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Annehmen und Hinnehmen
ОглавлениеBei spirituellen Menschen kann man oft Missverständnisse um das Thema Annehmen beobachten. Sie haben schon so häufig davon gehört, dass es ums Annehmen geht, dass sie aktiv versuchen, alles anzunehmen, was ihnen widerfährt, auch das, was für sie nicht stimmt. Das führt zu einer subtilen Form von Unterdrükkung der eigenen Bedürfnisse und Grenzen. Sie verwechseln Annehmen mit Hinnehmen.
Eine Kobra hatte von ihrem Meditationslehrer eine
Unterweisung im Annehmen erhalten. Darauf beschloss
sie, Annehmen zu üben.
Am nächsten Morgen kam eine Frau in den Wald zum
Holzsammeln. Sie war sehr kurzsichtig. Als sie die Kobra
sah, dachte sie, es wäre eine Schnur, packte sie und
band damit ihr Bündel Holz zusammen. Es war sehr
unangenehm für die Kobra, aber sie bemühte sich sehr,
sich nichts anmerken zu lassen.
Als die Frau zu Hause angekommen war, knüpfte sie
ihr Bündel auf und warf die Kobra achtlos in die Ecke.
Die Kobra biss die Zähne zusammen und hielt still.
Nach einiger Zeit schlich sie unauffällig davon. Voller
blauer Flecken und Schrammen kroch sie in den Wald
zurück und traf den Meditationslehrer. „Was ist denn
mit dir passiert?“, fragte er, als er die Kobra so sah.
Da erzählte ihm die Kobra die ganze Geschichte über
ihre Bemühung, anzunehmen, und fragte ihn: „Hab ich
es richtig gemacht?“ Da sagte der Meditationslehrer:
„Nein, völlig falsch!“
ZEN-TRADITION
Annehmen bedeutet nicht, wie in der Kobrageschichte, gegen das eigene Wesen zu handeln.
Am leichtesten kann man den Unterschied zwischen Annehmen und Hinnehmen in Beziehungssituationen erkennen. Stell dir vor, du hast einen Konflikt mit deiner Partnerin. Sie will täglich mit dir schlafen und du willst das nicht. Heißt Annehmen hier, ihre Wünsche zu erfüllen?
Manche Menschen denken, dass Annehmen gleichbedeutend damit sei, alle eigenen Bedürfnisse und Standpunkte loszulassen. Dies würde bedeuten, sich selbst zu unterdrücken und völlig anzupassen.
Dabei vergessen sie, dass vollständige Offenheit und Annahme nicht nur nach außen gerichtet ist, sondern auch nach innen. Vollständige Offenheit bedeutet einerseits, das äußere Leben anzunehmen, so wie es sich gerade zeigt, und sich selbst anzunehmen, so wie wir gerade sind. Es geht also auch um das Annehmen des Widerspruchs oder der Unvereinbarkeit von innen und außen.
Für unser Beispiel würde wahre Offenheit bedeuten, sowohl den Wunsch der Partnerin anzunehmen, als auch unsere eigenen Grenzen ernst zu nehmen. Erst wenn wir die Unterschiedlichkeit anerkennen, können wir uns in stimmiger Weise auf die Partnerin beziehen.
Nur eine Offenheit, die Unvereinbarkeit zwischen verschiedenen Polen einschließt, lässt uns das Leben als lebendige Harmonie empfinden. Eine Harmonie, die keine Symbiose, keine Gleichmacherei braucht, sondern Raum bietet für Unterschiede und durch eben diese Polarität bereichert wird.
Übung: Annehmen und Hinnehmen
• Erinnere dich an eine Konfliktsituation in einer wichtigen Beziehung.
• Welche Pole hat der Konflikt?
• Wie ist deine typische Reaktion im Konflikt? Welchen Pol nimmst du nicht an? Wie machst du das?
• Wie wäre es, wenn du beide Pole vollständig annehmen könntest? Was hätte es für Auswirkungen auf dich, auf den Konflikt bzw. den Konfliktpartner?