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ОглавлениеUlm, 20. März 1557
Vier Tage waren sie unterwegs gewesen. In Memmingen und Dettingen hatten sie züchtig in Herbergen übernachtet. Anna spürte, dass Georg sich immer noch schwere Vorwürfe machte. Sie zeigte ihm ihre Nähe, indem sie ihn stets fest umarmte, wenn sie wieder hinter ihm auf dem Pferderücken saß. Seine Gedanken wollte sie jedoch nicht stören. An diesem Tag hatten sie so gut wie nichts miteinander gesprochen. Sie waren die Letzten, denen am Memminger Tor noch Einlass nach Ulm gewährt wurde. Kaum eine Menschenseele war zu sehen, als sie den braven Gaul über die Donaubrücke in die Stadt führten.
»Glaubst du denn, dass wir Caspar treffen werden?« Anna war müde und erschöpft, alle Knochen taten ihr weh. Nie zuvor in ihrem Leben war sie auf einem Pferd gesessen und jetzt ritt sie schon tagelang.
»Agatha Streicher weiß eigentlich immer, wo er sich aufhält. Ihr Haus befindet sich in der Langen Gasse, ganz nah am Münsterplatz. Ich war fünfzehn, als ich bei ihrem Vater zum ersten Mal Caspar gehört habe. Er hat mir den Weg gewiesen, dem ich heute noch folge.«
»Ich kann kaum laufen, Georg«, seufzte Anna. »Ich sehne mich nach einem Bett, aber die Nacht mit dir im Heustadel werde ich nie vergessen.«
Georg tat so, als hätte er es nicht gehört. »Agatha wird uns sicher Quartier gewähren.«
»Was macht denn diese Agatha so besonders?«
»Sie hat sich von ihrem Vater ein ungeheures Wissen erworben, obwohl sie nie an einer Universität war, und sie ist ein Engel. Sie hilft den Leuten, die von weit her zu ihr kommen«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, »und lebt das Schwenckfeldertum. Bei ihr ist das Zentrum der Gemeinde. Agatha steht seit vielen Jahren mit Caspar in Verbindung, der selbst immer wieder in ihrem Haus Gast ist.« Inzwischen waren sie vor dem Haus in der Langen Gasse angekommen.
»Ich hoffe«, sagte Anna, »dass sie uns weiterhelfen kann.«
»In Gottes Namen, so lass es uns versuchen.« Georg klopfte mit dem schweren Eisenring an die Tür. Gleich darauf öffnete sich ein Fenster.
»Wach auf, mein Seel!«, rief er hinauf.
»Lobsinge seinen Namen«, klang es verschlafen von oben. »Wer klopft denn um diese Zeit noch an?«
»Gnade und Friede im Herrn, Schwester. Ich bin Georg Mayer, Agathen bin ich sehr wohl bekannt. Das ist Jungfer Anna Dorn aus Kempten, wir sind seit vier Tagen auf der Flucht und bitten für eine Nacht um Quartier.«
Anna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Stellt das Pferd hinten in den Stall, der Knecht wird es versorgen. Wartet dort, ich komme hinunter!«
Georg bedankte sich und führte das Pferd in den hinteren Teil des herrschaftlichen Hauses, wo durch einen Bretterverschlag Licht schimmerte.
»Ich bin dir so dankbar, Georg, dass du mich mitgenommen hast.« Anna band ihr Bündel von den Satteltaschen los, während Georg das Pferd dem Knecht übergab, der mit qualmender Pfeife aus seinem Verschlag getreten war. Die Frau, die sie an den Stallknecht verwiesen hatte, kam auf sie zu und bat sie ins Haus. Sie trug einfache Kleidung und war vermutlich die Magd.
»Die Herrschaft will am Abend nicht gestört werden und wird euch morgen früh empfangen. Ich habe euch etwas zu essen hergerichtet.«
Mit einer Laterne und zwei Holztellern voller Speck, Wurst und Brot begleitete die Magd sie in das oberste Stockwerk des Hauses, wo in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern Betten bereitstanden.
Georg verabschiedete sich mit einer heftigen, aber betont kurzen Umarmung von Anna. Für sie fühlte es sich an, als wolle er sie sich vom Hals halten, sie war allerdings zu erschöpft, um länger darüber zu grübeln. Ihr ganzer Körper schmerzte, mehr aber tat es ihr in der Seele weh. Sie hatte sich das Ende des heutigen Tages etwas anders vorgestellt. Sie hatte wenigstens einmal noch eine Nacht mit ihm verbringen wollen, dieses Gefühl des Verschmelzens ein zweites Mal erleben oder zumindest neben ihm einschlafen, dem Mann, den sie bewunderte und verehrte, der sie aus den Zwängen des Sklavendaseins befreit hatte und ihr eine neue Perspektive geben würde. Sie seufzte und wandte sich schließlich ihrem Essen zu. Kurz darauf fiel sie gesättigt ins Bett, dachte sehnsüchtig an Georg und inmitten dieser Gedanken fielen ihr die Augen zu.
»Der Friede sei mit euch, seid willkommen in meinem Haus, das allen unseren Brüdern und Schwestern, die guten Willens sind, offen steht. Georg, wie schön, dich wiederzusehen.« Agatha Streicher umarmte Georg und begrüßte Anna ebenso herzlich.
»Lasst uns in die gute Stube gehen. Susanna, ihr habt sie gestern bereits kennengelernt, hat euch die Milchsuppe hergerichtet.« Sie betraten das Kaminzimmer und setzten sich an den riesigen Eichentisch, der vielen Gästen Platz bot.
»Erzähl, wie geht es dir, und was verschafft mir die Ehre eures Besuchs?«, wandte die Hausherrin sich an Georg, nachdem Susanna heißen Tee eingeschenkt hatte.
»Du weißt, Agatha, dass ich vieles unter meinem Pseudonym für Caspar verfasst habe. Seit vier Tagen bin ich ohne Anstellung, weil mich der neue Abt in Kempten nicht mehr ertragen konnte. Jungfer Anna Dorn hat sich mir angeschlossen. Sie denkt und lebt in unserem Geiste und ist auf der Flucht vor einem skrupellosen Wirt, von dem sie ausgebeutet wurde. Wir hoffen, dass du uns Caspars Aufenthaltsort nennen kannst. Es ist unser gemeinsames Ziel, dem Meister nah zu sein.«
Anna lächelte Georg zu, hoffte aber vergebens auf einen Blick der Zuneigung.
»Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass der Meister sich bei den Augsburger Rehlingern in Pilgerhausen8 auf einem der Einödhöfe versteckt hält. Ich werde einen Brief an Jacobus verfassen und euren Besuch anmelden.« Anna dachte an ihre nach wie vor schmerzenden Knochen und sah Georg auffordernd an. Er hatte ihren Blick offenbar verstanden.
»Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet, Agatha. Wenn du erlaubst, würden wir uns gerne einen weiteren Tag erholen, bevor wir die lange Reise antreten.«
Agatha Streicher lachte. »Bleibt, so lange es euch gefällt, und seht euch in Ulm ein wenig um, bevor ihr dort oben in den Wäldern mit Füchsen und Bären hausen werdet. Unsere Stadt hat einiges zu bieten.«
8 Von Schwenckfeldern verwendetes Synonym für Leeder.