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Prolog

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Ulm, Unterstadt, am Vorabend zu Maria Magdalena1 1534

Tok … totok … totok, da war es wieder: das Klopfzeichen. Nino zuckte zusammen, obwohl es heute schon zum dritten Mal an die Tür pochte – er musste sich schnell in der Holztruhe verstecken, die dem Bett gegenüberstand. Als er nach dem Deckel griff, merkte er, dass er das Wichtigste für die nächste halbe Stunde vergessen hatte. Er rannte zum Bett zurück, langte unter das Kopfkissen und holte ein rotes Tuch hervor. Sofort war er wieder an der Truhe, hob den Deckel, sprang hinein und ließ ihn zufallen.

»Wenn du da drin nicht mucksmäuschenstill bist, setzt es Schläge«, hatte Mama gedroht. Nino presste sich das rote Tuch vor den Mund, um ja keinen Laut von sich zu geben. Die Truhe war gerade so lang, dass er sich hinlegen konnte.

Irgendwann hatte er aufgehört, durch die Luftlöcher das immer gleiche Schauspiel zu beobachten: Mama kam mit einem fremden Mann herein. Der Mann legte ein Geldstück auf den Tisch. Mama hob ihre Röcke und ließ sich darunter anfassen. Es machte ihr Spaß, denn sie lachte. Auch der Mann lachte und stöhnte. Dann ließ er die Hosen herunter und sie legten sich auf das Bett. Was dort passierte, konnte er durch die Luftlöcher nicht sehen. Er hörte jedoch ihre Laute. Die Schreie von Mama fand er jedes Mal widerwärtig.

Vater hätte das sicher nicht erlaubt. Der war Richter und kämpfte gegen das Böse und Schlechte. Aber Vater war seit seinem fünften Geburtstag verschwunden und hatte ihn und Mama zurückgelassen. Zuerst hatte seine Mutter geglaubt, dass er nur auf Reisen sei, doch er war bis heute nicht zurückgekommen. Seine Mutter erzählte überall, dass er ermordet worden sei, vielleicht von einem der üblen Burschen, die er in den Kerker gebracht hatte. Sie hatten jedenfalls die schöne große Wohnung am Münsterplatz verlassen müssen und lebten nun in diesem kleinen Dachzimmer im Gerberviertel, wo es im Winter bitterkalt war. Jetzt, im Sommer, war es unausstehlich heiß. Die toten Tierhäute an der Blau mussten trocknen, sie stanken so übel, dass man kaum atmen konnte. An so schwülen Tagen wie heute dachte Nino nur daran, schnell wieder aus der Kiste zu kommen.

»Oh, Wiga!« Der Ausruf holte ihn abrupt aus seinen Gedanken. Nie zuvor hatte er von irgendeinem der Männer den Namen seiner Mutter gehört. Das war kein Fremder. Diese Stimme kannte er. Schnell lugte er durch die Luftlöcher.

Das war der Pfarrer, der immer so lange von der Kanzel sprach und bei dem Mama jede Woche in dem großen Wandschrank kniete, um ihm ihre Sünden zu beichten. Nun stand dieser Mann nackt hier im Zimmer, war freundlich und zärtlich zu ihr – und sie zu ihm. Seine Mutter zog sich langsam aus und fiel diesem Mann um den Hals. Das hatte sie früher nur bei Vater gemacht. Der Mann legte auch kein Geldstück auf den Tisch, sondern schenkte ihr ein kleines Kästchen, über das sie sich offenbar sehr freute. Was anschließend im Bett passierte, das Nino normalerweise mit seiner Mutter teilte, konnte er wieder nicht sehen. Zuerst hörte er Stöhnen, dann lange Zeit Stille und schließlich die Stimme, die er von der Kanzel kannte: »Martinus, ich danke dir!«

»Wen meinst du?«

»Meinen werten Herrn Collega aus Wittenberg.«

»Erklär dich deutlicher.«

»Dem Luther hab ich recht eigentlich die Freuden mit dir zu verdanken. Denk nach, Wiga. Ohne den großen Reformator wäre dein Mann nie Protestant geworden, dich hätte dein unkeuscher Broterwerb nie in meinen Beichtstuhl getrieben, und ich wäre nie in deinem Bett zu solchen Freuden gekommen.«

»Aber dass jetzt die heilige Messe in Ulm verboten ist, kümmert dich wohl überhaupt nicht, Mann Gottes?«, fragte seine Mutter und lachte.

