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Leeder, 24. März 1557

Sie waren noch mehr als eine Wegstunde von Pilgerhausen entfernt, als ihnen bereits der rote Backsteinturm am Horizont die Richtung wies. Sie konnten den Ort nicht verfehlen.

»Unauffälliger hätte sich Caspar gar nicht verstecken können. In einem Ort mit so einem riesigen Kirchturm vermutet niemand Protestanten, und erst recht keine Schwenckfelder.« Seit sie am Spöttinger Ballenhaus vorbeigekommen waren, ging Georg zu Fuß neben dem Pferd her, während Anna im Sattel saß.

»Ich kann mich ja um deinen Haushalt kümmern. Wenn du dort eine Stelle als Prediger und Schulmeister bekommst, wird dir bestimmt auch eine Wohnung zugestanden.« Anna hatte sich bisher nicht mit Georgs Zurückweisung abgefunden.

»Das schlag dir aus dem Kopf, Anna! Das Konkubinat ist kein Weg für uns beide. Nur der gemeinsame Glaube wird uns für immer verbinden. Auf so einem Gut gibt es zahllose Möglichkeiten, sich nützlich zu machen, und jemand, der wie du keine Arbeit scheut, findet sicherlich etwas. Jacobus Rehlinger ist ein reicher Kaufmann, der in Augsburg sein Bürgerrecht aufgegeben hat, um sich dort oben in Leeder unbehelligt den Schriften Caspars widmen zu können. Er leistet sich wahrscheinlich ein großzügiges Gesindehaus.«

Anna verbarg ihre Enttäuschung und schwieg. Am späten Nachmittag trafen sie endlich ein. Sie hatte ein ungutes Gefühl, als das mächtige Schloss unterhalb der Kirche auftauchte.

Anscheinend wurden sie erwartet.

»Wach auf, mein Seel!«, rief ihnen ein Mann in schwarzem Talar freudig entgegen.

»Lobsinge seinen Namen«, antworteten Georg und Anna gleichzeitig, bevor sie das Tor erreichten.

»Das muss Jacobus sein«, erklärte Georg.

»Der Friede des Herrn sei mit euch beiden und geleite euch auf allen Wegen. Seid herzlich willkommen in Leeder. Deine Schriften sind meine tägliche Lektüre, Agricola. Ich freue mich wie ein Kind, dich leibhaftig vor mir zu haben! Das ist mein Sohn Emanuel«, stellte er einen jungen Mann vor, der zu ihnen getreten war. »Wir wollten es uns nicht nehmen lassen, dich und deine Begleiterin persönlich hier zu begrüßen.«

»Agricola?« Anna sah Georg verwundert an.

»Ich werde dir alles erklären«, versuchte er, sie zu beschwichtigen, und mit einem Schlag wurde ihr deutlich, wie bekannt Georg bereits durch seine Verteidigungsschriften für Caspar geworden war, wenn auch unter falschem Namen. Georg war berühmt. Und in seinem Leben war kein Platz für sie.

»Das ist Anna Dorn, ebenfalls aus Kempten«, stellte Georg sie vor. »Sie hat sehr früh ihre Eltern verloren und ist meine gelehrigste Schülerin. Sie hat mich gebeten, sie mitzunehmen. Wir ersuchen untertänigst und um der Barmherzigkeit des Herrn willen, bei euch aufgenommen zu werden.«

»Die Streicherin hat mich bereits benachrichtigt und es ist mir eine große Ehre, euch in meinen Besitztümern beherbergen zu dürfen.«

»Ich danke Euch von ganzem Herzen für Eure Gastfreundschaft. Gott vergelte es Euch tausendfach.« Anna ergriff Jacobus Rehlingers Hände und verneigte sich tief vor ihm.

»Wir haben zwei Zimmer hergerichtet. Mein Sohn Emanuel wird euch hinaufgeleiten. Es wird uns eine Freude sein, heute Abend gemeinsam mit euch zu speisen.«

Anna empfand es als wohltuend, in welch ruhigem Ton in diesem Haus miteinander gesprochen wurde, selbst den Bediensteten begegnete man respektvoll. Es ermutigte sie, eine Frage zu stellen: »Ist denn der Meister auch im Haus?«

»Caspar ist vor einigen Tagen unerwartet abgereist«, antwortete Emanuel. »Er wohnt meist nur ein paar Tage im Schloss und flüchtet sich anschließend auf einen der Höfe, wo er in Ruhe und Frieden seinen Studien nachgehen kann.«

Anna bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen.

In ein Gespräch mit Jacobus versunken, war Georg unten zurückgeblieben, während Emanuel sie in ihr Zimmer brachte. Sie hatte Georg verloren, war ihm unwichtig geworden, das spürte sie nur zu deutlich. Sie versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, doch selbst die Teppiche, Bilder und bemalten Teller, die überall an den Wänden hingen, konnten ihre Stimmung nicht verbessern. Schließlich fasste sie sich ein Herz. »Hast du den Meister schon oft gesehen?«, fragte sie Emanuel, als er vor einer Tür stehen blieb, die mit prächtigen Schnitzereien verziert war.

»Er war wie ein Familienmitglied. Seine Besuche wurden in letzter Zeit zwar seltener, aber als Kind habe ich oft auf seinem Schoß gesessen.«

»Darum beneide ich dich, Emanuel.«

Er öffnete die Tür, um ihr das Zimmer zu zeigen. Dabei sah sie ihm aus nächster Nähe in seine warmen hellbraunen Augen. Emanuel drehte sich rasch um und verabschiedete sich.

Anna warf ihre Sachen auf das Bett, zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster und blickte auf die schneebedeckten Berge in der Ferne. Auch wenn es ihr noch nicht vergönnt war, den Meister zu treffen, spürte sie in diesem Haus seinen Geist, eine tiefgründige Menschlichkeit und den Respekt untereinander. Auf dem Gut der Rehlinger herrschten kein Misstrauen, kein Hass und kein Befehlston, wie sie es jahrelang beim alten Blärsch erfahren hatte. Sie atmete tief durch. Diese Menschen waren Freunde. Sie wollte alles dafür tun, um hier ein Zuhause zu finden.

Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors

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