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Wirtschaftslehre für Eilige
ОглавлениеWir haben soeben einen Überblick über die Geschichte der Wirtschaft gegeben – jener Systeme, durch die Menschen Reichtum schaffen und verteilen. Die Wirtschaftswissenschaft hingegen besteht aus Denkgebäuden, Ideen, Gleichungen und Annahmen, die beschreiben, wie diese Systeme funktionieren oder funktionieren sollten.7
Die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften beginnt viel später. Zwar können als erste Wirtschaftswissenschaftler antike griechische und indische Philosophen gelten, darunter Aristoteles (382–322 v. Chr.); sie schrieben über die »Kunst« des Erwerbs von Reichtum und fragten, ob Besitz am besten in den Händen von Privatleuten oder in den Händen einer Regierung liegen sollte, die im Namen des Volkes handelt. In den nächsten 2000 Jahren ist aber wenig wirklich Substantielles zu diesen Fragestellungen hinzugekommen.
Richtig in Gang kam das Nachdenken über Wirtschaft im 18. Jahrhundert: »Klassische« ökonomische Philosophen wie Adam Smith (1723–1790), Thomas Robert Malthus (1766–1834) und David Ricardo (1772–1823) führten grundlegende Konzepte ein wie Angebot und Nachfrage, Arbeitsteilung und das Gleichgewicht im internationalen Handel. Wie in so vielen Disziplinen standen die frühen Vertreter vor gänzlich unerforschtem Neuland und machten sich daran, ihren Forschungsgegenstand erst einmal zu kartieren. Spätere Forscher konnten die großen Linien dann in immer kleineren Schritten vervollkommnen.
Diese Pioniere begannen damit, die Naturgesetze aufzuklären, nach denen Volkswirtschaften tagtäglich funktionieren. Ihr Bestreben war es, aus der Wirtschaftslehre eine Wissenschaft zu machen, die sich gleichrangig neben den entstehenden Disziplinen Physik und Astronomie behaupten sollte.
Wie alle Denker müssen wir auch die klassischen Wirtschaftstheoretiker im Kontext ihrer Zeit betrachten, um sie richtig zu verstehen. Im 17. und 18. Jahrhundert geriet die europäische Machtstruktur unter Druck: Aus den Kolonien strömte Reichtum nach Europa, Kaufleute und Händler wurden reich, aber fühlten sich durch die überkommenen Privilegien des Adels und der Kirche zunehmend eingeengt. Die Wirtschaftsphilosophen hinterfragten die etablierten Privilegien des Adels, und sie bewunderten die Fähigkeit der Physiker, Biologen und Astronomen, die alten Lehren der Kirche zu widerlegen und durch Beobachtung und Experiment neue universelle »Gesetze« zu formulieren.
Die Physiker schoben biblische und aristotelische Lehrsätze, wie die Welt angeblich funktionierte, beiseite und untersuchten aktiv Naturphänomene wie die Gravitation und den Elektromagnetismus – Grundkräfte der Natur. Die Wirtschaftsphilosophen ihrerseits konnten auf den Preis als Schiedsrichter zwischen Angebot und Nachfrage verweisen, der überall eine viel wirkungsvollere Allokation von Ressourcen bewirkte, als menschliche Verwalter oder Bürokraten es je schafften. Das war doch wirklich ein ebenso universelles und unpersönliches Gesetz wie das der Gravitation! Isaac Newton hatte gezeigt, daß es mit den Bewegungen der Sterne und Planeten mehr auf sich hatte, als im Buch Genesis geschrieben stand; Adam Smith wies nach, daß Grundsätze und Praxis des Handels mehr Potential enthielten, als sich jemals durch die alten, förmlichen Beziehungen zwischen Fürsten und Bauern und zwischen den Angehörigen mittelalterlicher Zünfte hatte verwirklichen lassen.