»Dein warmer Leib ist mir lieber.«

»Sacrilegium!«

»Nicht unter diesen gottlosen Umständen! Lass uns diesen ruchlosen Ort verlassen, wo Calvinisten, Lutheraner und Schwenckfelder die Luft verpesten. Komm mit mir dahin, wo uns niemand kennt und die Leute noch den wahren Glauben leben. Keine Einwände! Ich richte dir in der Nähe meiner neuen Gemeinde eine Unterkunft ein. Du wirst dieses Loch schnell vergessen.«

»Aber ich bin eine verheiratete Frau, Herr Pfarrer!«

»Erstens ist dein Mann Protestant geworden, eine solche Ehe kann man gar nicht brechen, weil dieses Sakrament nicht mehr gültig ist. Und zweitens ist der schöne Herr Richter mit einer Lutherischen gesehen worden. Von dem hast du nichts zu erwarten.«

Nach einer Pause flüsterte er: »Und was ist mit …?« Seine Stimme war kaum hörbar.

Nino wusste sofort, dass es um ihn ging.

»Er ist bei einer Nachbarin«, log seine Mutter.

Am liebsten hätte er gegen die Truhe geschlagen. Wenn er log, setzte es Hiebe.

»Für die Frucht deines Leibes wird die Mutter Kirche sorgen. Wenn du ihn wirklich loswerden willst, dann steht ihm eine glänzende Zukunft bevor.«

»Ich verstehe nicht.«

»Wenn du dich mir ganz und gar anvertraust, sorge ich dafür, dass er in strenger Zucht zu einem keuschen Mitglied der katholischen Kirche erzogen wird. Du kannst Gott kein größeres Geschenk machen als deinen Sohn. Das wäre der Ablass für all deine Sünden, meine Schöne! Die du bereits begangen hast und die da hoffentlich noch kommen werden!« Er lachte und erhob sich.

»Aber er ist doch noch so klein!«

»Er muss weg, je schneller, desto besser!«

Stämmige Beine näherten sich der Truhe. Nino presste sich ängstlich auf den Boden. Der Deckel ächzte unter dem Gewicht des Pfarrers und in Ninos Ohren dröhnte es, als der Mann mit der Faust auf die Truhe schlug und ein weiteres Lachen ausstieß.

»Ein Kind zu Gottes Ehren und unserer Lust! Am Ende bringt dein Balg es vielleicht sogar noch zum Bischof oder Kardinal und ich beichte ihm mein eigenes unkeusches Leben. Ist das nicht eine herrliche, eine geradezu göttliche Schnurrpfeiferei?«

Im nächsten Moment war der Pfarrer zurück im Bett. Das Stöhnen drang nicht durch Ninos Gedanken, die immer quälender wurden:

Warum? Warum, Mutter? Er war doch ganz still geblieben, hatte sich nicht gerührt. Sie wollte ihn nicht mehr bei sich haben. Er war doch immer lieb zu ihr gewesen, hatte sich ganz klein gemacht. Er hatte nichts falsch gemacht und sie trotzdem verloren. Es hatte keinen Sinn, lieb zu sein. Mama würde mit dem Mann von der Kanzel gehen und ihn alleinlassen – so wie sein Vater. Er nahm das rote Tuch, vergrub sein Gesicht darin; alles in ihm und um ihn wurde finster.

