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Wirtschaftswissenschaft im 20. Jahrhundert

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Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Sozialliberalismus als eine gemäßigte Antwort auf den reinen Kapitalismus wie auf den Marxismus. Die Pioniere des sozialliberalen Denkens, der Soziologe Lester F. Ward (1841–1913), der Psychologe William James (1842–1910), der Philosoph John Dewey (1859–1952) und der Arzt und Essayist Oliver Wendell Holmes (1809–1894), argumentierten, die Regierung habe die legitime wirtschaftliche Aufgabe, sich um soziale Belange wie Arbeitslosigkeit, Gesundheitswesen und Bildung zu kümmern. Die Sozialliberalen kritisierten die hemmungslose Konzentration von Reichtum in der Gesellschaft und die Lebensbedingungen von Fabrikarbeitern und bekundeten zugleich Sympathie für Gewerkschaften. Ihr übergeordnetes Ziel war es, die Dynamik des privaten Kapitals zu erhalten, aber seine Exzesse einzuschränken.

Nichtmarxistische Ökonomen kanalisierten die sozialliberalen Ideen in ökonomische Reformen wie die progressive Einkommensbesteuerung und das Kartellrecht. Der einflußreichste Vertreter dieser Schule im frühen 20. Jahrhundert war John Maynard Keynes (1883–1946). Er empfahl, wenn die Wirtschaft in eine Rezession gerät, solle die Regierung großzügig Geld ausgeben, um das Wachstum anzukurbeln. Franklin Roosevelts Programme im Rahmen des New Deal in den 1930er Jahren waren ein Labor für keynesianische Wirtschaftswissenschaft, und allgemein ist man der Meinung, daß die gewaltigen Kreditaufnahmen und Ausgaben der Regierung im Zweiten Weltkrieg die Weltwirtschaftskrise beendeten und die Vereinigten Staaten auf den Pfad des Wirtschaftswachstums zurückbrachten.

Die nächsten Jahrzehnte waren beherrscht vom Gegensatz zwischen keynesianischen Sozialliberalen, Anhängern von Marx und zeitweilig marginalisierten neoklassischen oder neoliberalen Ökonomen, die darauf beharrten, soziale Reformen, staatliche Kreditaufnahme und Manipulationen mit Zinssätzen würden nur die einzigartige Effizienz des freien Marktes behindern.

Mit dem Fall der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre verstummte der Marxismus als überzeugende Stimme in der Wirtschaftswissenschaft. Er verschwand praktisch aus der Diskussion, und das schuf Raum für den raschen Aufstieg der Neoliberalen, die schon seit geraumer Zeit Auftrieb aus dem verbreiteten Unbehagen über den Zwangscharakter und die Ineffizienz staatlicher Planwirtschaften zogen. Margaret Thatcher und Ronald Reagan stützten sich beide stark auf Empfehlungen neoliberaler Denker wie des Monetaristen Milton Friedman (1912–2006) und der Vertreter der Österreichischen Schule von Friedrich von Hayek (1899–1992).

Heute gibt es in Rußland eine Redensart: Marx hatte unrecht mit allem, was er über den Kommunismus sagte, aber er hatte recht mit allem, was er über den Kapitalismus schrieb. Seit den 1980er Jahren hat die nahezu weltweit zu beobachtende Rückkehr zum klassischen ökonomischen Denken zu wachsender Ungleichheit bei der Verteilung des Reichtums geführt, in den Vereinigten Staaten wie anderswo, und zu häufigeren und schlimmeren ökonomischen Blasen und Einbrüchen.

Das bringt uns zu der weltweiten Krise, die 2007/2008 begann. Um diese Zeit waren die beiden verbliebenen großen Lager des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams – die Keynesianer und die Neoliberalen – überzeugt, anhaltendes Wachstum sei das rationale und erreichbare Ziel einer Volkswirtschaft. Die Diskussion drehte sich nur darum, wie sich das Wachstum erhalten ließ: durch Intervention der Regierung oder durch Laissez-faire in der Annahme, der Markt wisse es immer am besten.

Doch im Jahr 2008 endete in vielen Ländern das Wirtschaftswachstum, und Versuche, es wieder in Gang zu bringen, hatten bisher nur begrenzten Erfolg. Tatsächlich fällt bei einigen Kennzahlen die US-Wirtschaft weiter zurück oder tritt bestenfalls auf der Stelle. Diese düstere Realität bringt beide ökonomische Lager in Schwierigkeiten. Sie ist eindeutig eine Herausforderung für die Neoliberalen, die mit ihrer Deregulierungspolitik maßgeblich dafür Verantwortung tragen, daß das System der Schattenbanken entstand, dessen Implosion allgemein als Auslöser der gegenwärtigen Wirtschaftskrise gesehen wird. Aber sie ist auch ein Problem für die Keynesianer, deren Konjunkturprogramme dabei versagt haben, mehr Beschäftigung zu schaffen und allgemein die Wirtschaft zu beleben. Wir haben also eine Krise nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der ökonomischen Theorie und Philosophie.

Der ideologische Zusammenprall zwischen Keynesianern und Neoliberalen (der bis zu einem gewissen Grad in dem eskalierenden Krieg bis aufs Messer zwischen Demokraten und Republikanern in den Vereinigten Staaten zum Ausdruck kommt) wird sich ohne Zweifel fortsetzen und sogar noch an Schärfe gewinnen. Die Auseinandersetzung wird allerdings wenig Erhellendes bringen, wenn beide Denkrichtungen an denselben grundlegenden Irrtümern festhalten. Ein solcher Irrtum ist der Glaube, Volkswirtschaften könnten und sollten immer weiter wachsen.