Die klassischen Theoretiker wandten nach und nach mathematische Verfahren an und übernahmen teilweise naturwissenschaftliche Terminologie. Leider gelang es ihnen nicht, in die Wirtschaftswissenschaften auch solche Selbstkorrekturmechanismen zu integrieren, wie sie definitionsgemäß zu den Naturwissenschaften gehören. Die ökonomische Theorie erforderte keine falsifizierbaren Hypothesen und keine wiederholbaren, kontrollierten Experimente (die sich sowieso auf diesem Gebiet nur sehr schwer hätten organisieren lassen). Die Ökonomen fühlten sich zunehmend als Wissenschaftler, während ihre Disziplin ein Teil der Moralphilosophie blieb – und größtenteils bis heute geblieben ist.8
Die Vorstellungen der Wirtschaftsphilosophen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts bildeten den klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Liberalismus. Der Begriff liberal verweist in diesem Zusammenhang auf die Überzeugung, wirtschaftlich Verantwortliche sollten die Märkte frei und ungehindert wirken und die Preise festsetzen lassen, ohne Eingriffe von außen; auf diese Weise finde die Allokation von Gütern, Dienstleistungen und Reichtum statt. Daher stammt der Begriff laissez-faire (französisch für »geschehen lassen«, »tun lassen«).
In der Theorie war der Markt eine segensreiche Quasi-Gottheit, die unermüdlich für das Wohl jedes Einzelnen wirkte, indem sie die Gaben der Natur und die Erzeugnisse menschlicher Arbeitskraft so effizient und gerecht wie möglich verteilte. Aber faktisch profitierten nicht alle gleichmäßig oder (nach Ansicht vieler Menschen) gerecht von Kolonialherrschaft und Industrialisierung. Der Markt arbeitete vor allem zum Vorteil derjenigen, für die Geldverdienen das Wichtigste im Leben war (Bankiers, Händler, Industrielle und Investoren) und die zufällig auch noch klug waren und Glück hatten. Er funktionierte auch einigermaßen für alle, die reich geboren worden waren und es schafften, ihr Geburtsrecht nicht zu verspielen. Andere hingegen, denen mehr daran gelegen war, Feldfrüchte zu kultivieren, Kinder zu unterrichten, sich um alte Menschen zu kümmern, oder die durch die Umstände gezwungen waren, die eigene Landwirtschaft oder die Heimarbeit zugunsten von Fabrikarbeit aufzugeben, bekamen allem Anschein nach immer weniger – ganz sicher weniger von der gesamten Wirtschaftsleistung und oft auch weniger im absoluten Sinn. War das gerecht? Nun, das war eine moralische und philosophische Frage. Zur Verteidigung des Marktes sagten viele Ökonomen, es sei tatsächlich fair: Kaufleute und Fabrikbesitzer verdienten mehr Geld, weil sie allgemein die wirtschaftliche Tätigkeit steigerten, wovon auch alle anderen profitieren würden … irgendwann. Klar? Der Markt macht keine Fehler. Manchen klang das ein bißchen wie die Zirkelschlüsse mittelalterlicher Kleriker, wenn sie auf Zweifel an der Unfehlbarkeit der Schrift antworteten. Doch trotz ihrer blinden Flecken erwies sich die klassische Wirtschaftswissenschaft als nützlich, um einen Sinn in den unübersichtlichen Details von Geld und Märkten zu erkennen.
Vor allem hatten diese frühen Philosophen eine Ahnung von den natürlichen Grenzen und rechneten damit, daß das Wirtschaftswachstum irgendwann enden würde. Als die wesentlichen Bestandteile der Wirtschaft betrachteten sie Boden, Arbeitskraft und Kapital. Auf der Erde gab es nur eine bestimmte Menge Boden (mit dem Begriff meinten diese Theoretiker alle natürlichen Ressourcen), und ganz gewiß würde die Expansion der Wirtschaft an einem bestimmten Punkt enden. Malthus und Smith vertraten beide explizit diesen Standpunkt. Ein etwas späterer Wirtschaftsphilosoph, John Stuart Mill (1806–1873), formulierte es so: »Die Volkswirte müssen es stets mehr oder minder deutlich erkannt haben, daß die Zunahme des Nationalvermögens nicht unbegrenzt sei, daß am Ende des sogenannten progressiven Zustandes der stationäre Zustand liege …«9
Doch beginnend mit Adam Smith setzte sich der Gedanke durch, daß eine kontinuierliche »Verbesserung« der Lebenssituation der Menschen möglich sei. Zunächst blieb – vielleicht mit Absicht – vage, was »Verbesserung« (oder »Fortschritt«) bedeutete. Nach und nach wurden »Verbesserung« und »Fortschritt« gleichgesetzt mit »Wachstum« im heutigen ökonomischen Sinn des Wortes – abstrakt ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP), praktisch ein Anstieg des Konsums.