*

Ulm, Oberstadt, 21. Juli 1534

Tok … totok … totok, der schwere Eisenring mit der Schlange des Asklepios schlug auf die Metallplatte. Georg stand vor Taddäus Streichers Haus und wartete. Klopfzeichen und Losungswort hatte ihm ein Kommilitone anvertraut. Die Sonne war bereits hinter dem Münster verschwunden und die Straßen Ulms leerten sich allmählich.

Was für ein kluges Versteck sich diese Schwenckfelder gewählt haben, dachte er und lächelte. Das Haus eines Arztes können einzelne, ja sogar kleine Gruppen von Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit unauffällig aufsuchen.

Ganz wohl war ihm nicht beim Gedanken an die bevorstehende Zusammenkunft, schließlich gehörte er nicht zu den Anhängern dieser Gemeinschaft. Vielleicht würden sie ihn als Katholiken gar nicht einlassen? Andererseits würde er nur dann Antworten auf das erhalten, was ihn innerlich seit Langem umtrieb, wenn er neue Wege ging.

Solange er denken konnte, hatte er einen Riss gefühlt. Erst in der eigenen Familie, später in seiner Gemeinde, und je mehr er seinen Horizont erweiterte, desto tiefer und schmerzlicher empfand er ihn. Er konnte und wollte sich nicht damit abfinden, dass Menschen, die sich auf Christus beriefen, sich um Gottes willen bekriegten. Der absurde Wahnsinn darin hatte ihn schwindlig gemacht, als sein damals kindlicher Geist sich um diesen Punkt gedreht hatte. Die eigentliche Botschaft der Bibel war zur Nebensächlichkeit geraten. Georg kannte die Worte Jesu und die Forderung, ein Friedensreich zu bauen: Und dieses Friedensreich muss zuerst im Inneren der Menschen Gestalt annehmen, bevor es auch im Äußeren wächst. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.

Das, was Georg von den Kanzeln entgegengeschleudert wurde, waren nicht die Worte Jesu, sondern Angriffe und gegenseitige Schuldzuweisungen der Vertreter beider Kirchen. Wenn er für sich die Worte Jesu las, fühlte er sich Gott nahe, doch andere wollten sich als Vermittler zwischen ihn und den Herrn schieben. Warum sollte ein Mensch nicht selbst mit seinem Schöpfer in Kontakt treten können? Protestanten kämen ohne diese Vermittler aus, jedenfalls hatte man ihm das erzählt. Aber er wollte sich selbst ein Bild machen.

Was hatte er nicht alles auf sich genommen, um die berühmtesten Prediger des Landes zu hören, in Augsburg Michael Cellarius und in Mainz den Domprediger Johann Wild. Beide hatten ihn enttäuscht, denn eines war ihnen gemeinsam: Sie waren Eiferer, die neben sich nichts gelten ließen. Der Katholik verdammte jede Meinung, die nur um Haaresbreite von den Dogmen abwich, gab Juden, Türken und Hexen die Schuld am Zerfall der Kirche, und der Protestant rief dazu auf, Bauern abzuschlachten, die sich mit Bezug auf das Evangelium aus der Leibeigenschaft befreien wollten. Wo wurde denn Jesu Wort tagtäglich gelebt? In den Klöstern? Im Vatikan? Um Gottes willen! Fast hätte er laut gelacht, dass er sich über die Eiferer ereiferte.

Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen! Ja, der Glaube, es ging nicht mehr um den Glauben, sondern um die Macht und den Anspruch, den einzig wahren Glauben zu besitzen.

Irgendwann hatte er von ihm gehört, diesem Schwenck­felder. Man sagte ihm nach, er ziehe wie Jesus ohne Besitz durch die Lande, wohne bei Freunden und berufe sich ausschließlich auf das Evangelium. Als Georg ihm nachforschen wollte, hatte er wenig über den schlesischen Prediger erfahren können, schon gar nichts Geschriebenes, obwohl ihm mit seinen fünfzehn Jahren endlich der Weg zu einem Studium offenstand und er Zugang zu Bibliotheken hatte. Erst in einem vertraulichen Gespräch hatte ihm ein Kommilitone den Weg zu dieser Tür gewiesen. Hinter der regte sich aber nichts. Vielleicht hatte man sein Klopfen nicht gehört. Er nahm den Eisenring und schlug ihn noch einmal auf das Metall.