Doch dieser Irrtum beruht auf einem anderen, der noch tiefer reicht und subtiler ist. Daß nahezu alle nachklassischen Ökonomen Boden unter die Kategorie Kapital subsumierten, lief darauf hinaus zu erklären, die Natur sei lediglich eine Teilmenge der menschlichen Wirtschaft – eine unendliche Anhäufung von Ressourcen, die sich in Reichtum verwandeln lassen. Es bedeutete weiter, daß natürliche Ressourcen immer durch eine andere Form von Kapital ersetzt werden konnten – durch Geld oder Technik.11 Tatsächlich existiert jedoch die menschliche Wirtschaft innerhalb der Natur und hängt vollkommen von der Natur ab, und für viele natürliche Ressourcen gibt es keinen realistischen Ersatz. Dieser fundamentale logische und philosophische Fehler im Zentrum der maßgeblichen modernen ökonomischen Denkschulen führte die Gesellschaft direkt dahin, wo sie heute steht: in die Ära von Klimawandel und Ressourcenerschöpfung. Das Festhalten an diesem Fehler hat zur Folge, daß die konventionellen ökonomischen Theorien – keynesianischer wie neoliberaler Spielart – vollkommen unfähig sind, auf die ökonomischen und ökologischen Bedrohungen zu reagieren, die im 21. Jahrhundert das Überleben der Zivilisation gefährden.

Bei der Suche nach Unterstützung können wir uns den Ökonomen zuwenden, die sich mit ökologischen und biophysikalischen Fragen befassen – ihre Ideen werden wir in Kapitel 6 erörtern, von den Hohepriestern und Torwächtern des ökonomischen Mainstreams wurden sie vollkommen an den Rand gedrängt –, und bis zu einem gewissen Grad zwei ebenfalls marginalisierten Denkrichtungen, der Österreichischen Schule und dem Postkeynesianismus, deren Vertreter besonders gut waren bei der Vorhersage und Diagnose der rein finanziellen Aspekte der gegenwärtigen weltweiten Krise. Aber ihre Hilfe wird nicht in der Form kommen, wie viele es sich wünschen: als Rat, wie wir unsere Wirtschaft wieder in den »normalen« Zustand »gesunden« Wachstums zurückversetzen können. Auf die eine oder andere Weise wird unsere Wirtschaft schrumpfen müssen statt wachsen, entweder durch Planung und systematische Reform oder durch Kollaps und Krise.

1.2ABSURDITÄTEN DER KONVENTIONELLEN ÖKONOMISCHEN THEORIE

•Mainstream-Ökonomen berücksichtigen bei der Berechnung des Maßstabs für die wirtschaftliche Gesundheit eines Landes – des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – nur Transaktionen in Geld. Wenn ein Land glückliche Familien hat, spiegelt sich das im BIP nicht wider, aber wenn dieses Land von einem Krieg oder einer Naturkatastrophe heimgesucht wird, werden die monetären Transaktionen steigen, und das BIP wird in die Höhe schießen. Das generelle Wohlergehen eines Landes anhand des BIP zu kalkulieren ist ungefähr so sinnvoll, als würde man die Qualität eines Musikstücks nur danach beurteilen, wie viele Noten es enthält.

•Damit zusammen hängt eine weitere Absurdität, die Ökonomen »externe Effekte« nennen. Ein externer Effekt tritt auf, wenn Produktion oder Konsum einer Partei direkt das Wohlergehen einer anderen Partei beeinflussen, wobei »direkt« meint, daß der Effekt keinen Preis hat (er ist extern vom Markt). Der Schaden, den Abholzung und Bergbau an Ökosystemen anrichten, ist ein externer Effekt, weil er nicht in den Preis für Nutzholz und Kohle einfließt. Es gibt auch positive externe Effekte (wenn manche Menschen organischen Landbau betreiben, werden auch andere, die organische Nahrungsmittel weder anbauen noch essen, vom generellen Rückgang der Pestizidbelastung der Umwelt profitieren). Leider sind negative externe Effekte sehr viel häufiger, weil Unternehmen sie als wirtschaftliche Schlupflöcher nutzen, durch die sie jede denkbare Art von Verschmutzung und mißbräuchlicher Nutzung loswerden können. Die Unternehmen behalten die Gewinne und überlassen es der Gesellschaft, den Dreck zusammenzukehren.

•Mainstream-Ökonomen behandeln das Aufbrauchen von Ressourcen als Einkommen und ignorieren den Eigenwert der Ressourcen. Wenn der Besitzer eines alten Waldbestandes die Bäume fällt und das Holz verkauft, registriert der Markt vielleicht, daß der Wert des betreffenden Stückes Land sinkt, aber der sonstige ökologische Schaden gilt als externer Effekt. In diesem Fall wurden unersetzliche biologische Vermögenswerte liquidiert, das heißt, daß diese Werte für künftige Generationen verloren sind. Aus der Perspektive des Ökosystems verhält sich eine Volkswirtschaft, die die Ausbeutung nichterneuerbarer Ressourcen nicht massiv besteuert, wie ein Arbeitsloser, der eine Erbschaft verpulvert.

•Mainstream-Ökonomen betrachten die Menschen als Produzenten und Konsumenten – und sonst nichts. Das theoretische Einheit Wesen Homo oeconomicus handelt rational, um soviel Reichtum wie möglich zu erwerben und so viele Dinge wie möglich zu konsumieren. Großzügigkeit und Selbstbeschränkung sind (nach dieser Theorie) irrational. Anthropologische Belege für nichtökonomische Motive bei Menschen werden einfach beiseite gewischt. Leider tendieren die Menschen dazu (mindestens bis zu einem gewissen Grad), so zu handeln, wie man es von ihnen erwartet und wie sie konditioniert sind, und so wird der Homo oeconomicus zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

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