Ein Schlüssel zu dieser Veränderung war, daß die Ökonomen schrittweise den Boden als einen der theoretisch primären Bestandteile der Wirtschaft aufgaben (zunehmend waren nur Arbeit und Kapital wirklich wichtig, Boden wurde zu einer Unterkategorie von Kapital herabgestuft). Das war eine der Weiterentwicklungen, die aus der klassischen Ökonomie die neoklassische machten; außerdem gehören in diesen Zusammenhang die Theorie der Nutzenmaximierung und die Theorie der rationalen Entscheidungsfindung. Das Umdenken begann im 19. Jahrhundert und erreichte seinen Höhepunkt im 20. Jahrhundert mit der Arbeit von Ökonomen, die Modelle für unvollkommenen Wettbewerb und Theorien für Marktformen und industrielle Organisation erforschten und dabei Instrumente wie die Grenzertragskurve verwendeten. (In der Zeit galt die Ökonomie als die »trostlose Wissenschaft« – teils weil ihre Terminologie, vielleicht absichtlich, immer verwirrender wurde.)10
Unterdessen hatte jedoch der einflußreichste Ökonom des 19. Jahrhundert, ein Philosoph namens Karl Marx, eine metaphorische Bombe in das Fenster des von Adam Smith erbauten Hauses geworfen. In seinem einflußreichsten Buch, Das Kapital, schlug Marx einen Namen für das Wirtschaftssystem vor, das sich seit dem Mittelalter entwickelt hatte: Kapitalismus. Es war ein System, das auf Kapital gründete. Viele Menschen glauben, daß Kapital einfach ein anderes Wort für Geld sei, aber das verfehlt vollkommen den entscheidenden Punkt: Kapital ist Reichtum – Geld, Land, Gebäude, Maschinen –, der für die Produktion von noch mehr Reichtum eingesetzt wird. Wenn Sie Ihr Gehalt für die Miete, Lebensmittel und andere notwendige Dinge verwenden, haben Sie vielleicht gelegentlich Geld übrig, aber Sie haben kein Kapitel. Doch selbst wenn Sie tief in Schulden stecken, haben Sie Kapital, wenn Sie Aktien oder Anleihen besitzen oder einen Computer, mit dem Sie von zu Hause ein Gewerbe betreiben können.
Der Kapitalismus, wie Marx ihn definierte, ist ein System, bei dem sich produktiver Reichtum in privatem Besitz befindet. Im Kommunismus (den Marx als Alternative vorschlug) ist die Gemeinschaft oder der Staat im Namen des Volkes der Besitzer des produktiven Reichtums.
In jedem Fall, so Marx, tendiert das Kapital dazu, zu wachsen. Kapital in privatem Besitz muß wachsen: Weil die Kapitalisten untereinander im Wettbewerb stehen, tendieren diejenigen, die ihr Kapital schneller vermehren, dazu, das Kapital der anderen, die hinterherhinken, aufzusaugen. Insofern hat das System insgesamt einen eingebauten Expansionsdrang. Marx schrieb auch, der Kapitalismus sei seiner Natur nach nicht nachhaltig, denn wenn die Arbeiter durch die Kapitalisten weit genug in Armut getrieben sind, werden sie sich erheben, ihre Herren stürzen und einen kommunistischen Staat errichten (oder schließlich das Arbeiterparadies ohne Staat).
Der rücksichtslose Kapitalismus des 19. Jahrhunderts führte zu Phasen von Konjunktur und Krise und einem großen Ungleichgewicht bei der Verteilung des Reichtums – und deshalb zu viel gesellschaftlicher Unruhe. Mit Blick auf die Krise von 1873, den Crash von 1907 und schließlich die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hatten viele zeitgenössische Gesellschaftskommentatoren den Eindruck, der Kapitalismus sei in der Tat im Scheitern begriffen und soziale Erhebungen, wie von Marx prophezeit, seien unvermeidlich. Die bolschewistische Revolution 1917 schien diese Hoffnungen oder Befürchtungen (je nach Standpunkt des Betrachters) zu bestätigen.