Die Tür wurde diesmal einen Spaltbreit geöffnet. »Wach auf, mein Seel!«, meldete sich eine freundliche Stimme.

Nach einigen Augenblicken begriff er, dass seine Antwort erwartet wurde. »Lobpreise – nein – lobsinge seinen Namen! Ich bin Georg Mayer und möchte zum Meister vorgelassen werden.«

»Na, dann kommt herein, aber seid leise. Der Meister spricht bereits.« Eine junge Bedienstete öffnete ihm die Tür.

Ehrfürchtig betrat Georg das Haus des berühmten Arztes. Das Mädchen führte ihn durch etliche Gänge und über mehrere Treppen hinunter ins Kellergeschoss. Modriger Geruch zog ihm in die Nase, und er verdrängte das aufkommende Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun.

Kurz darauf blieben sie vor einem schweren Vorhang stehen und er hörte zum ersten Mal die Stimme: durchdringend und gleichzeitig sanftmütig. Wie in einen unsichtbaren Sog geraten, wollte er nur noch den Menschen sehen, der so viel Wohlklang verbreitete.

Die Bedienstete legte den Zeigefinger auf ihren Mund und schob den Vorhang zurück. Alles, was Georg sah, war eine dichte Menschentraube, die den Prediger umgab wie ein Bienenvolk seine Königin.

»… Brüder und Schwestern im Herrn! Tragt das Reich Gottes in eurem Herzen und nicht vor euch her. Liturgie, Feierlichkeit, Messgewänder und Posaunenblasen von den Türmen mögen eure Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen, aber auch die Liebe zu eurem Nächsten? Gottesliebe ist Nächstenliebe. Jesus spricht die Menschen an, wie sie sind: in ihrer Armut, ihrem Hunger, ihrer Trauer, ihrer Verfolgung. Und in Matthäus fünfundzwanzig hat er uns erklärt, was das heißt: Wer zu mir gehören will, der muss den Hunger bekämpfen, den Menschen zu trinken geben, den Obdachlosen eine Wohnung, Flüchtende aufnehmen, den Frierenden Kleider geben, Kranke pflegen und Gefangene besuchen. Vier Kirchen: Die päpstische, die lutherische, die zwinglische und die täuferische verfluchen sich untereinander, im Streit, welche nun die wahre Kirche Christi sei. Wir aber wollen niemanden verdammen und mit Petrus antworten, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern wer ihn fürchtet und ihm gehorcht, der ist ihm angenehm. Vor Gott werden diejenigen nicht ausgeschlossen und nicht verdammt sein, die im Gehorsam mit Christus leben und ihm nachfolgen. Wir haben hier keine bleibende Statt, darum lasst uns die zukünftige suchen. Jesus hat auf Plätzen, im Kreise seiner Freunde und auf dem Berg gepredigt: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen.«

Georg hörte gebannt die Worte und es schien ihm, dass die Anwesenheit dieses Mannes den Saal in einen Ort der Erleuchtung, des Friedens und der Zuversicht verwandelte. Endlich ging es nicht um das Verdammen Andersdenkender. Ein Mensch, der wie Jesus die Liebe und den Frieden predigt und deshalb von der Amtskirche als gefährlich erachtet und verfolgt wird. Georg war so in seinen Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie jemand ein Lied anstimmte.

»Freut euch des Herrn, ihr Christen all!

Ihr Frommen sollt Gott preisen

Ein neues Lied lasset erschall’n,

dankt ihm alle Weisen.

Von ganzem Herzen, ganzer Seel;

Preist ihn und macht der Freuden viel,

zu Lob und Ruhm dem Herrn.«

Die Schwenckfelder sangen voller Inbrunst.

