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ОглавлениеLeeder, Januar 1558
Fast ein Jahr war vergangen seit ihrer Ankunft in Pilgerhausen. Anna war richtiggehend aufgeblüht. Fast jeden Abend saß sie im Kreis der Leederer Schwenckfelder. Sie sangen und beteten, und Anna durfte die zahlreichen Bücher benutzen, die Jacobus während vieler Jahre zusammengetragen hatte. Emanuel war immer in ihrer Nähe. Sie redeten und diskutierten oft bis spät in die Nacht hinein und Anna hatte den Eindruck, dass er sie verehrte und bewunderte. Es entwickelte sich eine gegenseitige tiefe Zuneigung, von der Anna überzeugt war, dass daraus Liebe werden würde. Emanuels Blicke zeigten ihr mehr, als er mit Worten auszudrücken in der Lage schien.
Georg hingegen war allein in ein Haus unten im Dorf gezogen, um sich seinen Verteidigungsschriften zu widmen. Trotzdem war Anna glücklich. Georg blieb ihr ein guter Freund. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie hier sein durfte, weg von den lüsternen Laffen und den besoffenen Säcken im »Raben«. Sie hätte sich auch als Bedienstete im Schloss verdingt, aber Jacobus Rehlinger hatte sie schon nach wenigen Tagen zur Seite genommen und ihr versichert: »Du bist eine von uns, Anna!«
Und als sie ihm eines Tages erklären wollte, dass sie ja keine Eltern hätte und deswegen ehr- und rechtlos sei, entgegnete Jacobus: »Hör auf, dir über Stand und Herkunft Gedanken zu machen! Wir Schwenckfelder machen keine Standesunterschiede, jeder Mensch ist ein Geschöpf des Allmächtigen und steht mit seinem Leben und Tun in eigener Verantwortung.«
»Wenn nur alle Menschen so denken würden wie du, Jacobus, dann gäbe es keinen Zwist und Streit untereinander«, hatte Anna erwidert.
An diesem kalten Winterabend saß Jacobus in seinem Sessel vor dem offenen Kamin und ließ sich von Anna vorlesen. Sie hatte ihm das vor einiger Zeit angeboten, als sie bemerkt hatte, dass seine Sehkraft langsam schlechter wurde. Nach einer Weile nahm er ihr das offene Buch weg, legte es zur Seite, ergriff ihre Hand und schaute ihr tief in die Augen.
»Lass mich dich unterbrechen, Anna. Emanuel hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass er dich heiratet. Er braucht eine zupackende und rechtschaffene Frau, wie du es bist, und ich könnte mir keine bessere Schwiegertochter wünschen. Also sei darauf gefasst, dass er dich bald danach fragen wird.«
Anna war gerührt. Nichts wollte sie lieber, als in diesem Haus der Toleranz und Nächstenliebe Oberste unter Gleichen zu werden und vielleicht sogar irgendwann Gastgeberin zu sein für den Meister selbst.
»Sollte er mich danach fragen, wird es für mich nur eine Antwort geben: Ja, ich will es, aus ganzem Herzen!«
Jacobus stand auf, streichelte Anna über die blonden Haare und küsste sie väterlich auf die Stirn.