“, sagte Wenzel und versuchte zu verbergen, dass sein Körper sich plötzlich angespannt hatte.

„Mama hat Alexandra dazu überredet, Lýdie zu helfen.“

„Was ist mit der Kleinen?“

„Nervenfieber. Karina fürchtet, dass sie sterben wird. Alexandra ist ihre letzte Hoffnung.“

„Aber … weshalb haben Agnes und Alexandra dann Prag verlassen …?“

„Karina und die Kleine sind bei der Rückreise aus Münster aufgehalten worden. Sie sind noch gar nicht in Prag eingetroffen.“

„Karina und die Kleine? Ist Andreas denn vorab zurückgereist?“

Melchiors Gesicht war demonstrativ unbewegt. „Nein, nein, der ist schon auch mit dabei.“

Wenzel ließ einige Sekunden verstreichen, doch Melchior schwieg. Cyprians ältestes und jüngstes Kind, Alexandra und Melchior, hatten beide seine Angewohnheit geerbt, bedeutsame Dinge eher durch Schweigen als durch Reden zu kommunizieren und einen dabei so lange anzusehen, bis einem die Augen tränten und man sich abwenden musste. Was Cyprian anging, konnte dieser ein Blickduell mit einem steinernen Wasserspeier gewinnen. Andreas hingegen, das mittlere Kind … manchmal fühlte Wenzel eine sonderbare Verbundenheit mit ihm, die weniger mit Zuneigung als mit der Tatsache zu tun hatte, dass Andreas so aus der Art geschlagen war, als sei er ein Fremder. Und dieser Gedanke schlug notgedrungen eine Saite in Wenzel an … Wenzel von Langenfels, das ewige Findelkind …

Die erbitterte Rivalität zwischen Andreas und Melchior erklärte sich jedoch nicht allein daraus, dass in Andreas eine Seite der Familie Khlesl wiedergeboren schien, die Gestalten hervorgebracht hatte wie Cyprians Vater, dessen Engherzigkeit den Sohn noch als Halbwüchsigen aus seinem Haus getrieben hatte, oder Cyprians älteren Bruder, der es geschafft hatte, die geerbte Bäckerei in Wien im Lauf seines Lebens zu ruinieren, nicht aus Faulheit, sondern aus dem völligen Unvermögen, auf andere Menschen einzugehen und schon gar nicht auf die Wünsche seiner Kunden. Wenzel hatte seine Vermutungen, was den Grund der Feindschaft betraf, umso mehr, da sie stets von dem ansonsten fröhlichen und gutmütigen Melchior ausging. Aber es hätte Daumenschrauben und spanischer Stiefel bedurft, um Wenzel auch nur erwägen zu lassen, sie jemals auszusprechen.

„Und wo sind sie?“, fragte Wenzel schließlich.

„In Würzburg.“

Wenzel hatte das Gefühl, dass die Kälte des Fußbodens in sein Herz stieg. „Ausgerechnet …“

Melchior nickte. „Im Herzen des Reichs, im Herzen der schlimmsten Verwüstungen des ganzen Kriegs, im Herzen eines Gerichtsverfahrens, das herausbekommen soll, ob neunhundert Menschen unschuldig auf den Scheiterhaufen gewandert sind oder ob es nicht etwa doch stimmt, dass alle Frauen, die mysteriöse Heilungen zuwege bringen, Hexen sind.“

„Verdammt“, sagte Wenzel und vergaß, sich dafür zu bekreuzigen.

„Du hast Einfluss – für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte“, meinte Melchior.

„Ich habe überhaupt keinen Einfluss.“

Melchior deutete auf die Kutte, die Wenzel auf seiner Reise getragen hatte, die Kutte, die so schwarz war, dass der normale dunkle Benediktinerhabit geradezu bunt daneben wirkte, die Kutte, für die es ein paar Jahrhunderte lang nur jeweils sieben Vorbilder gegeben hatte. „Doch, du hast.“

„Vade retro, satanas“, sagte Wenzel, doch es gelang ihm nicht, dabei zu lächeln.

Die Erbin der Teufelsbibel

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