Dass die Gemeinde sang, dazu noch auf Deutsch, war Georg völlig fremd. In seiner katholischen Kirche war die Gemeinde nur Zuschauer, Priester und Mönche sangen und zelebrierten. Aber wie doch ein gemeinsam gesungenes Lied in der Lage war, eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, ergriff Georg in seinem Innersten.

Aufgeregte Stimmen vor einer Tür, die anscheinend einen weiteren Zugang zu dem Haus gewährte, holten ihn aus seiner Einkehr.

»Sie haben unseren Freund Melchior ins Gefängnis geworfen, sie machen Ernst, bald sind wir alle an der Reihe!«, rief ein völlig aufgelöster junger Mann und drängte sich an Georg vorbei durch die verstörte Menge.

»Lasst ihn durch!«

»Es ist einer von uns.«

»Der Himmel steh uns bei!«

Die Unruhe unter den Schwenckfeldern wurde größer und die Leute riefen wild durcheinander. Durch die Gasse, die sich um den Jungen gebildet hatte, sah Georg den Prediger zum ersten Mal. Er saß vollkommen ruhig da, in ein einfaches Gewand gekleidet, eher klein von Gestalt, mit einem Bart, der ihm bis an die Brust reichte. Caspar Schwenckfeld erhob sich, winkte den Jungen zu sich und streckte ihm die Arme entgegen. Als dieser die dargereichte Hand Caspars nahm, ging ein Aufschrei durch die Menge: Man hatte seine Finger zerquetscht, blutige Fetzen hingen herunter.

»Sie haben Melchior und mich gefoltert, seht meine Hände an! Meister, verzeiht mir, ich bin schwach geworden! Ich habe alles gestanden und Euch verraten. Es kann nicht lange dauern und sie stehen auch vor dieser Tür. Ihr müsst fliehen«, schluchzte der Junge.

Ein Tuscheln ging durch den Raum, aber scheinbar breitete sich keine Angst unter den Leuten aus. Georg bewunderte die Gelassenheit der Schwenckfelder.

»Bringt heißes Wasser, Wundsalbe und Binden!«, rief jemand, anscheinend war es der Hausherr.

Georg beobachtete, wie sich der Junge vor Caspar kniete und dieser ihm über das Haupt strich.

»Simon Petrus hat unseren Herrn dreimal verleugnet«, verkündete er unbeirrt. »Und trotzdem hat Jesus ihm den Auftrag erteilt: Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam!2 Petrus bleibt auch als Sünder der Fels der Kirche. Gott richtet nicht über ihn, obwohl er ihm das Bekenntnis verweigert hat. Simul iustus et peccator!3 Du hast keine Schuld auf dich geladen. Geh hin in Frieden und verkünde in Zukunft deinen Glauben. Mein Freund Taddäus wird deine Wunden behandeln!« Caspar Schwenckfeld segnete den Jungen, streifte sich das schlichte Holzkreuz über den Kopf und hängte es ihm um. Dann führte eine Bedienstete des Arztes den Jungen hinaus. »Möge Melchior standhaft bleiben im Glauben und Zeugnis ablegen, der Herr wird es ihm lohnen.«

»Gott stehe ihm bei!«

»Der Herr möge ihn befreien!«

»Gott segne ihn«, murmelte die Gemeinde durcheinander.

»Habt keine Angst vor den Menschen, die euch nach dem irdischen Leben trachten«, nahm Caspar erneut das Wort, als gäbe es keine Gefahr. »Bereitet euch auf das himmlische Leben vor, das in Ewigkeit währt. Wehret hingegen dem Bösen, das euer Seelenheil gefährdet. Geht in eure Häuser und lebt den Geist Gottes in eurem Inneren. Legt Zeugnis ab und verbreitet euren Glauben weiter an eure Kinder und Kindeskinder. Gehet, ihr seid entlassen. Amen.«

Georg war sich sicher, dass nur ein heiliger Mann so über den irdischen Dingen stehen konnte, wie Caspar Schwenck­feld es vermochte.

Schnell war der Prediger wieder von seinen Anhängern umringt und schüttelte die vielen Hände.

»Ich möchte auch den Propheten anschauen«, flüsterte ein kleines Mädchen mit langen blonden Zöpfen, zerrte an Georgs Wams und sah ihn flehend mit großen Kinderaugen an. »Kannst du mich nicht ein wenig hochheben, damit ich auch etwas sehe?«

»Na, dann komm!« Georg nahm die Kleine auf seine Schultern.

»Bist du ganz allein hier? Wie heißt du denn?«, fragte er, während sie sich an seinem Kopf festhielt.

»Ich bin Agatha, mein Vater ist ein Medicus und das ist unser Haus.«

»Dann bist du eine Streicherin und dein Vater Taddäus Streicher?«

»So ist es. Und wer bist du?«

»Ich bin Georg Mayer, Student und …« Weiter kam Georg nicht, denn die Kleine strampelte aufgeregt mit den Beinen gegen seine Brust.

»Lass mich schnell runter, der Prophet kommt und ich muss ihm die Hand geben, hat meine Mutter gesagt!« Die Kleine lief davon und er verlor sie aus den Augen. Georg wusste nicht, wie ihm geschah, plötzlich kam Caspar Schwenckfeld auf ihn zu, blieb direkt vor ihm stehen und sah ihn an. Er hatte nur zuhören wollen, jetzt fühlte er sich wie ein ertappter Eindringling. Doch in dem Moment, in dem ihn der Blick dieser gütigen und sanften Augen traf, wich das Gefühl von ihm und Georg war überwältigt. Die Zeit schien stillzustehen. Der Meister legte ihm seinen Arm auf die Schulter.

»Du bist auf der Suche«, sprach er, als könne er in Georgs Innerstes blicken. »Nur wer zweifelt, kann Gott wirklich nahekommen, denn der Weg zu ihm ist steinig und unwegsam.« Nun sah er Georg direkt in die Augen. »So sehr liebst du Gott? Du bist ohne Furcht und reinen Herzens, also hilf mir, mein Feld zu bestellen. Tu es Theophilus et Agricola.4« Ein Lächeln glitt über die Wangen Caspar Schwenckfelds.

Georg stand wie angewurzelt da, konnte nichts antworten. Eine Erleuchtung war über ihn gekommen. Er nahm gar nicht mehr wahr, wie er mit den anderen die steile Treppe hinaufging. Erst als er wieder hinaus in die abendliche Kühle trat, entglitt ihm ein tiefer Seufzer und er flüsterte: »Aber sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund!« Gott meint es ernst mit mir. Er hat mich zu diesem Prediger geführt. Jetzt gehöre ich innerlich zu ihm, wie all die anderen Zweifler, die vom Wittenberger Enttäuschten, die der Päpstlichen und deren Gefolgschaft Überdrüssigen sowie die Unschlüssigen und die religiös Heimatlosen. Aber wo wird meine Heimat sein?


Wache auff/ Meine

Seele/ klinge vnd ſchal-

le Muſica vnd Seiten Spiel/

Frühe wil ich auffwachen/ Deß

Herren Namen rühmen/ Vnd

des Abends wil ich frölich ſein.

Gott/ ich wil dir dancken vnter

den Völckern/ Jch wil dir Lob-

ſingen vnter den Leuten. Denn

deine Gütte erſtrecket ſich/ ſo

weit der Himmel iſt/ vnd deine

Warheit/ ſo weit die Wolcken

gehen. Der Herr hat groſſe

Ding an mir gethan/ der da

mächtig iſt/ vnd deß Nahme heylig iſt.


Aus »Gebete Caspar Schwenckfelds«

1 22. Juli

2 Du bist Petrus (der Fels), und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen!

3 Zugleich gerecht und Sünder!

4 Du bist Theophilus (ein Gottliebender) und Agricola (der Feldbesteller).

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